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Am 26. Dezember 2004 erlebte die Welt den grössten je gemessenen Tsunami. 230 000 Menschen kamen ums Leben. Ist die Region jetzt auf solche Katastrophen vorbereitet?
Als die Welle kam, schlief Piyasak Chantharangsri. Er wachte auf, weil sein Handy ständig klingelte. Ein Freund war dran, er sagte: «Das Wasser kommt.» Chantharangsri, den alle Choy nennen, betrieb damals eine Strandbar auf den Touristeninseln Ko Phi Phi vor der Küste Thailands. Er wohnte gleich nebenan in einer Bambushütte, und als er nach draussen rannte, sah er zuerst, dass das Wasser bereits ein Boot auf das Sonnendeck der Bar gespült hatte. «Der Geruch war schlimm, das Wasser stank, und überall krachte es, weil die Hütten in sich zusammenfielen», erinnert sich Chantharangsri am Telefon. Dann sah er die nächste Welle anrollen.
Sie spülte ihn zurück in seine Hütte, überall war Wasser. «Ich konnte nicht atmen. Ich glaubte, ich sterbe.» Er rettete sich auf das Dach. Die dritte Welle kam und riss ihn weg. Er schwamm zwischen Trümmern und Abfall, klammerte sich an einen leeren Tank und hörte die Hilfeschreie um sich. Ein Boot trieb auf ihn zu, eines dieser Tauchboote, mit denen die Touristen aufs Meer hinausfuhren. Es war voller Menschen, sie zogen Chantharangsri aus dem Wasser.
Chantharangsri überlebte die schlimmste je gemessene Tsunami-Katastrophe. Als hohe Wellen am 26. Dezember 2004 die Küsten entlang des Indischen Ozeans trafen, verloren rund 230 000 Menschen ihr Leben. Zu den am stärksten betroffenen Ländern gehörten Indonesien, Thailand, Sri Lanka und Indien. Aber die Welle erreichte auch Neuseeland und Australien, sie schwappte bis nach Ostafrika, in Somalia, Kenya und Tansania starben fast 200 Menschen. Die allermeisten traf der Tsunami unvorbereitet, es gab kein funktionierendes Frühwarnsystem in der Region.
Der Tsunami entstand durch ein Erdbeben im Ozean. Vor 20 Jahren verschoben sich die indisch-australische und die europäische Kontinentalplatte. Die freigesetzte Energie hatte sich seit Jahrzehnten aufgestaut. Das Erdbeben war mit einer Stärke von 9,2 eines der schwersten je gemessenen, es war bis an die Küsten zu spüren. Die Verschiebungen des Meeresbodens verdrängten das Wasser, es türmte sich auf dort, wo die Platten aufeinandertreffen. Die Wellen breiteten sich kreisförmig um das Epizentrum aus, sie waren dann in Küstennähe bis zu 200 Kilometer lang und über 30 Meter hoch.
Chantharangsri ist heute 61 Jahre alt. Er hat Angst, dass es wieder passieren könnte. «Jedes Mal, wenn ich schlafen gehe, überlege ich, in welche Richtung ich rennen müsste.»
Keine normalen Wellen
Tsunamis seien keine normalen Wellen, sagt der Geologe Graham Leonard: «Wenn sie aufprallen, kommt immer mehr Wasser. Damals kam es für etwa für 20 Minuten. Dann zog es sich für 20 Minuten zurück. Das Ganze kann sich mehrmals wiederholen. Die erste Welle ist vielleicht nicht die grösste, und die Wellen können während Stunden kommen.» Leonard forscht im neuseeländischen Wellington am Institut für Geologie und Nuklearwissenschaften zu Naturkatastrophen und dazu, wie sich Menschen verhalten können, um sie zu überleben. Der Tsunami im Indischen Ozean habe vieles verändert, sagt er – man sei sich in der Region der Tsunami-Gefahr erst richtig bewusst geworden.
Leonard ist nach der Katastrophe 2004 nach Thailand und Indonesien gereist. Es gab damals wenig Bewusstsein in der lokalen Bevölkerung für die Gefahr, die vom Meer kommen könnte. In der Küstenstadt Banda Aceh auf der indonesischen Insel Sumatra, in der gegen 61 000 Menschen starben, war das Erdbeben aus dem Ozean deutlich zu spüren, aber kaum jemand flüchtete weg vom Wasser. In Thailand, das zeigen Videos von damals, standen die Menschen noch am Strand, als sich das Meer langsam zurückzog – um dann kurz darauf mit voller Wucht als Welle zurückzukommen.
Leonard und seine Kollegen haben Faustregeln entwickelt für Menschen in Küstenregionen: Wenn ein Erdbeben lang und stark ist, dann renn weg vom Meer, sobald es aufhört. Flüchte zu Fuss – viele Menschen flohen 2004 im Auto und ertranken im Stau. Und: Kehre nach der ersten Welle nicht sofort zurück.
Das Problem mit den Tsunamis: Es ist eine Katastrophe, die selten passiert. Niemand weiss, wann der nächste kommt. Und je länger der letzte her ist, umso grösser die Wahrscheinlichkeit, dass die Gefahr ignoriert wird und dass Wissen verlorengeht. Die Uno hat jetzt ein Tsunami-Programm für den Indischen Ozean, Experten aus verschiedenen Ländern treffen sich regelmässig. Zusammen haben sie ein komplexes Frühwarnsystem eingerichtet.
Aber Leonard sagt, entscheidend sei, wie die Bevölkerung in den betroffenen Regionen auf Warnungen oder Erdbeben reagiere. Katastrophenforscher nennen es die «letzte Meile». Es brauche regelmässige Tsunami-Übungen und Kinder sollten schon in der Schule entsprechende Verhaltensregeln lernen. Tsunamis im kollektiven Gedächtnis zu halten, sei «eine Herausforderung», sagt Leonard. Selbst in Neuseeland, wo jährlich Katastrophenübungen durchgeführt werden, hätten beim letzten simulierten Tsunami ein Drittel der Menschen nicht schnell genug evakuiert.
Eine schwarze Wand
Stefan Oswalt wollte 2004 endlich einmal die Weihnachtstage in der Wärme verbringen. Er reiste mit seiner Frau und Freunden nach Sri Lanka, sie übernachteten in Beruwala, einem Badeort in der Nähe der Hauptstadt Colombo. Oswalt, 76, war damals noch Sportjournalist bei der NZZ. Am 26. Dezember schlief er aus – er und seine Frau hatten eigentlich vor dem Frühstück im Meer schwimmen wollen, aber sie waren müde gewesen von der Reise und gingen direkt in den Frühstücksraum mit Blick aufs Meer.
«Plötzlich lief Wasser ins Restaurant, ich dachte erst, es sei ein Wasserrohrbruch. Bis ich sah, dass der Pool im Garten, der ganze Garten, überschwemmt war», sagt Oswalt. Dann kam die zweite, grössere Welle. «Ich hatte das Wort Tsunami noch nie gehört», sagt Oswalt, «aber ich spürte instinktiv, dass etwas nicht mehr gut war.» Sie gingen ins Zimmer, um zu packen.
Die dritte Welle sah er von dort aus. «Es war eine schwarze Wand, sie trug schon so viel Holz mit. Es war wie eine Lawine. Überall sind Scheiben zerborsten.» Diese Welle überschwemmte das Erdgeschoss des Hotels, Oswalts Zimmer war höher gelegen. Die Hotelgäste flüchteten in einen Konferenzraum im obersten Stock, immer mehr trudelten ein, einer hatte zerschnittene Hände, einer suchte nach seiner Frau. In Oswalts Hotel starben mindestens vier Menschen. Ein Österreicher im Konferenzraum hatte einen SMS-Nachrichtenalarm abonniert, es war die Zeit vor den Smartphones, in der SMS hiess es, in Indonesien seien 260 Menschen durch einen Tsunami umgekommen. «Ich dachte: ‹Das sind ja wahnsinnig viele Tote›», sagt Oswalt.
Das Hotel evakuierte die Touristen noch am selben Tag nach Colombo. Im Bus kam der nächste SMS-Alarm, 6000 Tsunami-Tote. Erst am nächsten Morgen, nach einer Nacht in der Notunterkunft, sah Oswalt die Nachrichten im Fernsehen. Es wurden schon 70 000 Tote vermeldet. «Da wurde mir klar, dass das keine lokale Sache ist, sondern einen ganzen Kontinent, ja die halbe Welt betrifft.»
Unter den Toten durch den Tsunami waren über 2000 Touristen, unter ihnen auch mindestens 113 Schweizer und über 500 Deutsche. Die internationale Solidarität war gross: 13,5 Milliarden Dollar Spendengelder flossen in die Region, teilweise von Staaten, aber auch von Privaten.
Oswalt war wenige Tage nach der Katastrophe zurück in der Schweiz. Er fragte sich oft, wieso er so glimpflich davonkam, angesichts der vielen Menschen, die alles verloren hatten. «Sobald du daheim bist, hast du ein schlechtes Gewissen.»
Heute gäbe es weniger Tote
Aslam Perwaiz möchte zuerst mit dem Positiven anfangen: «Sollte am 26. Dezember 2024 wieder ein Tsunami kommen, wäre die Region besser vorbereitet und besser ausgerüstet.» Perwaiz ist der stellvertretende Leiter des Asian Disaster Preparedness Center; die Organisation hilft Dörfern und Städten in Asien, sich auf Naturkatastrophen vorzubereiten – damit diese möglichst wenig Schaden anrichten. «Käme es heute zu einer ähnlichen Katastrophe, gäbe es sicher weniger Tote. Allerdings wären die wirtschaftlichen Verluste noch grösser», sagt Perwaiz.
Der Tsunami 2004 kostete nicht nur Menschenleben. 1,5 Millionen Menschen verloren ihr Haus. Er zerstörte auch ganze Lebensgrundlagen: In der indonesischen Provinz Aceh zum Beispiel spülte er 97 Prozent des lokalen Bruttoinlandprodukts weg.
In den vergangenen 20 Jahren wurde an den Küsten des Indischen Ozeans viel gebaut. Die Küstenorte hätten sich immer schneller entwickelt, sagt Perwaiz, es gebe jetzt mehr Gebäude, mehr Hotels. Gleichzeitig seien die Bauregeln, zu denen sich die Länder nach dem Tsunami verpflichtet hätten, kaum eingehalten worden. Auch hätten sich die Lebensumstände der Küstenbewohner kaum verbessert, «ihre Möglichkeiten, einer Katastrophe zu widerstehen, sind noch immer tief». Ihre Häuser und ihr ganzer Besitz würden noch immer weggespült werden.
Und es gebe weiterhin Lücken auf der «letzten Meile», also bei der Alarmierung der Bevölkerung und deren Vorbereitung auf einen Tsunami. 2018 traf ein Tsunami die Insel Sulawesi an der Küste Indonesiens, über 4000 Menschen starben. Das Frühwarnsystem funktionierte, aber die Warnsirenen vor Ort heulten wegen eines Stromausfalls nicht.
Perwaiz beschäftigt nicht nur die Gefahr eines Tsunamis, er macht sich Sorgen über jegliche Art von Naturkatastrophen, Fluten, Erdrutsche – solche Ereignisse seien in den vergangenen 20 Jahren in der Region häufiger geworden. «Aber wir sind immer noch im Reaktionsmodus. Wir haben keine langfristige Planung und Perspektive.»
Nach dem Tsunami 2004 kam Schwung in die Region: Viele Länder versprachen, in den Katastrophenschutz zu investieren. Internationale Koordinationsgruppen wurden gegründet, teilweise sind sie Erfolgsgeschichten, so wie die Katastrophenhilfe der Asean-Staaten. Aber auf staatlicher und lokaler Ebene hätten die Regierungen oft andere Prioritäten, «sie legen die nötigen Mittel nicht zur Seite», sagt Perwaiz, das Geld sei knapp oder werde anders verteilt.
Gegen das Vergessen
Piyasak Chantharangsri lebt wieder auf der Inselgruppe Ko Phi Phi. Er hat manchmal das Gefühl, niemand auf der Insel interessiere sich mehr dafür, was vor 20 Jahren passierte. Er wollte eine öffentliche Gedenkveranstaltung organisieren am 26. Dezember, aber er bekam die nötigen Bewilligungen nicht. Der Opfer des Tsunamis will er trotzdem gedenken, er lädt jetzt zu einer Zeremonie auf seinem Privatgrundstück ein.
«Die Menschen hier haben den Tsunami nicht vergessen», sagt Chantharangsri, «aber niemand will darüber reden. Es ist schlecht fürs Geschäft, wenn die Touristen Angst haben, zu kommen.»
Chantharangsri glaubt, man müsse immer wieder über die Katastrophe vor 20 Jahren sprechen. Er und ein paar Mitstreiter haben Kinderlieder komponiert, ihr Text sind Verhaltensregeln bei einem Tsunami. Sie bringen sie den Schulkindern in der Nachbarschaft bei. Aber er kann sich schon nicht mehr erinnern, wann auf der Insel die letzte Tsunami-Übung stattfand, das sei bestimmt zehn Jahre her.
Er hat Angst, dass die Menschen auf Ko Phi Phi den Tsunami irgendwann vergessen. Und dann niemand mehr weiss, was zu tun ist, wenn wieder eine Riesenwelle kommt.

