Mittwoch, März 12

Der Sturz von Bashar al-Asad ist eine langersehnte Befreiung. Das Desaster des Arabischen Frühlings ist jedoch eine Warnung.

Als die Bevölkerung in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern 2011 gegen ihre autoritären Regierungen aufbegehrte, war die Euphorie im Westen gross. Man hegte romantische Vorstellungen einer Revolte, in der Frauen, Männer, Christen und Muslime vereint gegen Autokraten kämpfen, und projizierte europäische Erfahrungen auf den arabischen Raum. Think-Tanks und politische Beobachter zogen Vergleiche mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Prager Frühling. Die sozialen Netzwerke feierte man als moderne Version von Radio Free Europe.

Strategie des «dezentralen Jihad»

Was aus den Hoffnungen wurde, ist bekannt: Die Proteste führten zu Chaos und Krieg, neuen Gewaltherrschaften und islamistischen Experimenten. Diese historische Lektion scheinen westliche Beobachter schon wieder vergessen zu haben. Sie feiern den Umsturz in Syrien mit einer Euphorie, die misstrauisch macht. Bezeichnend dafür ist der Glaube an eine Mässigung des Rebellenführers und Jihadisten Mohammed al-Julani.

Der Berner Islamwissenschafter Reinhard Schulze etwa, der derzeit überall als Experte zitiert wird, vergleicht Julanis Entwicklung mit der politischen Transformation der deutschen Kommunistin Sahra Wagenknecht: «Ist es glaubwürdig, dass Frau Wagenknecht ihre Vergangenheit als Stalinistin abgelegt hat? Ich halte den Wandel Julanis – gerade im Vergleich zu Wagenknecht – aber schon für ziemlich glaubwürdig.»

Doch Julanis scheinbare Mässigung folgt allem Anschein nach einer Strategie, die auf den Theorien eines einflussreichen Gotteskriegers beruht: Abu Musab al-Suri. Als gelernter Ingenieur und militärischer Ausbilder entwickelte Suri in den 1990er Jahren eine neue jihadistische Doktrin. In seinem tausendseitigen Hauptwerk «Der Aufruf zum islamischen Widerstand» formulierte er die Strategie eines «dezentralen Jihad», der militärische Aktionen mit sozialer Einbettung und gradueller Institutionalisierung verbindet.

Willkürliche Verhaftungen der Sittenpolizei

Suris Innovation bestand darin, spektakuläre Gewaltakte und offene Tyrannei durch eine langfristige Strategie der gesellschaftlichen Durchdringung zu ersetzen. Anders als die global orientierte al-Kaida unter Bin Ladin oder der IS setzte er auf lokale Verankerung und den schrittweisen Aufbau paralleler Machtstrukturen. Diese Strategie prägt Julanis Vorgehen. Er verbindet militärische Kontrolle mit sozialen Dienstleistungen.

Julani hat am 9. Dezember Mohammed al-Bashir, den bisherigen Regierungschef der Rebellenhochburg Idlib, mit der Bildung einer neuen syrischen Regierung beauftragt. Bashir war verantwortlich für einen repressiven Sicherheitsapparat nach dem Vorbild der IS-«Hisbah», wie diverse Medien und Frauenrechtsorganisationen im Sommer 2024 berichteten. Die Einführung einer «Sittenpolizei» führte zu willkürlichen Verhaftungen, erzwungenen Geldzahlungen und einer rigiden Durchsetzung religiöser Vorschriften, besonders gegenüber Frauen.

In westlichen Medien inszeniert sich Julani als gemässigter Reformer. In einem CNN-Interview beteuerte er, niemand habe das Recht, eine andere religiöse Gruppe auszulöschen. Doch solche Äusserungen sind mit äusserster Skepsis zu betrachten. Wird es in Syrien ein liberales Verständnis von Toleranz geben, das die gleichen Rechte aller Bürger garantiert? Oder eine Scharia-konforme Auslegung, welche die Begriffe Recht und Freiheit religiös definiert?

Syrische Oppositionelle sind skeptischer als hiesige Experten

Für manche Syrer ist die Antwort bereits klar. Sami al-Kayal, Kolumnist der Zeitung «Al-Quds al-Arabi», veröffentlichte kürzlich einen Facebook-Beitrag, der unter Syrern grosse Zustimmung fand. Darin weist er Julanis Machtansprüche zurück. Er betont zwar, dass das Asad-Regime die volle Verantwortung für die Zerstörung des Landes trage. Aber für ihn bleibt Julani ein «terroristischer Kriegsherr», der mit Gewalt syrisches Territorium kontrolliert und keinerlei Legitimität besitzt. Kayal gibt zu bedenken, dass die Dominanz der Hayat Tahrir al-Sham und ähnlicher Organisationen den sozialen Frieden und die Freiheiten aller syrischen Bürger bedrohe.

Auch syrische Oppositionelle in der Schweiz sind viel skeptischer als Islam-Experten wie Reinhard Schulze. Der Journalist Moayad Skaif, der als politischer Flüchtling in der Schweiz lebt, glaubt nicht an eine Mässigung Julanis: «Die Islamisten ändern nur ihre Farben, bis sie sich sicher fühlen», sagt er der NZZ. Angesichts der Flucht Asads und der Bilder aus den Gefängnissen, in denen sein Bruder und mehrere Mitglieder seiner Familie unter Folter starben, ist er erleichtert und zugleich erschüttert. Eines will er nicht verlieren: die Hoffnung auf ein Syrien, das nicht mit Waffen und Gewalt regiert wird.

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