Mittwoch, September 10

Mit Israels Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir ist die rechtsextreme und rassistische Ideologie des ermordeten Rabbi Meir Kahane im Zentrum der Macht angekommen. Das hat fatale Folgen für Israels derzeitige Politik.

Es gibt Ideologien, die wie Gespenster durch die Geschichte eines Staates spuken. Man glaubt, sie seien verschwunden, doch in Zeiten der Krise kehren sie zurück – bedrohlicher denn je. Der Kahanismus gehört zu diesen Spukgestalten der israelischen Politik. Als Rabbi Meir Kahane in den 1980er Jahren seine Parolen in Tel Aviv und Jerusalem skandierte, schien er ein Fremdkörper: ein fanatischer Einwanderer aus Brooklyn, dessen Forderungen nach Vertreibung der Araber selbst im rechten Lager Schockwellen auslösten.

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Heute jedoch, fast 35 Jahre nach Kahanes Ermordung, sitzt ein erklärter Anhänger dieser Lehre zusammen mit seiner Fraktion, der Otzma Yehudit (Jüdische Stärke), im israelischen Kabinett: Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit. Was einst als radikale Phantasie erschien, hat im Alltag von Polizei, Justiz und Gesetzgebung konkrete Formen angenommen.

Kahane legte die radikale Saat

Um die Sprengkraft dieser Entwicklung zu verstehen, muss man sich Kahanes Denken in Erinnerung rufen. Er war kein gewöhnlicher Nationalist, sondern ein gewaltbereiter Mann, der Religion und Politik unauflösbar verknüpfte. In Brooklyn hatte er die Jewish Defense League gegründet, eine Mischung aus Strassenschlägern und Selbstschutztrupp. Sie verteidigte Juden gegen Antisemitismus auch mit Bombendrohungen und Strassenterror.

Als Rabbi Kahane nach Israel auswanderte, brachte er diese Mentalität mit. Für ihn war das Land nicht nur das Heimatland des jüdischen Volkes, sondern göttlicher Besitz, der ausschliesslich Juden vorbehalten sei. Araber waren für ihn grundsätzlich «Feinde». Demokratie akzeptierte er nicht, er suchte eine Garantie für ausschliessliche jüdische Vorherrschaft. Wer in seiner Gegenwart von Gleichberechtigung aller Bürger sprach, wurde von ihm als «Verräter» gebrandmarkt. Der Staat Israel war für ihn kein Wert an sich, sondern ein Stadium des Übergangs zur religiös begründeten vollständigen Herrschaft des jüdischen Volkes über das ganze Land Israel.

Damals war die israelische Gesellschaft immun gegen solch offene antiarabische Hetze. 1988 erklärte das Oberste Gericht Kahanes Partei Kach für rassistisch und verbot ihre Teilnahme an den Wahlen. Doch die Saat war gelegt. Kahanes Reden über «Transfer», über die «Auslöschung» der arabischen Präsenz per Vertreibung kursierten auf Papier und Tonträgern. In den Siedlungen am Rand von Hebron und Nablus wurden junge Aktivisten seine Anhänger. Einer von ihnen war Itamar Ben-Gvir, damals ein Teenager aus Kiryat Arba, der später stolz bekannte, er habe Kahane «vergöttert».

Aufstieg von Itamar Ben-Gvir

Schon in den frühen 1990ern trat Ben-Gvir als jugendlicher Provokateur auf. Berüchtigt wurde er, als er das Emblem vom Auto des damaligen Ministerpräsidenten Yitzchak Rabin stahl, in die Kameras grinste und sagte: «Wir haben das Auto erreicht, wir werden auch ihn erreichen.»

Wenige Wochen später wurde Rabin von einem jüdischen Extremisten ermordet. Ben-Gvir sass nie für diese Drohung im Gefängnis, aber seine Worte waren Teil jener Atmosphäre, die den politischen Mord möglich machte. Wer damals glaubte, solche Figuren würden für immer am Rand bleiben, sieht sich heute getäuscht. Dreissig Jahre später kontrolliert derselbe Mann die israelische Polizei.

Ben-Gvirs Aufstieg zeigt, wie sich Kahanismus und Mainstream verschränkten. Die Eskalationen der letzten Jahre – palästinensische Messerattacken, Raketen aus Gaza, die Strassenkämpfe zwischen Juden und Arabern in Lod, Akko oder Jaffa 2021 – verschafften ihm plötzlich Popularität. Seine Botschaft war einfach und brutal: Die Araber seien illoyal, man müsse sie kontrollieren, einschüchtern. Während gemässigte Rechte mühsam versuchten, zwischen Terroristen und Bürgern zu unterscheiden, zog Ben-Gvir die alte Kahanisten-Gleichung: Jeder Araber bedeutet Gefahr. Damit stiess er bei Teilen der Bevölkerung auf offene Ohren.

Seine Rhetorik wurde zur politischen Praxis. Als Minister für nationale Sicherheit erkämpfte sich Ben-Gvir Befugnisse, die ihm direkten Einfluss auf die Polizei geben. Er entscheidet nun über Beförderungen, über die Einsatzplanung oder operative Prioritäten, nicht mehr die Polizeiführung. Die Folgen waren schnell sichtbar: Während Hunderttausende Israeli 2023 gegen die Justizreform demonstrierten, griff die Polizei auf Befehl von oben mit immer grösserer Härte ein: Wasserwerfer, Schlagstockeinsätze, Verhaftungen sogar von älteren Israeli, die nur zuschauten, wurden neue Normalität.

Gleichzeitig blieben polizeiliche Sicherheitskräfte oft passiv, wenn Siedler im Westjordanland palästinensische Dörfer attackierten. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Dutzende solcher Fälle. Die Asymmetrie entspricht exakt dem kahanistischen Prinzip: unbarmherzige Härte gegen «innere Feinde», Nachsicht für die eigenen Kämpfer. Inzwischen will Ben-Gvir durchsetzen, dass Demonstranten zukünftig keine Strassen mehr blockieren und besetzen dürfen. Die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara erklärte, eine solche Entscheidung sei jenseits seiner Befugnisse. Doch wie lange wird das Ben-Gvir interessieren, da die Regierungskoalition Baharav-Miara sowieso loswerden will?

Privatisierung der Gewalt

Auch in der Waffenpolitik Ben-Gvirs schreibt sich Kahanes Linie fort. Schon in den 1980er Jahren hatte er sich für bewaffnete Bürgerwehren ausgesprochen. Ben-Gvir verwirklicht diese Idee nun mit staatlichen Mitteln: Er hat Zehntausende von neuen Waffenscheinen ausgegeben, besonders an Juden in gemischten Städten. Offiziell geschieht das zur «Selbstverteidigung». In Wahrheit aber bedeutet es, dass jede Strassenszene, jeder Streit zwischen Nachbarn das Potenzial zum Blutbad hat.

Kritiker warnen vor einer Privatisierung der Gewalt, also genau vor dem, was Kahane als «Schutz des jüdischen Volkes» predigte. Anfang dieser Woche verkündete Ben-Gvir, dass er Bürgern von fünf weiteren Regionen und Städten Waffenscheine ausgeben wolle.

Ben-Gvir machte nie ein Hehl aus seiner Haltung. 1994 erschoss der Arzt Baruch Goldstein, ein Kahanist, in Hebron 29 betende Muslime. Der Massenmord schockierte die Welt, Kach war in Israel danach endgültig tabu. Doch in manchen Siedlerwohnungen hing weiter Goldsteins Bild, auch in der Wohnung von Itamar Ben-Gvir, wie Journalisten später entdeckten. Lange verteidigte er das Poster als Privatsache. Erst als er Minister werden wollte, nahm er es ab. Doch das Signal war eindeutig: Die Helden der Kahanisten bleiben seine Bezugspunkte.

Seine Sprache lässt keinen Zweifel daran. 2023 erklärte er im Fernsehen: «Das Recht, dass ich und meine Kinder uns frei bewegen können, ist wichtiger als das Recht der Araber auf Bewegungsfreiheit.» Er sprach von palästinensischen Staatsbürgern als «Feinden», die «aus dem Land hinausmüssen». Als er kürzlich Marwan Barghouti, einen der prominentesten palästinensischen Terroristen und ehemaligen Tanzim-Führer, im israelischen Gefängnis aufsuchte, rief er ihm zu: «Wir werden euch auslöschen.» Solche Sätze wären vor dreissig Jahren ein Skandal gewesen, heute werden sie in den Abendnachrichten übertragen, gesprochen von einem Regierungsmitglied.

Ben-Gvir beugt die Institutionen seiner Ideologie

Um die Besonderheit dieses Bruchs zu erkennen, lohnt der Vergleich mit dem Gush Emunim (Block der Getreuen), der Siedlerbewegung, die sich nach dem Sechstagekrieg 1967 entwickelte. Deren Ideologie basiert auf den Lehren von Rabbi Zvi Yehuda Kook. Auch diese Siedler waren sogenannte «religiöse Zionisten», auch sie lehnten die Rückgabe von Land an die Palästinenser ab, auch sie sahen in der Besiedelung des ganzen Landes Israel einen göttlichen Auftrag. Doch für sie blieb der Staat Israel, bei allen säkularen «Sünden», das Werkzeug der Erlösung. Sie wollten ihn stärken, nicht unterminieren, zumindest nicht in den ersten Jahrzehnten ihrer Aktivitäten.

Kahane hingegen misstraute dem Staat stets zutiefst, er wollte ihn radikal umformen. Ben-Gvir bewegt sich genau in dieser Logik. Er nimmt die Institutionen nicht so hin, wie sie sind, sondern beugt sie seiner Ideologie. Die Polizei wird beinahe schon zur persönlichen Miliz, die Justizreform, die Ben-Gvir natürlich unterstützt, zum Hebel gegen Gewaltenteilung und liberale Richter, seine Waffenpolitik zur Umsetzung von Kahanes Vision einer militarisierten Gesellschaft.

So verschwimmen Geschichte und Gegenwart. Kahanes Forderung nach «Transfer» wird heute in griffigeren Formeln wiederholt: Ben-Gvir spricht etwa von «freiwilliger Auswanderung» für Palästinenser aus Gaza, er wirbt dafür, ihnen «Anreize» zur Emigration zu geben. Was nach ökonomischer Hilfestellung klingt, ist in Wahrheit derselbe Gedanke wie bei Kahane: das Land von Arabern zu «befreien».

Umfragewerte steigen

Die Wirkung zeigt sich in den Strassen: Die Siedlergewalt im Westjordanland hat in den letzten Jahren zugenommen, Dörfer werden niedergebrannt, Olivenhaine zerstört, Menschen verprügelt. Genau so hatte sich schon Kahane einst den «freiwilligen Transfer» vorgestellt: nicht mit Lastwagen, welche die Menschen geordnet wegbringen, sondern mit Terror, der deren Leben unerträglich machen sollte.

Auch innerhalb Israels interessiert sich Ben-Gvir nicht für die palästinensischen Staatsbürger. In ihren Communitys wächst die Kriminalität, doch die Polizei kümmert sich nicht. Und fast niemanden stört das. Ben-Gvir profitiert von der Angst und Wut vieler jüdischer Israeli. Seine Umfragewerte steigen, bei Neuwahlen dürfte seine Partei grosse Zugewinne verzeichnen. Die Botschaft ist simpel: Nur Härte schützt. Und Härte bedeutet, Araber als Kollektiv zu behandeln, zu benachteiligen.

So wird der Kahanismus zur Regierungsrealität und neuen Normalität. Während Kahane einst aus der Knesset geworfen wurde, sitzt heute sein geistiger Schüler im Kabinett. Die entscheidende Frage ist, wie lange ein demokratischer Staat überleben kann, wenn seine Sicherheitsorgane im Geist Kahanes umgestaltet werden.

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