Mittwoch, Oktober 2

Der ehemalige UBS-Manager treibt die europäische Banken-Konsolidierung voran. In Italien herrscht stille Genugtuung.

Der «Cristiano Ronaldo der Finanzwelt», der «stählerne Banker», der «Regenmacher»: Andrea Orcel hat im Verlauf seiner Karriere von den Medien schon verschiedene Übernamen erhalten. Ein richtiger Titel kam in diesem Sommer dazu: Das britische Finanzmagazin «Euromoney» ehrte den CEO von Unicredit als Banker des Jahres – in Anerkennung seiner Führungsqualitäten und der Leistungen seiner Bank im Jahr 2023.

Er fühle sich «extrem geehrt und dankbar», sagte Orcel anlässlich der Preisübergabe. Man glaubt es ihm aufs Wort. Zuoberst sein, an der Spitze, Klassenbester – es ist die Währung, die für ihn zählt. Ein früherer Kollege hat ihn in der «Financial Times» einmal als «äusserst wettbewerbsorientiert» beschrieben.

Seit diesem Mittwoch hat Orcel wieder alle Augen auf sich gerichtet. Der Italiener hat mit Unicredit überraschend eine Beteiligung von 9 Prozent an der deutschen Commerzbank aufgebaut. Die Bank aus Mailand schickt sich an, die Konkurrentin aus Frankfurt zu übernehmen. In einem Interview bestätigte Orcel entsprechende Gerüchte und fügte an: «Wir sind sehr geduldig.»

Retter der UBS-Investmentbank

Andrea Orcel ist 1963 in Rom als Spross einer Mittelstandsfamilie geboren. Sein Vater – sizilianischer Herkunft – war im Leasing-Geschäft tätig, seine Mutter arbeitete für die Vereinten Nationen und legte aufgrund ihrer französischen Wurzeln Wert darauf, dass Andrea in der Ewigen Stadt zunächst das Lycée Chateaubriand besuchte, eine angesehene französische Schule. Sein Ökonomiestudium absolvierte er an der Sapienza in Rom, bevor es ihn an die Kaderschmiede Insead nach Fontainebleau zog. Orcel ist verheiratet und hat eine Tochter.

Orcel hat auch in der Schweiz Spuren hinterlassen, und zwar bei der UBS. Die Bank war nach der Finanzkrise in einem desolaten Zustand. Und der damalige UBS-Chef Sergio Ermotti musste sie auf Vordermann bringen. Dafür lotste er 2012 Orcel mit einem Antrittsbonus von 25 Millionen Franken von Merrill Lynch weg und setzte ihn als Co-Leiter an die Spitze der skandalgeschüttelten Investmentbank. Bald war er alleiniger Chef eines Bereichs, der damals Milliardenverluste produzierte und die UBS fast ins Verderben gezogen hatte.

Als Sidekick von Ermotti war Orcel vor allem als Sanierer gefragt. In unermüdlicher Tag- und Nachtarbeit baute er über die Hälfte der risikoreichen Assets ab und strich Tausende Stellen. Statt kapitalintensivem Handel mit Bonds, Währungen und Rohstoffen nahm die Investmentbank langsam ihre heutige Gestalt an, mit Beratung und Kapitalmarktgeschäft im Zentrum. Orcels Durchschlagskraft war entscheidend, die UBS wieder auf Kurs zu bringen.

Dass sich Ermotti mit Orcel ein Alphatier ins Haus geholt hatte, war offensichtlich: 2013 verdiente der Italiener mit über 11 Millionen Franken mehr als sein Chef. Orcel machte auch kein Geheimnis aus seinen Ambitionen, einst Ermottis Job übernehmen zu wollen. Dazu kam es aber nicht. 2018 verliess Orcel die Schweiz überraschend. Ihm wurde der Topjob bei der spanischen Grossbank Santander angeboten.

Doch auch dazu kam es nicht. Santander-Präsidentin Ana Botín machte einen Rückzieher, bevor Orcel die Stelle antreten konnte. Zu hoch war die Millionen-Kompensation, die Santander der UBS für aufgeschobene Boni hätte zahlen müssen. Orcel wehrte sich: «Ich bin kein Mensch, der Dinge auf sich beruhen lässt», gab er zu Protokoll und verklagte die spanische Grossbank auf 112 Millionen Euro Entschädigung. Nach einem aufwendigen juristischen Hickhack sprach ihm ein Gericht 68 Millionen für «moralische Schäden und Rufschädigung» zu. Orcel hatte wieder gewonnen.

Liebling der Investoren

Sein Ruf als knallharter Banker, der nicht lockerlässt, war zementiert. Auch wenn Wegbegleiter sagen, er sei über die Jahre sanftmütiger geworden. Während der Santander-Episode eröffnete sich für Orcel die nächste Chance. Er wurde zum Chef der italienischen Unicredit ernannt – einer Bankengruppe, die er 1998 als Investmentbanker mit dem Zusammenschluss von Credito Italiano und Unicredito zu erschaffen half.

Als Unicredit-CEO war er im idealen Job angekommen. Für Aktionäre hat er aus Unicredit innert kurzer Zeit die erfolgreichste Bank Europas gemacht. Der Aktienkurs hat sich seit seinem Amtsantritt vervierfacht. Mittlerweile haben die Unicredit-Aktien eine fast so hohe Bewertung erreicht wie jene der UBS. Der steile Kursanstieg hat Orcel die finanziellen Mittel gegeben, um in Europa auf Shopping-Tour zu gehen.

Doch zunächst musste er bei Unicredit aufräumen. Er befreite die Bank von faulen Krediten, verkaufte Geschäftsbereiche und nahm Milliarden an neuem Kapital auf. Auch 13 Prozent aller Stellen strich er, 11 000 Leute mussten gehen. «Wir waren eine Umstrukturierungsgeschichte, jetzt sind wir im Land der Blue Chips», sagt Orcel.

Sein Versprechen: Gleichgültig, was die Bank macht, eine Kapitalrendite von 15 Prozent muss drinliegen. Dafür lieben ihn die Investoren. Der Umbau, aber auch die gestiegenen Zinsen liessen die Einnahmen bei Unicredit sprudeln. 2023 hat er die gesamten Einnahmen der Bank – über 9 Milliarden Euro – in Form von Dividenden und Aktien-Rückkäufen den Aktionären gegeben.

An der Börse hat Orcel viel erreicht. Doch was ihm als CEO noch fehlt, ist ein «transformativer Deal», eine Mega-Übernahme, die Ermotti bereits auf dem Lebenslauf hat. Eine Komplett-Übernahme der Commerzbank würde Orcels Palmarès als bester Dealmaker Europas perfekt ergänzen.

Spannungen mit Draghi

In Italien hat man Orcels wirtschaftliche Erfolge und den Umbau der Unicredit zwar zur Kenntnis genommen (wie auch seine fürstliche Entschädigung von gegen 10 Millionen Euro im Jahr 2023), aber für die ganz grossen Schlagzeilen hat der Banker in seiner Heimat bisher nicht gesorgt. Wenn nicht gerade eine Krise oder ein Notfall herrscht, hat die Finanzbranche in Italien einen anderen Stellenwert als in der Schweiz oder England.

2021 hätte man Orcel und die Unicredit allerdings gerne als Retter gesehen – als Mann, der das serbelnde Sieneser Institut Monte dei Paschi di Siena MPS aus dem Schlamassel befreien sollte. Doch aus Furcht vor Altlasten liess er sich nicht auf einen Übernahme-Deal mit MPS ein. Italienische Medien berichteten in der Folge über Spannungen zwischen Orcel und dem damaligen Regierungschef Mario Draghi. Mittlerweile macht MPS wieder Gewinne, der Staat hat die von ihm gehaltene Mehrheit der Aktien inzwischen an der Börse verkauft.

Orcel hatte Grösseres im Sinn. Dass er nun nach der deutschen Commerzbank greift und zum Initiator einer Konsolidierungswelle auf dem europäischen Finanzmarkt werden könnte, ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Zum einen, weil er diesmal, wenn auch eher zufällig, Mario Draghis Spuren folgt. Dieser hat letzte Woche einen vielbeachteten Bericht über den Zustand der Wettbewerbsfähigkeit der EU vorgelegt und darin die Schwäche des kleinräumigen europäischen Kapitalmarkts moniert.

Orcels Commerzbank-Operation könnte demgegenüber zur Bildung einer starken europäischen Bankengruppe mit Verankerung in Italien und Deutschland führen, die in der Lage wäre, überall auf dem alten Kontinent zu operieren – genau das, was Draghi fordert. «Orcel bewegt sich in den Fussstapfen von Draghi», kommentierte denn auch die «Repubblica» die jüngsten Entwicklungen.

Zum anderen herrscht in Italien, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, Genugtuung darüber, dass ausgerechnet ein Landsmann in Deutschland zu einem wichtigen Player wird. «Der Kauf beweist, dass das italienische Kreditsystem in der Lage ist, auch im Ausland und auf der internationalen Bühne eine führende Rolle zu spielen», sagt Marco Osnato, Abgeordneter der Regierungspartei Fratelli d’Italia und Chef der Finanzkommission.

Gegenüber Deutschland fühlt sich Italien zumeist in der Rolle des Underdogs. Die steten Ermahnungen aus Frankfurt und Berlin und die manchmal als oberlehrerhaft wahrgenommenen Verweise auf die instabile finanzielle Lage Italiens kommen nicht überall gleich gut an. Dass nun ein italienisches Institut bei einer Bank einsteigt, deren Präsident Jens Weidmann ist, der frühere Chef der Bundesbank, entbehrt vor diesem Hintergrund nicht einer gewissen Ironie.

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