Montag, Oktober 7

Sie ist die kommerziell erfolgreichste Autorin der Welt. Für «Harry Potter» wurde J. K. Rowling weltweit von Millionen geliebt. Heute ist sie eine Hassfigur.

Prolog

Die erste Frau brachte er in einer Oktobernacht 1975 um. Es folgten zwei weitere nächtliche Taten. Dann kehrte Ruhe ein. Doch in der Dunkelheit einer Februarnacht 1977 suchte sich der Yorkshire Ripper sein nächstes Opfer. Sieben Mal wachte Grossbritannien in diesem Jahr zu der Nachricht eines weiteren brutalen, nächtlichen Frauenmords auf.

Überlebende der nächtlichen Angriffe berichteten, der Mörder habe sich ihnen offen genähert, innerhalb kürzester Zeit ihr Vertrauen gewonnen. Dann traktierte er die Frauen mit einem Hammer und einer Stichwaffe. Schliesslich wusste sich die Polizei von Leeds, wo die jüngsten Morde stattgefunden hatten, nicht mehr anders zu helfen, als alle Frauen anzuweisen, nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus zu gehen.

Die Ausgangssperre für Frauen sorgte für einen Aufschrei. Mit der Parole zur «Rückeroberung der Nacht» zogen ab Oktober 1977 demonstrierende Frauen durch die Strassen von Leeds. Die meisten riefen «Ausgangssperre für Männer – nicht für Frauen», andere: «Kastriert die Männer» und «Tod den Vergewaltigern». Darauf antworteten Männer am Strassenrand mit: «Fotzen» und «Haltet eure Fressen».

Ein Raum nur für Frauen

1971 war von britischen Feministinnen an der Belmont Road in Chiswick das erste Frauenhaus der Welt eröffnet worden. Ein hart erkämpfter Raum nur für Frauen. Die damit angestossene Debatte führte 1976 zur Ergänzung des Ehegesetzes um den Punkt der häuslichen Gewalt.

Der Yorkshire Ripper hatte in einer Zeit zu morden begonnen, in der die britische Frauenbewegung gerade wieder erstarkte. Eines ihrer wichtigsten Themen: Männergewalt gegen Frauen. Die nächtlichen Morde waren für sie die schlimmstmögliche Folge von Alltagssexismus und misogynen Gesellschaftsstrukturen.

Nicht nur in Leeds, sondern auch in weiteren Städten gingen Frauen vereint gegen Männergewalt auf die Strasse. Zum Beispiel in Bristol.

Das Mädchen

Nahe Bristol, am anderen Ufer des Severn, lebte ein 12-jähriges Mädchen namens Jo. Sie war von Geburt an eine Enttäuschung. Zumindest für ihren Vater, der sich als erstes Kind einen Sohn gewünscht hätte. Wann immer er das wiederholte, stürmte das Kind in sein Zimmer, warf sich aufs Bett und weinte. So erzählt es ihre kleine Schwester Jahre später.

Das Mädchen hörte aber nicht nur, dass es besser ein Junge wäre, sondern auch, was der Vater über die Demonstrantinnen zu sagen hat: Man sollte ihnen den Mund verbieten.

Mit zwölf und auch später, mit dreizehn, sah das Mädchen eher aus wie ein Junge. Androgyn, weit weg von der Erfüllung weiblicher Schönheitsideale. Später, als die Pubertät dann doch kam und damit die Blicke von Männern, fühlte das Mädchen sich allerdings noch falscher im eigenen Körper. Es entwickelte eine Zwangsstörung. Schön fand es nur die anderen, die Freundinnen. Irgendwann kamen zu dem Gefühl, nicht zu genügen, die Fragen: Bin ich homosexuell? Oder wäre ich tatsächlich besser ein Junge?

Von all dem erzählt die Frau, zu der das Mädchen heranwachsen wird, viele Jahre später in einem Dokumentarfilm (2006/7), einem sehr persönlichen Podcast (2022) und einem Essay (2020). Als Erwachsene, Mutter auch, heterosexuell und zufrieden in ihrem Körper – wird sie auf diese Zeit zurückblicken und sagen, dass sie genau da eine vehemente Feministin geworden sei. Denn als der Yorkshire Ripper durch die Nächte streifte, lernte sie, dass Frauen der Gewalt von Männern ausgeliefert sind. Ihre Sicherheit müssen sie mit der eigenen Freiheit bezahlen.

Das Mädchen Joanne Rowling lernte aber auch, dass dem Zusammenschluss von Menschen, die vor allem das Frausein eint, eine enorme Kraft innewohnt. Dass es darum wichtig ist zu sagen: «Ich bin eine Frau.»

Die erfolgreichste Schriftstellerin der Welt

Wer die Geschichte von J. K. Rowling erzählt, beginnt meistens da, wo sie zur Heldin wird: bei «Harry Potter». Mit den sieben Büchern hat Rowling Milliarden verdient und Generationen geprägt. In jüngerer Zeit allerdings beginnt man mit Rowlings Geschichte immer öfter dort, wo sie zur Hassfigur mutierte: bei ihrer Stellungnahme gegen Transgender-Aktivismus.

Ihre Feinde nennen Rowling TERF, ein Akronym für «Trans-Exclusionary Radical Feminist». Wegen Twitter-Posts wie diesem: «Das Grinsen eines Mannes, der weiss, dass er von einem frauenfeindlichen Sport-Establishment beschützt wird. Der sich am Leid einer Frau erfreut, der er gerade einen Schlag auf den Kopf verpasst und deren Lebensziel er soeben zerstört hat», schrieb Rowling zu einem Bild vom olympischen Boxkampf der Algerierin Imane Khelif gegen die Italienerin Angela Carini.

Khelif hatte in Paris olympisches Gold geholt, vor allem aber eine öffentlich geführte Debatte über ihr Geschlecht erlebt. Das IOK sagte dazu nur: «Imane Khelif ist als Mädchen zur Welt gekommen, ist als Frau eingetragen, hat als Frau gelebt und als Frau geboxt.» Mittlerweile hat Khelif Rowling und andere, etwa Elon Musk, wegen Cyber-Mobbing angezeigt.

Es gibt Studien, die belegen, dass aus Kindern, die «Harry Potter» gelesen hatten, empathischere und offenere Erwachsene wurden. Wer verstehen will, wie aus der Autorin dieser Bücher eine Hassfigur wurde, muss die Geschichte des Mädchens Jo kennen. Und jene der Frau, die daraus geworden ist.

Die Frau

Auf die Frage eines Dokumentarfilmers, wie sie auf die Idee zu «Harry Potter» gekommen sei, zuckt Rowling die Schultern. Es ist Januar 2007, eben hat sie in einem damals geheimen Hotelzimmer den siebten und letzten Band zu Ende geschrieben.

Wann und wo sie die Idee für Harry und seine magische Welt hatte, weiss sie genau: im Zug von Manchester nach London, im Jahr 1990, da war sie 25. Doch – wie? Rowling blinzelt. Die wirklich wichtige Frage sei vielleicht eher: «Warum – warum wollen manche Leute so gern in einer fiktiven Welt leben? Ich habe keine Antwort darauf. Aber manche von uns sind dort am glücklichsten.»

Zwei schwere Verluste

Sechs Monate nachdem der Geistesblitz sie im Zug getroffen hatte, starb Rowlings geliebte Mutter an multipler Sklerose. Der Kontakt zum Vater brach ab. Auch die Beziehung zu ihrem damaligen Freund, für den sie von London nach Manchester gezogen war, zerbrach.

Aus einer Laune heraus beschloss Rowling, nach Portugal zu ziehen und dort als Englischlehrerin zu arbeiten. «Es war erleichternd, nicht mehr von Bekanntem umgeben zu sein, aber ich trauerte noch immer», erzählt Rowling in einem Podcast. Als ein portugiesischer Journalist, «umwerfend schön», sagt sie im gleichen Podcast, sie in einer Bar angesprochen und auf ein Bier eingeladen habe, «war es schön, gewollt zu werden».

Die beiden wurden ein Paar, zogen zusammen, und Rowling wurde ungewollt schwanger. Der Mann machte ihr einen Heiratsantrag, doch noch vor der Hochzeit verlor Rowling ihr Kind. Ein erneuter Verlust.

Häusliche Gewalt und Flucht

Der einzige Trost nach der Fehlgeburt: «Ich dachte, dann heiraten wir jetzt also nicht.» Denn Rowling ahnte längst, dass diese Beziehung keine gute war. Doch der Mann machte Druck, Rowling ignorierte ihre Zweifel: Es wurde geheiratet, und bald darauf war sie wieder schwanger.

Noch vor der Geburt der Tochter begann die Gewalt. Der Mann habe sie missbraucht und bedroht, erzählt Rowling. Habe ihr den Schlüssel zum Haus weggenommen, damit sie es nicht ohne seine Zustimmung habe verlassen können. Habe ihre Handtasche durchsucht, wenn sie von der Arbeit nach Hause gekommen sei. Doch erst, als die Tochter geboren wurde, brachte sie den Mut auf, etwas zu ändern: «Ich wusste: Ich will nicht, dass meine Tochter aufwächst und lernt: Gewalt ist okay.»

Mit Kind und Koffer floh Rowling nach Edinburgh. Dort lebte sie von der Sozialhilfe, verfiel in eine tiefe Depression. Das einzig Gute damals sei ihre Tochter gewesen, sagte Rowling 2007 in die Dok-Film-Kamera. Und die fiktive Welt von Harry Potter, an der sie Tag für Tag schrieb. Ein Fluchtort, erst für die Autorin, später für Millionen von Lesern.

Rowling – die Gute

Interviews gab und gibt Rowling selten. Tut sie es doch, hört sich ihr Mund beim Sprechen oft trocken an, die Gesichtszüge sind angespannt. Sie selbst sagt, sie geniesse die Aufmerksamkeit nicht. Als 2007 das letzte «Harry Potter»-Buch erschien, lief dafür ein weltweiter Countdown. Eine Zigarette würde sie jetzt etwas beruhigen, sagte Rowling, die von einem Dokumentarfilmer an die Londoner Publikations-Party begleitet wurde. Ob sie eine dabeihabe, fragte der Filmer. Sie schüttelte den Kopf. Sie rauche entweder keine – oder vierzig am Tag. Ganz oder gar nicht.

Es hätte nun still werden können um Rowling. Doch im August 2009 trat sie Twitter bei – und fand in der digitalen Kurzform eine Art, in der Öffentlichkeit zu stehen, die ihr entsprach: Ohne aus dem efeubewachsenen schottischen Schloss, in dem sie mittlerweile wohnt, herauskommen zu müssen, konnte sie öffentlich sein.

Rowling war oft auf Twitter: witzige Tweets, kämpferische Parteinahme für Homosexuelle, Warnungen vor Donald Trump und dem Brexit, Lob für den Wohlfahrtsstaat, die westliche Tradition der Toleranz und immer wieder das Betonen dessen, wie wichtig die freie Meinungsäusserung sei. Die Fans belohnten das mit konstantem Applaus.

Dann kam das Jahr 2017.

Rowling – die Schlechte

Rowling recherchierte für einen Kriminalroman zur Transgender-Bewegung, stiess auf den Tweet zu einem kritischen Artikel darüber – und klickte «like». War das ein Versehen? Oder ist Rowling, die Gute, etwa transphob? Für einen Augenblick schien das Internet erstarrt. Dann tippte ein User: «Du bist Voldemord.»

Die Heldin von einst wurde wegen eines einzigen Klicks mit dem personifizierten Bösen ihrer Romane gleichgesetzt. Sie schwieg. Erst viel später wird sie schreiben, sie habe damals eigentlich einen Screenshot machen wollen, für ihre Romanrecherche, und habe unüberlegt «like» geklickt.

Ein Jahr später folgte der nächste Falschklick: ein Post, der Transfrauen als «Männer in Röcken» bezeichnet. Diesmal liess ihr Management verlauten, Rowling habe ihr Handy falsch gehalten, der Like also ein Fehler, keine Botschaft.

Auf Twitter tippt jemand «Fotze». Andere schreiben: «Mit deinem Like tötest du Transmenschen.» Ein Mann schrieb Rowling, er habe ihre Bücher aus Protest kompostiert. Andere, so erzählte sie es mehrmals, schicken ihr Vergewaltigungs- und Morddrohungen. Rowling schweigt erneut.

2022 sagte Rowling in einem Interview, als christliche Fundamentalisten um 2000 ihre Bücher als satanistisch verbrannten, habe sie das wütend gemacht. Die heftige Kritik aus der eigenen Fangemeinde dagegen, «das trifft dich ganz anders».

Rowlings Bücher brennen

Rowling ist ein Beispiel dafür, wie heftige Reaktionen im Internet Trotz auslösen können. Als die britische Forscherin Maya Forstater ihren Job verlor, weil sie auf Twitter unter anderem schrieb, zu sagen, «Transfrauen sind Frauen», sei wahnhaft, solidarisiert Rowling sich mit ihr. Kurz darauf teilt Rowling einen Artikel über «Menschen, die menstruieren» und fragt sarkastisch: «Gab es dafür nicht einmal ein Wort?»

Nun distanzieren sich bekannte Persönlichkeiten von ihr, unter ihnen auch viele Stars der «Harry Potter»-Filme. Während Rowlings ehemaliger Arbeitgeber Amnesty International demonstrativ twittert: «Transfrauen sind Frauen», rufen andere zum Boykott von allem auf, mit dem Rowling Geld verdient. Manche wollen verstehen, die meisten verurteilen.

«Wir leben in der frauenfeindlichsten Zeit, die ich je erlebt habe», schreibt Rowling 2020 in einem Essay, der ihren Fans alles erklären sollte. Vom damaligen Präsidenten Donald Trump bis zu den Trans-Aktivisten «scheinen sich die Männer des gesamten politischen Spektrums einig: Frauen sollen die Klappe halten.» Rowlings primäre Forderung: Transfrauen – für Rowling nicht nur, aber auch: Männer, die sich als Frauen ausgeben, um einfacher sexuelle Übergriffe verüben zu können – dürfen keinen Zugang zu Frauenräumen wie Toiletten, Umkleidekabinen, Frauenhäusern, aber auch Sportwettkämpfen erhalten.

Als Antwort darauf verbrennen nun Trans-Aktivisten die «Harry Potter»-Bücher, die ihnen einst so viel bedeutet haben, und stellen Videos davon online. Die schottische Polizei informiert Rowling darüber, dass Sicherheitsmassnahmen getroffen werden müssten, weil Gefahr für ihr Leben und das ihrer Familie bestehe.

Wie ihre Heldinnen von damals

Vor dem Hass im Internet fand Rowling Zuflucht bei anderen als TERF bezeichneten Frauen. Mit einigen von ihnen hat sie ein Buch publiziert über «Frauen, die nicht schweigen wollen». Die Autorinnen: «Problematische, schottische Frauen», schreibt Rowling stolz in einem Gastbeitrag für die «Times». Die Solidarität und der Zusammenhalt unter diesen Frauen sei etwas vom Schönsten, was sie je erlebt habe.

In diesen Frauen – und vor allem bei sich selbst – macht Rowling den gleichen Mut im Kampf gegen Gewalt an Frauen aus wie bei den Feministinnen, die sie als Zwölfjährige bewundert hat. Und im Trans-Aktivismus scheint sie mittlerweile ein ähnliches, lauerndes Gefahrenpotential auszumachen, wie es einst vom Yorkshire Ripper ausging. Dass Transmenschen eine kleine und verletzliche Minderheit sind, kümmert sie mittlerweile nicht mehr.

Heute scheint für sie auf das Trans-Thema zuzutreffen, was Rowling einst etwas trotzig über Fan-Interpretation ihrer Bücher sagte: «Ich will, dass meine Version davon die offizielle Version ist. Es ist meine Welt.»

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