Mittwoch, Oktober 2

Der ungarische Dirigent wurde entscheidend durch Leonard Bernstein und Nikolaus Harnoncourt geprägt. Deren reformerische Impulse trägt Fischer seit nunmehr vierzig Jahren mit seinem Budapest Festival Orchestra weiter. Am Samstag wird das Jubiläum am Lucerne Festival gefeiert.

Er ist neugierig und wissbegierig. Im Gespräch mit Iván Fischer kann es schnell geschehen, dass man selber zum Interviewten wird. Und wenn der ungarische Dirigent in Stimmung ist, kann er auch philosophisch werden. «Es gibt kein Ziel. Der Weg ist das Ziel», zitiert er den schlauen Konfuzius. Und umschreibt elegant, welche Zwischenbilanz er selber heute zu seiner Arbeit ziehen würde: vierzig Jahre nachdem er das Budapest Festival Orchestra (BFO) gegründet hat und fünf Jahre nach dem Start seines Vicenza Opera Festival in Norditalien.

«Es ist nicht so, dass die Erneuerung des Orchesterbetriebs und der Oper zu einem Ziel führt, das vorab definiert ist. Ich probiere, beide zu befreien», sagt er. Es ist sein zentrales künstlerisches Credo, er verfolgt es seit Anbeginn seiner Dirigentenlaufbahn und hat es erstmals mit dem BFO umgesetzt. Und zwar damals noch gegen erhebliche institutionelle und politische Widerstände: Im Jahr 1983 gegründet, war das BFO das erste selbstverwaltete Orchester in Ungarn und seinerzeit das einzige dieser Art im kommunistischen Ostblock.

Zweiköpfiges Beamtentum

Kein Musizieren nach Dienst oder Vorschrift, flache Hierarchien, ein Kunstkollektiv im besten Sinn: Das war eine zentrale Motivation für die Gründung des BFO. «Ich träumte von einem Orchester, das mit dem Einsatz und Engagement eines Streichquartetts spielt – wo alle aus der Seele musizieren», so Fischer. «Dafür brauchte ich Reformwillen und neue Strukturen. Festgefrorene Strukturen mögen eine gewisse Sicherheit bringen, aber eben auch Routine, und das tötet die Kreativität und den Enthusiasmus.»

Ein anderer Aspekt seiner Reformen berührte das Verhältnis zum Publikum. «Wir glauben, dass wir der Gesellschaft dienen müssen – in einer breiteren Form.» Mit den Budapestern hat Fischer frühzeitig die Konzertsäle verlassen und Schulen, Alters- und Pflegeheime, Gefängnisse oder Synagogen bespielt. Auch Spezialkonzerte für autistische Kinder gehören längst zum Programm.

Eine weitere Reform berührte das Repertoire: Es wurde erweitert, um unterschiedliche Musikstile und Genres zu pflegen, darunter Barock in Originalklang, moderne Musik, Jazz, ungarische Folklore oder Improvisationen. «Wir sind ein Orchester-Blues», formuliert es Fischer. In Vicenza agieren die Budapester zudem alljährlich im Oktober als Hausorchester des von Fischer initiierten Opernfestivals.

Während das Orchester vom «Beamtentum» befreit werden soll, will er in Norditalien die Oper von der «zweiköpfigen Schizophrenie» befreien, wie er sagt. Was Fischer damit meint? «Ich könnte das wunderbar in einer Karikatur zeichnen», erwidert er und greift prompt zu Zettel und Stift. «Das eine ist ein konservativer Kopf: der Dirigent als Hohepriester. Er sorgt dafür, dass man gewissermassen der Bibel folgt. Der andere ist der moderne Regisseur. Er sorgt dafür, dass auch junge Leute in die Oper kommen. Die beiden ziehen in zwei unterschiedliche Richtungen. Mich interessiert aber die Einheit von Musik und Theater, wie es schon die alten Griechen lebten.» Und dafür ist das berühmte, von Andrea Palladio entworfene Teatro Olimpico in Vicenza die perfekte Bühne.

Bei der Eröffnung 1585 wurde «König Ödipus» von Sophokles aufgeführt. Die Kulissenbauten, ein idealisiertes Theben, bilden bis heute den Bühnenhintergrund. Dieser besondere historische Raum erzwingt geradezu eine szenisch kluge Einbindung, ähnlich wie die Felsenreitschule mit ihren charakteristischen Arkaden in Salzburg.

Visionen fallen indes nicht vom Himmel: Auch ein Pionier wie Fischer hat «Quellen der Inspiration». Fischer selbst nennt Nikolaus Harnoncourt sowie den Theater- und Opernregisseur Jean-Pierre Ponnelle. Harnoncourt und Ponnelle realisierten Ende der 1970er Jahre einen legendären Monteverdi-Zyklus am Opernhaus Zürich. Ab 1977 assistierte Fischer Harnoncourt in Zürich.

Die Ohren zu öffnen und Musik im Kontext ihres kulturellen Hintergrunds zu betrachten: Diese Haltung hat Fischer seinerzeit von Harnoncourt vermittelt bekommen. «Er wollte immer die Revolution in der Musik. Konformistische Haltungen konnte er nicht ausstehen, das langweilte ihn. Er suchte stets den unmittelbaren Impuls. Er wollte etwas Neues und Provozierendes erleben in der Musik.»

Stilvielfalt

Ähnlich prägend war für Fischer Leonard Bernstein, zumal als ein Pionier der Musikvermittlung. «Was ich von Bernstein gelernt habe, ist, Verantwortung für das Publikum zu übernehmen. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen kulturell zu dienen. Sie bekommen dadurch Antworten auf zentrale Fragen.» Mit Jazz und Klassik, Musical und Oper hatte Bernstein seinerzeit überdies eine ungeheure Stilvielfalt vorgelebt, wie sie Fischer heute mit seiner BFO-Truppe anstrebt.

Bei Fischer werden diese Inspirationen zu einer ureigenen Kraft, die in ihrer sozialen Relevanz oft eine gesellschaftskritische, subversive Wirkung entfaltet. Als das politische Klima in Ungarn nationalistischer und antisemitischer wurde, entwickelte Fischer kurzerhand Synagogen-Konzerte. Seit 2014 bespielt das BFO jüdische Gotteshäuser in Ungarn, inzwischen überdies in ganz Mittelosteuropa. Auch sonst verstehen sich Fischer und seine Budapester als Anwälte für die an den Rand der Gesellschaft Gerückten.

So gibt es also einiges zu feiern, wenn Fischer und die Budapester am letzten Wochenende des Lucerne Festival gastieren. Auf diesen Erfolgen ruht sich Fischer allerdings nicht aus, er hat bereits eine neue Idee initiiert. Mit der Europäischen Orchesterakademie, einer Kooperation des BFO mit dem European Union Youth Orchestra, startet am 25. September eine ganzheitliche Ausbildungsschmiede. Dabei soll dem Nachwuchs auch vermittelt werden, wie man Musik für die Gesellschaft macht: samt Programmgestaltung und Organisation. Und schon einen Monat später startet das diesjährige Opernfestival in Vicenza mit einer Neuproduktion der «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss. Iván Fischer ist immer schon einen Schritt weiter.

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