Montag, Oktober 7

Daniele Orsi / Getty

Nach dem Ferragosto kehren die Italiener wieder zurück an die Arbeit – und in die Städte. Für viele ist das eine Zäsur. Doch die Städte meinen es gut mit den Heimkehrern: Mildes Licht und leuchtende Farben heissen sie willkommen. Besonders Rom fasziniert durch ein magisches Gemisch, und das ist kein Zufall.

«Ciao Mare!», rief der kleine Bub ins weite Blau des Meeres. Es ging heimwärts, der Bub sass auf den starken Armen seines Vaters, blickte noch einmal zurück und winkte dem Meer zu. Eine rührende Szene, beobachtet vor Jahren an einem der Strände Süditaliens.

Der Abschied vom Meer am Ende der langen Sommerferien bedeutet für Italienerinnen und Italiener mehr als eine geografische Veränderung. Es ist das wehmütige Verklingen eines Lebensgefühls: Vorbei die kleinen Freiheiten am «Lungomare», die langen Tage in Badehose und T-Shirt, Salz auf der Haut. Der Geruch von frittierten Meeresfrüchten, der Sommerhit mit den eingängigen Refrains, der Strandfussball mit dem orangen «Super Santos»-Ball. Das Leben in der Sippe.

Gewiss, auch in Italien verändert sich vieles, manches lebt nur als Klischee weiter. Die Ferien sind kürzer geworden als früher, als man für zwei, drei Monate ans Meer ging. Man fährt heute auch einmal in die Berge oder ins Ausland, nach Griechenland oder Albanien etwa oder noch weiter weg. Das Leben am Meer ist teurer, die Grossfamilien sind kleiner geworden; der Sommerhit erklingt nicht mehr am Transistorradio, sondern im Airpod.

Aber der Mythos des italienischen Sommers hält sich hartnäckig. Härter als anderswo ist denn auch die Zäsur, die das Leben A (Sommerferien) vom Leben B (Alltag) trennt. Dieser Tage geht es zurück in die Schule, ins Büro, in die Fertigungshalle, auf die Baustelle. Es ist eine Form der Disziplinierung, eine Art Lebensschule. Alles ist nun wieder anders.

Von den Farben überwältigt

Etwa zwei Drittel der Italienerinnen und Italiener leben im Landesinnern, in einiger Distanz zu den Küsten. Für sie bedeutet das Ende der Sommerferien auch – im Wortsinn – einen Farbwechsel: vom Azurblau des Meeres zurück in die Städte, die hierzulande freilich nur selten grau sind, wie es die Redewendung will. Bologna etwa wird nicht nur wegen der konstant linken politischen Färbung der Stadtregierung «la rossa» genannt. Auch die Häuser der Innenstadt sind praktisch ausnahmslos mit roten Ziegelsteinen gebaut worden.

Rom, die Hauptstadt, stellt punkto Farben wohl so etwas wie den Höhepunkt der italienischen Städtebaukunst dar. Wer nach einem Rom-Besuch innehält und an das Erlebte zurückdenkt, wird in seinem Kopf mit Sicherheit nicht nur den Geschmack von «Bucatini all’amatriciana» oder die Sicht auf das Kolosseum abrufen, sondern unweigerlich auch die Farben der Stadt.

Von seinem persönlichen Römer Farberlebnis berichtet anschaulich Golo Maurer. Der Kunsthistoriker und Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts in der Bibliotheca Hertziana in Rom hat unlängst bei Rowohlt ein wunderbares Buch über das Leben in der Ewigen Stadt veröffentlicht. Darin schreibt er, wie er als junger Mann nach einem misslungenen Erasmus-Aufenthalt in Florenz nach Rom gereist ist.

«Florenz war damals der falsche Ort zur falschen Zeit. Ich fühlte mich elend dort, es war kalt, eng und grau. Und so lief ich im Regen durch die tristen Strassen und dachte an Rom, wo ich einige Jahre zuvor, noch als Teenager, schon einmal gewesen war. Vor allem erinnerte ich mich an die Farben: Das Orangerot der Ziegel, das ins Oliv gehende Ocker des Tuffsteins, das buttrige Weiss des Travertin, das schwärzliche Grün von Pinie und Zypresse und, all diese Farben der Erde mächtig überspannend, das Blau des Himmels, der am Abend rosa, orange und violett werden konnte und nachts pflaumenschwarzblau.»

Das mag schwärmerisch klingen, gewiss. Aber es trifft zu. Kein Besucher kann sich der suggestiven Kraft der römischen Farben entziehen. Und für Tausende zurückkehrende Sommerselige sind es die Farben ihres Alltags. Sie machen den Neustart in der Stadt erträglicher. Und dass es sie gibt, ist kein Zufall.

Die P- und die V-Behörde

Maddalena Capobianco gehört zu jenen Personen, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur farblichen Gestalt der Ewigen Stadt leisten. Die Architektin ist in der Sovrintendenza Capitolina ai Beni Culturali tätig, der Kapitolinischen Oberaufsichtsbehörde für das kulturelle Erbe – eine etwas umständliche Formulierung für ein städtisches Amt, das draussen an der Circonvallazione Ostiense, einer lauten mehrspurigen Autostrasse im Süden des Stadtzentrums, liegt.

Capobianco zeigt auf ihrem Bildschirm auf die Carta per la Qualità. Es ist eine interaktive Karte, die sämtliche Häuser und Quartiere Roms erfasst und sie nach bestimmten Kriterien gruppiert. Zum Beispiel nach der Epoche, in der sie entstanden sind: Es gibt Stadtteile, die stark vom Barock oder von der Renaissance geprägt sind, andere gehen auf das Mittelalter zurück, und Mussolinis monumentale Bauten haben ebenso ihre Spuren in Rom hinterlassen wie moderne oder zeitgenössische Architektur. Besonders hervorgehoben sind jene Bauwerke, die man auf allen Postkarten und Instagram-Postings aus der Ewigen Stadt findet: das Kolosseum, das Forum Romanum, das Pantheon. Jedes Viertel, jeder Strassenzug weist eigene farbliche Charakteristika auf. Als würde sie im Helikopter über die Stadt fliegen, fährt die Architektin mit der Computermaus über das Centro Storico, über Monteverde, Prati, Parioli und wie die römischen Quartiere alle heissen.

Einen eigentlichen Farbplan gebe es nicht für die Stadt, sagt Maddalena Capobianco. Wohl aber wichtige Studien der an der Universität Sapienza früher tätigen Dozentin Marcella Morlacchi. Sie hat am Beispiel eines Viertels die Farben der Stadt systematisch untersucht und eine Farbpalette definiert, welche eine der Grundlagen der Carta per la Qualità bildet. Danach sind Travertin, dieser für Rom besonders typische helle Kalkstein, Ziegel und Tuffstein die seit der Antike grundlegenden Baustoffe. «Von diesen Materialien leiten sich die vorherrschenden Farben der Stadt ab», sagt Capobianco, «Ockergelb, Ziegelrot und Weiss.»

«An der Carta di Qualità führt kein Weg vorbei», ergänzt sie. Roms Innenstadt mit dem Borgo Pio in der Nähe des Petersdoms gehört seit 1980 zum Unesco-Weltkulturerbe, die gesamte Vatikanstadt seit 1984. Hier kann man nicht einfach machen, was man will.

Jeder römische Bauherr kriegt es über kurz oder lang mit der Sovrintendenza zu tun. Oder, je nachdem, auch mit der Soprintendenza. Das P beziehungsweise V unterscheidet die zwei massgeblichen Behörden. Während diejenige mit dem V zur Stadt gehört, untersteht die Soprintendenza mit dem P dem italienischen Staat, genauer: dem Kulturministerium. Zusammen wachen die beiden über das historisch-kulturelle Erbe der Stadt. Sie haben deren Gebäude und Monumente fein säuberlich unter sich aufgeteilt. «Ein Amt allein könnte die Menge nicht bewältigen», erklärt Capobianco.

Je nachdem, welches Gebäude umgebaut oder renoviert werden soll, ist entweder das P- oder das V-Amt zuständig. Diesem sind dann die Pläne vorzulegen – auch diejenigen über die geplante Farbwahl für die Fassaden. Es folgen Nachforschungen vor Ort. Mit sogenannten stratigrafischen Untersuchungen versucht man, die ursprüngliche Farbe hinter den im Laufe der Jahre aufgetragenen Farbschichten zu ermitteln. Diese gilt als Referenzwert und Ausgangspunkt für den Neuanstrich.

Gegebenenfalls werden zuerst verschiedene Farbmuster aufgetragen, um die Wirkung besser beurteilen zu können. Schliesslich wird die definitive Farbe bestimmt. Die Behörde kann vom Eigentümer einen radikalen Farbwechsel verlangen, wenn dies die Untersuchungen nahelegen. Aus einem Spinat-Grün kann auf diese Weise plötzlich ein Pizza-Marinara-Rot werden – was Passanten und Flaneure mitunter überrascht, wenn die Baugerüste entfernt werden und sie altvertraute Gebäude nicht mehr wiedererkennen.

Selbst bei der Art und Weise, wie die Farben aufgetragen werden, redet die Sovrintendenza mit. Nicht zu gleichmässig und perfekt darf es sein, «die emotionalen Schwingungen müssen sichtbar werden», erklärt die Architektin. Verwendet werden traditionell Kalkfarben. Weil diese aber wegen des sauren Regens und anderer Umwelteinflüsse relativ rasch auswaschen, gestattet die Behörde mittlerweile auch den Einsatz von Silikatfarben. «Sie kommen dem Effekt von Kalkfarben am nächsten.»

Segen und Fluch des Superbonus

Die chromatische Magie der Stadt – hier, im Büro von Maddalena Capobianco, wird sie gleichsam dekonstruiert und rationalisiert. Und wir lernen: So wenig, wie Rom in einem Tag erbaut wurde, so wenig ist die farbliche Gestalt der Häuser das Resultat von Zufällen oder der hier vermeintlich besonders ausgeprägten ästhetischen Bildung der Bewohner. War es ursprünglich die Verfügbarkeit der Materialien, so ist es heute die bürokratische Wachsamkeit der P- beziehungsweise V-Behörde, die für ein angenehmes Farberlebnis sorgt.

Mit allen Vor- und Nachteilen: Neues und Gewagtes findet sich im historischen Kern kaum. Die vorhandenen Regeln belohnen den baulichen Konservatismus, nicht die Innovation. In jüngster Zeit hat sich diese Entwicklung sogar noch beschleunigt. Um die Bauwirtschaft anzukurbeln, hat die damalige italienische Regierung 2020 den sogenannten Fassadenbonus aufgelegt, der nachpandemisch noch um den Superbonus ergänzt wurde. Eigentümer, die die Fassaden ihrer Immobilien auffrischen oder sanieren wollen, werden seither steuerlich unterstützt oder erhalten dafür sogar noch Geld zurück.

Der italienischen Staatskasse hat das nicht gutgetan. Noch heute quält sich das Finanzministerium mit den Folgen der Geldschwemme für Bauherren und den damit einhergehenden Betrügereien. Aber in den Strassen Roms machen sich die Bonus-Programme bemerkbar. Alteingesessene Römer können sich nicht erinnern, jemals so viele säuberlich heruntergeputzte Palazzi gesehen zu haben. Etwas verwahrloste, in ihrer ganzen Hinfälligkeit aber bezaubernde Gebäude gibt es im historischen Zentrum der Stadt zwar noch, in beträchtlicher Zahl sogar, aber sie erhalten bedrohliche Konkurrenz durch allzu schön angemalte Häuser, bei denen sogar die Klimageräte und Satellitenschüsseln versteckt oder abgebaut wurden – auch hier reden die Behörden ein Wörtchen mit.

Ein bisschen romantische Wehmut befällt einen angesichts der um sich greifenden Perfektion, die in einem merkwürdigen Kontrast steht zur Dysfunktionalität der sonstigen städtischen Dienstleistungen. Aus der Distanz betrachtet bleibt der Gesamteindruck aber immer noch überwältigend.

Zum Blick aus der Ferne rät auch Marcella Morlacchi, die Professorin, die die Farben der Stadt studiert hat. In einem ihrer Bücher empfiehlt sie einen winterlichen Spaziergang: «Um die wahre Farbe des heutigen Rom zu erkennen, sollte man im Winter die Tiberpromenade entlanggehen und bei der Villa Farnesina durch das spärliche Laub der Platanen auf die Farben des gegenüber liegenden Palazzo Farnese schauen», schreibt sie. An dieser Stelle erlebe man die farbliche Synthese dessen, was die Stadt seit Jahrhunderten ausmache.

Dann also auf, an den Tiber! Bald kommt der Herbst, dann der Winter und damit der richtige Zeitpunkt für dieses Erlebnis. Das Meer und der Sommer sind dann zwar weit weg, doch die behaglichen Farben der Ewigen Stadt werden die nötige Wärme geben.

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