Dienstag, Oktober 1

In Israel wächst die Überzeugung, dass nur ein militärischer Vorstoss die Bedrohung aus dem Norden beseitigen kann. Derweil versuchen die Amerikaner fieberhaft, eine Eskalation noch abzuwenden.

Knapp ein Jahr nach Beginn des Krieges hat das israelische Sicherheitskabinett am späten Montagabend ein neues, viertes Kriegsziel ausgerufen: die sichere Rückkehr der Bewohner des Nordens in ihre Heimatorte. Die ersten drei Ziele, die mit Kriegsbeginn ausgerufen wurden, sind die Zerstörung der Hamas, die Rückkehr aller Geiseln sowie die Schaffung einer neuen Sicherheitsarchitektur für den Gazastreifen.

Mit ihrem jüngsten Entscheid reagiert die israelische Regierung auf den wachsenden Druck aus der Bevölkerung und den Sicherheitsdiensten, der unhaltbaren Situation an der libanesischen Grenze ein Ende zu setzen. Der anhaltende Beschuss durch die libanesische Hizbullah-Miliz hat Zehntausende Israeli aus ihren Häusern vertrieben. Seit elf Monaten harren sie ohne Aussicht auf eine Rückkehr in Hotels und provisorischen Unterkünften in anderen Landesteilen aus.

Darüber hinaus könnte der Schritt ein Hinweis darauf sein, dass Israel in naher Zukunft eine militärische Kampagne gegen den Hizbullah im südlichen Libanon starten will. Auch rhetorisch hat der Wind in den vergangenen Tagen gedreht – das bisherige Mantra der Regierung von Benjamin Netanyahu, man sei zwar für einen Krieg gewappnet, bevorzuge aber eine diplomatische Lösung, scheint nicht mehr zu gelten.

Die Diplomatie steckt fest

So sagte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant bei einem Telefonat mit seinem amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin, die Chancen für eine Einigung im Norden schwänden. «Der Hizbullah bindet sich weiterhin an die Hamas. Die Richtung ist klar», sagte Gallant in dem Gespräch in der Nacht auf Montag.

In Washington steigt die Nervosität – ein weiterer Waffengang im Nahen Osten käme der Biden-Regierung vor den Präsidentschaftswahlen im November äusserst ungelegen. Zum erneuten Mal hat das Weisse Haus deshalb seinen Nahostbeauftragten Amos Hochstein entsandt, um für eine Verhandlungslösung zu werben. Bei einem Treffen mit Gallant warnte Hochstein vor einer Offensive in Südlibanon: Eine solche würde die Situation im Norden keineswegs verbessern, sondern das Risiko eines langen Krieges in der Region erhöhen.

Gallant allerdings doppelte im Gespräch mit Hochstein nach: «Die einzige Möglichkeit, die Rückkehr der nordisraelischen Gemeinschaften in ihre Häuser zu gewährleisten, besteht in einer militärischen Aktion.» Auch Ministerpräsident Netanyahu betonte, eine Rückkehr sei nicht möglich ohne eine «fundamentale Veränderung der Sicherheitslage». Laut Medienberichten hat der für Nordisrael zuständige General begonnen, aktiv für eine Bodenoffensive und die Schaffung einer Pufferzone in Südlibanon zu lobbyieren.

Auch wenn Hochstein sich weiterhin um eine diplomatische Einigung bemüht, dürfte der Biden-Regierung bewusst sein, dass die Vorzeichen dafür schlecht stehen. Der Hizbullah hat klargestellt, dass er seine Attacken nur einstellen werde, wenn ein Waffenstillstand im Gazastreifen ausgerufen werde. Doch die Verhandlungen mit der Hamas sind festgefahren – jüngst hiess es aus Sicherheitskreisen, die Chancen auf eine Einigung tendierten gegen null. Zuletzt hatten sowohl Netanyahu als auch der Hamas-Chef Yahya Sinwar neue Forderungen aufgestellt.

Der Gegenschlag durch Iran blieb aus

Fest steht: Mit einer Offensive gegen den Hizbullah ginge Israel grosse Risiken ein. Die Miliz hat sich mit ihren erfahrenen Kämpfern tief in den Hügeln Südlibanons eingegraben und verfügt über ein Arsenal von schätzungsweise 150 000 Raketen, die in Israel verheerende Schäden anrichten könnten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass auch Iran an der Seite seines Verbündeten in den Krieg eintreten könnte. Das Resultat wäre ein Flächenbrand in der ganzen Region.

Doch in Israel scheint die Überzeugung heranzuwachsen, dass es dieses Risiko eingehen muss. Dies hat primär zwei Gründe: Erstens hat Iran auch mehr als vierzig Tage nach der Tötung des Hamas-Chefs Ismail Haniya in Teheran keinen Gegenschlag lanciert. Manche glauben darin die Handschrift des neuen iranischen Präsidenten Masud Pezeshkian zu erkennen, der eine Eskalation abwenden und die Beziehungen zum Westen verbessern möchte.

Zweitens hat die israelische Armee nach dem Hizbullah-Angriff vom 25. August neues Selbstvertrauen gefasst. An jenem Tag rächte sich die Miliz für die Tötung des Hizbullah-Kommandanten Fuad Shukr in Beirut mit einem grossangelegten Raketen- und Drohnenangriff. Israel konnte jedoch nicht nur eine Mehrheit der Geschosse abwehren, sondern in einem simultanen Gegenangriff auch zahlreiche Startrampen zerstören, bevor diese zum Einsatz kamen.

Dieser Erfolg scheint die israelische Regierung und die Armeeführung veranlasst zu haben, die Risiken einer Offensive gegen den Hizbullah neu zu kalkulieren – auch wenn diese hoch und unberechenbar bleiben.

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