Montag, November 25

Der Sportwissenschafter Ingo Froböse bezeichnet Sitzen als den Feind der Gesundheit. Ein Stehpult nützt nichts, aber es gibt einfache Methoden, die einen grossen Unterschied machen.

Stellen Sie sich vor, Sie ergattern auf dem Weg zur Arbeit im Tram einen freien Platz – und sehen darauf die Warnung: «Sitzen ist tödlich.» Auch auf Ihrem Bürostuhl und Ihrem Sofa, auf dem Stuhl im Café und im Wartezimmer Ihres Arztes prangen Aufschriften wie: «Sitzen verursacht Herzanfälle.»

Die unbequeme Wahrheit ist: Langes Sitzen ohne Unterbrechungen verkürzt die Lebensdauer, steht in einem Zusammenhang mit der Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes – und es gibt Hinweise, dass es zu Krebs führen kann. Wenn man sich die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ansieht, möchte man aufspringen und erst einmal ein paar Kniebeugen machen.

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Kann Sitzen wirklich derart ungesund sein? Ist es tatsächlich das neue Rauchen? Die Forschung über den Homo sedens ist noch jung. Doch schon vieles spricht dafür, dass sich der sitzende Mensch aus seiner Komfortzone bewegen sollte. Der Sportwissenschafter Ingo Froböse sagt: «Sitzen ist ein eigenständiger Risikofaktor für unsere Gesundheit.» Und immer mehr Menschen schaden sich damit.

Schon vier Stunden Sitzen pro Tag sind schädlich

Der Professor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln hat in einer Studie ermittelt: Die Deutschen sitzen immer länger, werktags kommen sie mittlerweile auf über neun Stunden, Akademiker mit Bürojob sitzen sogar mehr als zehn Stunden pro Arbeitstag.

In der Schweiz sitzen die Menschen im Durchschnitt rund sechs Stunden täglich, wobei die Zahlen nicht ganz vergleichbar sind, die Schweizer machten auch Angaben zum Wochenende.

Ob sechs oder neun Stunden pro Tag – beides ist zu lang. Fachleute wissen noch nicht genau, wie wenig wir im besten Fall sitzen sollten, Froböse sagt: «Je weniger, desto besser.» Denn schon Sitzzeiten von vier Stunden pro Tag schaden der Gesundheit. Das ist schnell erreicht. Allein beim Frühstück, in der Mittagspause und beim Abendessen sitzen wir mitunter stundenlang.

Ein Leben im Stand-by-Modus

Aber wieso ist das überhaupt schädlich? Sind die Mahlzeiten und Snacks, die wir dabei essen, das eigentliche Übel? Das Übergewicht aufgrund fehlenden Kalorienverbrauchs? Nicht nur.

Das eigentliche Problem ist, dass der Körper beim Sitzen in einen Stand-by-Modus gerät: Das Herz-Kreislauf-System wird nicht aktiviert, die Muskeln halten still – der Stoffwechsel fährt herunter. Und weil der sitzende Mensch ruhiger und flacher atmet, nimmt er weniger Sauerstoff auf. Die Folge: Die Körperzellen werden nicht mehr optimal versorgt.

Und nicht nur das. Sehnen, Bänder und Muskeln brauchen Zugbelastungen. Sonst verkümmern sie. Ingo Froböse: «Sitzen verändert die Zusammensetzung unseres Körpers.»

Wenn Muskelzellen schwinden, steigt proportional die Anzahl der Fettzellen – selbst wenn wir nicht dicker werden. Weil Muskeln und Fett jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf unseren Hormonhaushalt haben, verschiebt sich die hormonelle Balance. Der Körper gerät aus dem Gleichgewicht. Nicht jeder Mensch geht automatisch am Sitzen zugrunde, aber der Ruhemodus kann gravierende Folgen haben.

Und es gibt noch mehr schlechte Nachrichten. Regelmässiger Sport ist und bleibt zwar wichtig, er allein verhindert aber die negativen Folgen durch das Sitzen nicht. Es leuchtet ja ein: Der menschliche Körper ist nicht dafür gemacht, stundenlang zu ruhen und höchstens einmal am Tag beim Joggen hochzufahren.

Mit Bewegung gegensteuern

Was also tun? Am Stehtisch arbeiten? «Stehen ist eine andere Form der Inaktivität», sagt Ingo Froböse. Die Körperflüssigkeiten sacken nach unten, die Venen werden überlastet. Menschen mit klassischen Stehberufen sollten sich deshalb sogar regelmässig hinsetzen und die Füsse hochlegen. Das betrifft zum Beispiel Verkaufspersonal.

Was dann? Im Internet werden mittlerweile Stehtische mit angebautem Laufband angeboten. Kann man so aus dem gesundheitsschädlichen Büroalltag ganz nebenbei eine stundenlange Work-out-Einheit machen?

Ingo Froböse hält auch das nicht für die beste Idee: «Um die Bewegung auszuführen, benötige ich immer einen Teil meiner Gehirnleistung.» Für die Arbeit stehen dann weniger Kapazitäten zur Verfügung. Um den Computer beim Gehen überhaupt bedienen zu können, schleicht der Büromensch zudem derart langsam übers Laufband, dass Muskeln und Kreislauf nicht genügend aktiviert werden.

Der Sportwissenschafter empfiehlt daher: Nach jeder Stunde Sitzen fünf Minuten Bewegung vorsehen. «Einfaches Recken und Strecken hilft nicht, man sollte Treppen steigen oder Kniebeugen machen.»

Nur wenn sich Atem- und Herzfrequenz erhöhen, kann der Stoffwechsel in Gang kommen. Das ist das Basisprogramm. In der Freizeit sollte man zusätzlich eine längere Bewegungseinheit einplanen.

Die WHO empfiehlt Erwachsenen, sich jede Woche knappe fünf Stunden lang mit moderater Intensität zu bewegen. Dabei erhöhen sich Atem- und Herzfrequenz, ohne dass man allzu sehr ins Schwitzen gerät – zum Beispiel beim zügigen Spazierengehen oder beim Velofahren zur Arbeit. Alternativ kann man den Körper pro Woche mindestens zweieinhalb Stunden lang stärker belasten – etwa beim Joggen.

Sitzen: der Feind der Gesundheit

Aber wer handelt schon danach? Sitzen ist zur Sucht geworden. Sofas, Stühle, selbst unbequeme Hocker haben eine Anziehungskraft, der sich die wenigsten Menschen widersetzen können. Ingo Froböse ist gar überzeugt, dass wir noch gar nicht auf dem Gipfel der Inaktivität angekommen sind: «Die Menschen werden sich wahrscheinlich künftig noch weniger bewegen.»

Als Gründe nennt Froböse zum Beispiel die Handynutzung – der «Konkurrent der Bewegung», wie er sagt – und immer mehr Barrierefreiheit im Alltag. Wer will schon im modernen Bürogebäude das dunkle, enge Treppenhaus hochkeuchen, wenn der Lift prominent platziert ist?

Ist also Sitzen das neue Rauchen? Enorm schädlich, süchtig machend, die Gesundheit zerstörend? «Nein», sagt Ingo Froböse. Sitzen und Rauchen könne man natürlich nicht gleichsetzen. Beim Rauchen inhaliere man Gift. «Das ist viel gefährlicher.» Also alles halb so wild? Auch nicht. Denn Ingo Froböse ergänzt sogleich: «Ich sage immer: Sitzen ist der Feind der Gesundheit.»

Bewegung hingegen sei ein Lebensmittel. Nur wenn wir uns mit körperlicher Anstrengung füttern, wird unser Körper ausreichend versorgt. So wie wir regelmässig essen und trinken, müssen wir uns auch bewegen. Das Sitzen wird dann zum Dessert, zur wohlverdienten Köstlichkeit. Eine Zigarette sollte man sich im besten Fall gar nicht gönnen. Sitzen bleibt erlaubt. Am besten auf einem möglichst unbequemen Holzstuhl. Damit man bald wieder aufstehen will.

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