Samstag, Oktober 19

Avatar-Pop-Stars und Influencer-Bots fluten das Internet. Sie könnten uns genauso berühren wie echte Menschen, glaubt Hannes Bajohr. Trotzdem denkt er, dass das Menschengemachte bleiben wird.

Kürzlich habe ich für den Abschied eines Kollegen eine KI ein Lied dichten und vertonen lassen. Es kam gut an. Aber ich hatte ein komisches Gefühl. Ist künstlich generierte Musik seelenlos?

Dieser Begriff des Seelenlosen ist ja nicht neu, wenn es darum geht, maschinell generierte Musik zu beschreiben. Ich denke an David Copes Programm EMI, mit dem er in den Neunzigern neue Bach-Werke erzeugt und dann Musikexperten vorgespielt hat. Die haben nicht erkannt, welche echt sind. Über ihre Herkunft informiert, haben sie die artifiziellen Stücke hinterher als seelenlos beschrieben. Das heisst aber, «Seelenlosigkeit» ist eine Projektion. Wir sprechen oft erst dann davon, wenn wir wissen, wo etwas herkommt.

Das heisst aber, es bleibt für uns wichtig, zu wissen, ob Musik oder auch Texte und Bilder von Mensch oder Maschine kommen?

Das ändert sich gerade. Daher nenne ich unsere Gegenwart «postartifiziell»: Es ist ein Zeitalter, in dem man artifizielle Texte, Bilder und Musikstücke immer weniger von menschengemachten unterscheiden kann. Noch fragen wir uns, wo etwas herkommt, um zu beurteilen, ob es uns berühren kann. Irgendwann werden wir die Frage womöglich nicht mehr stellen, dann ist auch die «Seelenlosigkeit» keine sinnvolle Kategorie mehr.

Zur Person

PD

Hannes Bajohr

Hannes Bajohr, geboren 1984 in Berlin, ist Philosoph, Schriftsteller und Literaturwissenschafter. In seinen Werken experimentiert er häufig mit Technologie, unter anderem mit künstlicher Intelligenz. Er lebte und arbeitete in New York, Berlin und Basel und ist inzwischen Assistenzprofessor für Germanistik an der University of California in Berkeley, USA.

Es braucht also keine menschliche Erfahrung hinter Musik oder Geschichten, damit sie uns berühren?

Man kann auch umgekehrt fragen: Ist es möglich, etwas «Seelenloses» menschlich zu komponieren? Techno ist völlig synthetisch – berührt er uns deswegen nicht? Klubbesucher würden das nicht so sehen. Raven kann transzendent sein. Überhaupt ist «Seele» ein merkwürdig romantischer Begriff. Er beschreibt nicht die Bandbreite ästhetischer Erfahrung.

Worum geht es denn, wenn wir Musik hören oder lesen?

Genuss ist für den Anfang eine gute Kategorie. Genuss kann mit tiefen Emotionen zu tun haben, körperliche Euphorie meinen. Man kann aber auch intellektuell geniessen – ein gutes Konzept, eine interessante Information. Das macht die Sache dann wieder ein bisschen weniger romantisch.

Und Genuss kann auch aus der Maschine kommen?

Grundsätzlich würde ich nicht «aus der Maschine» sagen, weil auch bei KI noch Menschen eine Auswahl treffen. In jedem Fall ist Genuss nicht notwendig «tief». In der Populärkultur gibt es sogar eine Art Kunstgenuss, bei dem man sich bewusst manipulieren lässt. Zum Beispiel weiss man, dass bei der Spitalserie «Dr. House» um die 30-Minuten-Marke eine falsche Diagnose kommt und später die richtige. Man kann den Mechanismus dahinter durchschauen und es trotzdem geniessen.

Künstlich dumm

Eine Serie zu der Frage, ob künstliche Intelligenz das Internet kaputtmacht.

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Wenn uns egal ist, ob menschliche Erfahrung hinter Musik und Serien steckt oder eine KI, dann hat der Mensch als Produzent keine Chance, schliesslich ist die Maschine viel billiger. Ist eine Welt voller KI-Inhalte die Zukunft?

Die Gefahr besteht. Und natürlich spielt die Marktlogik eine Rolle, deshalb gleichen sich Pop-Musikstücke ja so sehr. Aber zugleich gibt es immer Subkulturen und Absetzbewegungen gegen das allzu Populäre. Wenn es eine Übersättigung an Synthetischem gibt, wird das offensichtlich Handgemachte aufgewertet.

Das Handgemachte wird dann ein Luxus?

Das ist das eine. Das andere ist, dass es als Praxis statt als Produkt wichtiger wird. Ich habe einen Freund, der nebenbei Musik macht und fand, jetzt wo es Musik-KIs gebe, könne er eigentlich damit aufhören. Weil sein Ziel beim Musikmachen eine Art von Perfektion ist. Ich bin viel bescheidener als Musiker – ich will einfach Spass am Musizieren haben. Und da stört die Existenz von KIs auch nicht.

Es gibt bereits koreanische Pop-Bands, die aus künstlichen jungen Frauen bestehen, mit denen man per KI «chatten» kann. Die haben eine Menge Follower in sozialen Netzwerken. Funktioniert das, weil es neu ist, oder können sich Menschen wirklich für solche fiktiven Figuren interessieren?

Offensichtlich können sie es ja. Und wenn das Gesamtbild stimmt, warum sollte so etwas nicht funktionieren, egal, ob KI oder andere Technologie dahintersteckt? Schon seit den Neunzigern gibt es die Gorillaz, eine fiktionale Band mit gezeichneten Charakteren. Und eine Künstlerin wie Madonna inszeniert sich immer wieder neu. Auch hier gibt es beim Publikum die Fähigkeit, das Als-ob zu geniessen. Authentizität ist keine Voraussetzung für Genuss.

Gorillaz - Feel Good Inc. (Official Video)

Auch Fake-Influencer können uns also dazu bringen, Dinge zu kaufen?

Natürlich! Ob ein Cartoon-Hund oder ein KI-Charakter etwas bewirbt, ist ja egal.

Aber bei Influencern in sozialen Netzwerken ging es ja um das Gefühl, dass es echte Personen, dass es Freunde sind, die einem etwas empfehlen.

Das kann sein. Aber auch diese Freundschaft ist ja nur ein Als-ob. Der Punkt ist, dass die Leute mehr Fiktion aushalten, als man denkt.

Trotzdem haben diese virtuellen Influencer einen seltsamen Beigeschmack, wie bei Shudu, einem schwarzen Model, das von einem weissen Fotografen aus Grossbritannien künstlich generiert wurde . . .

Neben dem Identitätsaspekt geht es hier vor allem um Ökonomie. Man kann romantisch über Kunst reden, aber letztlich spielen immer Verwertung, Copyright, Kapital und arbeitsrechtliche Fragen eine Rolle. Klar, bei einem KI-Model muss man nicht auf irgendwelche Gewerkschaften Rücksicht nehmen. Damit sind wir beim alten Thema der Automatisierung, die schon immer Jobs vernichtet hat. Heute erinnert man sich an die Ludditen als fortschrittsfeindliche Maschinenstürmer. Eigentlich war das eine Arbeiterbewegung: Sie haben Textilmaschinen nicht zerstört, weil sie Handarbeit so liebten, es ging ihnen um ihre Lebensgrundlage. Widerstand gegen Automatisierung ist aber nicht von vornherein sinnlos, wie der Streik der Writers Guild zeigt.

Sie meinen die Streiks von amerikanischen Drehbuchautoren von Mai bis September 2023.

Ja. Sie haben erreicht, dass für die Filmproduktion in Hollywood nur sehr eingeschränkt KI-generierter Text verwendet werden darf. Dass das funktioniert hat, ist ein Zeichen dafür, dass man vor technischen Entwicklungen nicht einfach kapitulieren muss, weil so nun einmal die Zukunft aussieht.

Aber stellt man sich damit nicht dem Fortschritt in den Weg? Dass wir uns an die Ludditen als Maschinenstürmer erinnern, liegt auch daran, dass es aus heutiger Sicht absurd wäre, auf die Vorteile von Maschinen zu verzichten.

«Fortschritt» ist es auch, die Verwendung neuer Techniken sozialverträglich zu gestalten. Es kann doch nicht das Ziel sein, dass auf einen Schlag katastrophal viele Leute die Arbeit verlieren. Dazu kommen andere ökonomische Fragen: Wo kommen die Texte, die Musik, die Gesichter für KI-Modelle her? Warum werden die Eigentümer dieser Daten nicht bezahlt? KI-Firmen machen Geld, ohne dass jemand für das verwendete Material ordentlich entschädigt wird. Marx nannte das die «ursprüngliche Akkumulation» – die Enteignung, auf deren Grundlage Kapital generiert wird. Heute akkumuliert das Kapital kulturelle Daten.

Nach der Theorie des toten Internets haben Bots und synthetische Inhalte das Netz übernommen, man treffe immer weniger Menschengemachtes an. Teilen Sie diese These?

Dieser Tod des Internets trat schon viel früher ein, nämlich mit der Plattformisierung: In den Neunzigern gab es ein sehr viel pluralistischeres Internet, weil jeder seine eigene Homepage eröffnen und man in privaten Foren diskutieren konnte. Heute ist der öffentliche Diskurs auf Plattformen eingesperrt. Was nicht auf X, Instagram oder Facebook stattfindet, findet eigentlich gar nicht mehr statt. Zugleich sind diese alten Sachen ja noch möglich – jeder kann immer noch eine Seite aufsetzen, nur ist sie viel weniger relevant. Bei neu aufkommenden Medien gibt es fast nie wirkliche Verdrängungsprozesse, sondern eher eine Diversifizierung.

Doch jeder Mensch hat begrenzte Zeit, also verdrängen im Schnitt synthetische Inhalte die menschengemachten.

Vielleicht ist es eher eine Vermischung als ein Verdrängen. In einer postartifiziellen Zukunft ist das am Ende dann gar nicht so wild, wenn man die Inhalte weiterhin geniessen kann. Und: Menschen produzieren weiter Dinge aus reiner Lust, zum Beispiel Musik. Da tauchen plötzlich ganz neue Genres auf, wie das bei Soundcloud der Fall war. Auf dem Portal stellen Leute kostenlos Musik ins Netz, die sie selbst gemacht haben. Manche Künstler wurden dadurch auch im Mainstream erfolgreich. Ich würde immer erwarten, dass noch Unerwartetes geschieht.


Künstlich dumm

Eine Serie zu der Frage, ob künstliche Intelligenz das Internet kaputtmacht.

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