Jedes Jahr reisen Hunderttausende Männer in die Türkei, um ihre Halbglatze behandeln zu lassen. Haartransplantationen sind dort teilweise sehr günstig, aber auch mit Risiken verbunden.
Mit fortschreitendem Alter ist die Natur erbarmungslos. Die Sehkraft lässt nach, Falten graben sich ins Gesicht, und Männer verlieren ihre Haare. Einziger Trost ist, dass auch Prominente betroffen sind: Andre Agassi, Bruce Willis, Prinz William.
Als Vorbild taugen solche Promis aber nur bedingt. In der Realität können sich Männer mit ihrem Helikopterlandeplatz schwer anfreunden, viele fühlen sich älter und unattraktiv. Um den Haarausfall aufzuhalten, nehmen einige Medikamente und spezielle Shampoos, andere entscheiden sich für eine Eigenhaartransplantation: Christian Lindner, Jürgen Klopp, Robbie Williams.
Viele Männer fliegen dafür in die Türkei. Das Land ist zu einem Mekka für Haartransplantationen geworden, vor allem wegen der mitunter günstigen Preise. Im Internet kursiert ein Meme, das den Boom aufs Korn nimmt. Es zeigt Männer mit Halbglatze in einem Flugzeug, dazu den Slogan: «Turkish Hairlines». Die Aussage: Der volle Haaransatz, die «hairline», aus der Türkei ist so beliebt, dass das Flugzeug zum Beauty-Shuttle wird.
Der Schweizer Fotograf Mario Heller hat einen jungen Mann aus Berlin zu einer solchen Behandlung nach Istanbul begleitet. Die Transplantation wurde in der Elithair-Klinik durchgeführt, laut eigenen Angaben das grösste Haarspital der Welt.
Auf 13 Stockwerken werden dort pro Tag bis zu 100 Haarpatienten behandelt. Dabei werden am Hinterkopf sogenannte Grafts entnommen, winzige Hautstückchen mit jeweils ein bis fünf Haarfollikeln; das sind Strukturen, die die Haarwurzeln umschliessen und das Haar in der Haut verankern. Die Grafts mit den Follikeln werden dann auf die kahlen Stellen verpflanzt.
Die Transplantation an einem Wochenende inklusive zweier Übernachtungen und Flughafentransfer hat 3200 Euro gekostet. In Deutschland müsste man dafür zwischen 5000 und 10 000 Euro bezahlen, in der Schweiz sind die Preise ähnlich.
Die meisten Patienten der Klinik kommen aus dem deutschsprachigen Raum, aus der Schweiz reisten im vergangenen Jahr 579 Patienten an. Vor Ort erleichtern Dolmetscherinnen die Verständigung.
Meist ist Haarausfall genetisch bedingt
Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der weltweiten Zentren für Medizintourismus entwickelt. Patienten kommen von überall: für Zahnbehandlungen, Magenverkleinerungen, Schönheitsoperationen und eben für Haartransplantationen. Bei vielen Männern ist Haarausfall ein wunder Punkt. Bis zu 80 Prozent sind im Laufe ihres Lebens betroffen.
Der Grund dafür liegt meist in den Genen. In diesem Fall sind die Haarwurzeln empfindlich gegenüber dem Sexualhormon Dihydrotestosteron. Das führt dazu, dass die Wurzeln geschädigt werden und ausfallen.
Der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, ist mächtig – und für die Türkei ein Riesengeschäft. 2022 kamen allein für eine Haartransplantation etwa eine Million Menschen in das Land, wie der Verband für Gesundheitstourismus mitteilt. Dadurch wurde ein Umsatz von zwei Milliarden Dollar erzielt, die Hälfte des Umsatzes durch den Medizintourismus insgesamt.
Vermutlich seien die tatsächlichen Zahlen deutlich höher, sagt Mariam Asefi, die Leiterin des Forschungsbereichs Medizintourismus an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. «Die Patienten reisen ja als normale Touristen ein, und ein zentrales Erfassungssystem für die Behandlungen gibt es nicht.»
Bei einigen Männern lichtet sich das Haar schon früh. So war es auch bei Felix Hofmann,* dem Patienten, den der Fotograf Mario Heller begleitet hat.
Herr Hofmann, Sie sind 28 Jahre alt. Warum haben Sie sich für eine Transplantation entschieden?
Ich habe schon mit Anfang 20 Geheimratsecken bekommen, und weil mein Vater und mein Grossvater früh kahl wurden, wusste ich, was mir blüht. Zunächst hatte ich mich damit abgefunden, aber insgeheim beschäftigte mich der Haarausfall. Man sieht sich ja oft selbst, bei Video-Calls oder auf Partyfotos. Irgendwann fuhr ein Freund für eine Transplantation nach Istanbul. Was er später erzählte, klang entspannt.
Was hat Sie an der beginnenden Glatze gestört?
Mit vollem Haar wirkt man jung und vital, mit Haarkranz wirkt man alt. Etwas fehlt. Wenn ich manche Freunde nach langer Zeit wiedersehe, erschrecke ich. Mit Halbglatze sehen sie ganz anders aus, wie ein anderer Mensch.
Ist Haarausfall in Ihrem Freundeskreis ein Thema?
Offen spricht da keiner darüber. Diese Schwäche zeigen Männer ungern. Aber ich merke, dass einige unter ihrem Haarausfall leiden. Manche meiden soziale Anlässe, andere tragen immer ein Basecap. Fällt es einmal herunter, werden sie rot. Sobald aber ein Freund eine Transplantation machen lässt, beginnt man, darüber zu sprechen.
Wer sich für eine Behandlung interessiert, schickt der Klinik Fotos von seinem Kopf. Dann wird geschätzt, wie viele Grafts verpflanzt werden müssen, und man erhält einen Kostenvoranschlag. Vor Ort finden eine genauere Haaranalyse, Voruntersuchungen und ein Anästhesiegespräch statt.
Hofmann sollte zunächst 2500 Grafts verpflanzt bekommen, letztlich waren es 4200. Es komme häufiger vor, dass vor Ort die Zahl der Grafts steige, sagt er. «Mir wurde angeboten, mehr Haar zu entnehmen, um ein besseres Ergebnis zu erreichen. Das habe ich angenommen.» Dadurch stieg auch der Preis leicht.
Statt Ärzten arbeiten oft «Techniker»
Der moderne Markt für ästhetische Haartransplantationen entstand in den späten 1980er Jahren. In der Anfangszeit wurden am Hinterkopf Hautstreifen mit Haaren herausgeschnitten, zerkleinert und in die kahlen Stellen gepflanzt. Inzwischen gilt dieses Verfahren als veraltet.
Heute werden einzelne Haarfollikel und -gruppen mit einer rotierenden Hohlnadel gelockert, entnommen und mit einem Stift implantiert. Im Gegensatz zu früher entstehen dabei kaum Narben; auch die Heilung verläuft schneller.
Ein Skalpell ist hierfür nicht nötig, auch grosse Wunden müssen nicht genäht werden. Dies habe einige Anbieter dazu verleitet, damit zu werben, dass eine Haartransplantation keine echte Operation sei, schreibt die Internationale Gesellschaft für Haarwiederherstellungschirurgie (ISHRS), ein weltweit führendes Expertengremium. Das stimme jedoch nicht: Eine solche Behandlung sei sehr wohl ein chirurgischer Eingriff, der nur Ärzten vorbehalten sein sollte, heisst es auf der Website.
Eigentlich gilt das auch für die Türkei, kontrolliert wird das aber nicht immer, wie die Medizintourismus-Forscherin Mariam Asefi erklärt. «Es wird geschätzt, dass mehr als 40 bis 60 Prozent der Anbieter ohne Lizenz arbeiten», sagt sie. Statt Ärzten erledigen dort angelernte «Techniker» die Arbeit – und die verdienen deutlich weniger. Dies ist der Grund, weshalb die Preise in der Türkei mitunter so günstig sind. Hinzu kommt, dass die dortige Handelskammer die Marketingkampagnen der Kliniken im Ausland fördert. Anbieter erhalten etwa 70 Prozent ihrer Werbeausgaben vom Staat erstattet.
Felix Hofmann, wie lief die Transplantation ab?
Das hatte schon etwas von einem Science-Fiction-Film. Am Samstagmorgen ging es los. Ich stand mit den anderen Patienten in einer Schlange, alle in hellen OP-Hemden. Zuerst rasierte mir jemand die Haare, dann ging ich weiter, um zu bezahlen. Jeder Arbeitsschritt war optimiert, alles ging sehr zügig.
Und dann?
Mir wurde ein Ketamin-Cocktail gespritzt, ich hab mich den ganzen Tag benommen gefühlt. Zuerst wurden mir Haare am Hinterkopf entnommen, dann wurden mir die Haare vorne eingesetzt. Immer arbeiteten drei oder vier Leute um mich herum. Insgesamt hat alles acht Stunden gedauert.
Experten warnen vor «Haarfabriken»
Inzwischen haben auch Ärzte in der Schweiz und in Deutschland immer wieder mit Männern zu tun, deren Transplantation in der Türkei misslang. Patienten berichten von Beratungsgesprächen über Whatsapp und von Ärzten, die sich nur im Hintergrund aufgehalten, aber mit der Behandlung selbst nichts zu tun gehabt hätten.
Experten warnen bereits vor «Haarfabriken», Anbietern, denen Quantität wichtiger ist als Qualität. Weil viele Grafts verpflanzt würden, sei der neue Haaransatz oft ganz in Ordnung, schreibt die Schweizerische Gesellschaft für Haartransplantation. Es bestehe aber das Risiko, dass zu viel Spenderhaar entnommen werde.
Das könne dazu führen, dass am Hinterkopf lichte Stellen entstünden und zudem eine Reserve fehle. Diese ist aber für allfällige Nachbehandlungen wichtig.
Ausgedünnte Hinterköpfe, tiefe Haaransätze
Im Internet findet man Fotos von verpfuschten Behandlungen. Zu sehen sind ausgedünnte Hinterköpfe, Haaransätze, die zu weit in die Stirn ragen, sowie OP-Säle, in denen mehrere Patienten gleichzeitig behandelt werden.
Auch in Zürich gab es einen solchen Fall: Im Herbst 2022 wurde ein Mann an der Bahnhofstrasse von zwei Pflegefachfrauen behandelt, die über eine Vermittlungsfirma aus der Türkei in die Schweiz gekommen waren. Der Kunde musste schliesslich mit blutüberströmtem Kopf ins Spital gebracht werden.
Herr Hofmann, wie ging es Ihnen nach der Behandlung?
Schmerzen hatte ich keine, aber die ersten fünf Nächte habe ich kaum geschlafen. Die Grafts dürfen nirgendwo festkleben, weil sie sonst herausgerissen werden können. Deshalb bekommt man ein Nackenkissen und darf nur im Sitzen schlafen. Nach zehn Tagen waren die Schwellungen am Kopf zurückgegangen, nach vierzehn Tagen konnte ich wieder unter Leute gehen. Bei der Klinik musste ich regelmässig Fotos von mir hochladen, damit überprüft werden konnte, ob alles gut verheilt.
Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Ja, es ist super geworden, aber alles hat eine Weile gedauert. Wenn die Haarfollikel entnommen werden, bekommen sie eine Art Schock. Deshalb fallen die verpflanzten Haare kurz nach der Behandlung aus. Aber das war nur vorübergehend, nach zwei bis drei Monaten sind sie nachgewachsen. Richtig wohlgefühlt habe ich mich nach einem halben Jahr, als mein Haar wieder einigermassen dicht war.
Das endgültige Ergebnis einer Haartransplantation zeigt sich jedoch erst Jahre später. Ausserdem geht der natürliche Haarausfall an den unbehandelten Stellen weiter. Weil die nötigen Haare fehlen, ist es für eine Nachbehandlung dann möglicherweise zu spät.
* Name geändert.