Mittwoch, Januar 15

Illustration Simon Tanner / NZZ, Quellen Keystone

In einem Café in einer deutschen Kleinstadt im Osten, ein paar Stunden südlich von Berlin, sitzt ein junger Mann, der von seinen Landsleuten gesucht wird.

Witold ist 35 Jahre alt und einer von mehreren hunderttausend ukrainischen Männern im Ausland. In der Ukraine gelten sie vielen als Deserteure.

Witold hat die Ukraine bereits vor sieben Jahren verlassen, in Deutschland arbeitet er für eine Technologiefirma. Er hat hier eine Freundin, ein Leben in Sicherheit.

Witold hat mir sofort das Du angeboten. Wir sind fast gleich alt, zwei junge Männer in Europa, beide haben keinerlei militärische Erfahrung, aber einer von uns muss sich seit zwei Jahren eine Frage stellen, die über Leben und Tod entscheidet: Soll er in sein Land zurückkehren, um zu kämpfen? Ja, ist es seine Pflicht?

Als am 24. Februar 2022 die Russen die Ukraine überfielen, kam Witold zum Schluss, dass er im Krieg sofort sterben würde. Und dass er nützlicher wäre, wenn er von Berlin aus Geld schicken würde.

Aber der Krieg geht nun in das dritte Jahr, und die Frage, ob Witold das Richtige tue, verschwindet nicht. Vor wenigen Wochen hat der ukrainische Präsident Selenski im deutschen Fernsehen an die Auslandukrainer appelliert, dass sie zurückkehren möchten. Die Verluste an der Front sind hoch, die Soldaten erschöpft. Männer wie Witold gehören für viele Ukrainer in die Schützengräben im Osten. In Deutschland wurde sogar kurz erwogen, ob man die jungen wehrfähigen Männer per Gesetz zurückschicken könnte. An die Front. In den möglichen Tod.

Witold will mit mir darüber reden. Er wird auch mich fragen, was ich an seiner Stelle tun würde. Seinen Namen soll ich ändern. Es ist für die Auslandukrainer ein schwieriges Thema: zurückkehren, kämpfen und womöglich sterben? Oder in Sicherheit bleiben und leben? Und wie würde sich das anfühlen, wenn man überlebte, aber die Ukraine gefallen wäre?

Du sitzt hier in Sicherheit in Deutschland und siehst Bilder von Raketeneinschläge in deiner Heimat – wie fühlt sich das an?

Es ist ein schweres Gefühl, wie soll ich das beschreiben? Vielleicht wie ein Schmerz? Es macht mir bewusst, dass jemand anders den Preis bezahlt für meine Sicherheit. Dass es dort Menschen gibt, die mit ihrem Blut, ihren Körpern bezahlen, damit ich sicher bin. Ich fühle mich dann auch dankbar. Aber es ist ein schweres Gefühl im Magen.

Ist das Schuld?

Nein, das würde ich nicht sagen. Ich würde mich schuldig fühlen, wenn ich überzeugt wäre, dass ich etwas tun könnte.

Das glaubst du nicht?

Ich kann nicht einmal mit einem Gewehr schiessen. Vielleicht gerade noch eine Pistole halten.

Man kann alles lernen.

Gleich zu Kriegsbeginn, vor zwei Jahren, wollte ich mich melden. Ich schrieb mit einem Freund auf Telegram, der ist im Militär. Er sagte mir: «Witold, schau dich an, du hast keinerlei militärische Erfahrung. Wenn du dich meldest, geben wir dir ein Gewehr, eine Weste, und dann wirst du von einem Baum zum nächsten rennen, und jemand wird dich erschiessen. Das wird dein Beitrag gewesen sein. Nice job, danke vielmals.»

Aber die Frage, ob du dich bei der Armee melden sollst, geht nicht weg. Selenski hat gerade im deutschen Fernsehen an die Ukrainer appelliert, dass sie zurückkehren möchten.

Ja, aber Selenski ist ein Politiker. Er sagt das auch für ein europäisches Publikum. Damit die Europäer sehen: Ah, die Ukraine meint es ernst, sie rekrutieren wirklich.

Das klingt etwas wie eine Ausrede für mich.

Vielleicht. Ich sage: Wenn ich einen Brief erhalte, mit dem mich die Armee zur Aushebung aufbietet, kehre ich in die Ukraine zurück. Ich renne dann nicht davon.

Aber du sitzt hier in Deutschland und weisst, dass die Armee solche Briefe nicht verschickt.

Momentan nicht, aber das kann sich ändern.

Wie stellst du dir vor, wie es sein wird, wenn du ein Aufgebot erhältst?

Es ist unheimlich. Der Prozess ist nicht transparent. Wir wissen nicht, was passieren wird, wenn wir uns melden. Wo wir hingeschickt werden. Ob wir überhaupt Training erhalten. Ich habe Angst, dass man uns einfach ein Gewehr und eine Weste gibt und ohne Training an die Front schickt. Ich werde mit hundertprozentiger Sicherheit sterben. Als einer der Ersten. Ich weiss ja nicht einmal, wie ich mich in einem Schützengraben bewegen soll. Aber wenn klar wäre, dass wir gut ausgebildet werden – das wäre etwas anderes.

Du hast keinerlei militärische Erfahrung, dein Freund im Militär riet dir davon ab, in die Armee zu gehen, aber du sagst, wenn du rekrutiert wirst, gehst du zurück. Zugleich weisst du aber auch, dass du in Deutschland momentan relativ sicher bist. Wie passt das zusammen?

Ich weiss, dass das widersprüchlich ist. Ich will eigentlich nicht kämpfen, ich habe Angst. Aber ich weiss auch, dass man manchmal etwas tun muss. 2014 hatten wir die Revolution auf dem Maidan. Ich ging auf die Strasse, um gegen das prorussische Regime des damaligen Präsidenten zu protestieren. Ich hatte mich zuvor nicht für Politik interessiert. Aber damals lernte ich, dass ich nicht einfach zu Hause bleiben kann, wenn ich frei sein will.

Das verstehe ich gut. Aber es ist ein grosser Schritt vom Demonstranten zum Soldaten.

Natürlich. Aber du kannst nicht sagen, ich gehe zwar auf die Strasse, um für meine Rechte als freier Bürger zu protestieren. Aber wenn mein Nachbarland mich angreift und meine Kultur auslöschen will, dann geht mich das nichts an. Das geht irgendwie nicht auf.

Du bist ein Patriot.

Nein, überhaupt nicht. Auch die meisten meiner Bekannten, die kämpfen, kämpfen nicht aus einer patriotischen Pflicht. Ich habe mir das folgendermassen überlegt: Ich will nicht für die Ukraine sterben, aber ich will irgendwann wieder in der Ukraine leben können. Und das heisst, ich muss dafür sorgen, dass es die Ukraine auch gibt.

Das klingt immer noch nach Patriotismus.

Du betrachtest das zu abstrakt. Denk nicht an die Schweiz. Frage dich, was es heisst, wenn deine Familie, dein Haus, deine Frau in der Nacht angegriffen werden. Was tust du dann? Wirst du dann sagen, «ok, so ist es nun halt, meine Eltern sind von einer Rakete ausgelöscht worden, meine Frau vergewaltigt, lasst mich weiterleben»?

Ich sage jetzt mal Nein, aber es fällt mir natürlich leicht, die Frage so hypothetisch zu beantworten.

Hast du von dem Ukrainer gehört, der einkaufen ging, und währenddessen schlug eine Rakete in sein Haus ein? Als er zurückkam, waren seine Frau und seine Tochter tot. Er ging zur Armee.

Deine Eltern leben noch in Odessa, wo du aufgewachsen bist. Willst du damit sagen, dass du einfach Glück hattest, dass bis jetzt niemand von ihnen angegriffen worden ist?

Vielleicht. Man könnte auch sagen, dass ich Glück hatte, dass ich gar nicht im Land war, als die Invasion begann. Aber das wäre auch zu einfach.

Du bist vor sieben Jahren ausgewandert und schliesslich in Berlin gelandet. Dort warst du auch, als der Krieg begann. Hat dich der Krieg mehr überrascht als die Menschen, die in der Ukraine lebten?

Als ich nach Berlin zog, hatte ich einer Freundin gesagt: «Komm auch nach Berlin, du kannst bei mir übernachten, wir können Party machen.» Sie sagte: «Ja, cool, klingt gut, machen wir – wenn der Krieg dann noch nicht angefangen hat.» Ich sagte: «Welcher Krieg?» Und sie sagte: «Check the news.» Das war im Sommer, etwa ein halbes Jahr vor Kriegsanfang. Ich begann dann die News zu beobachten und sah, wie die Russen ihre Soldaten an der Grenze sammelten. Dann schrieb ich Freunden in Russland.

Hast du viele Freunde dort?

Ein paar. Ein Freund ist im Militär, wir haben die letzten 15 Jahre online das Rollenspiel World of Warcraft gespielt. Und dann habe ich einige russische Freunde, die Ärzte sind. Sie sagten mir: «Die Sache hier stinkt», das sei nicht nur eine Militärübung. Viele Kollegen hätten ein Aufgebot von der Armee erhalten. Das sei unüblich. Wofür brauche man so viele Ärzte und Pfleger, wenn man nur übe? Der Freund, der Offizier ist, erzählte mir, sie würden üben, wie man eine Grenze infiltriert. Das sei neu. Ich machte Witze. «Vielleicht überfallt ihr Finnland.» Er sagte: «Das sind schlechte Witze, hör auf.» Das war im Januar. Dann sagte Selenski, «don’t be afraid». Das war beunruhigend. Und ich wurde angespannt. Ich wusste, etwas wird passieren. Dann rief mich meine Mutter um 4 Uhr morgens an. Sie weinte. «Der Krieg hat begonnen!»

Wie schnell kam die Frage in dir auf: Muss ich nun zurück? Soll ich mich bei der Armee melden?

Die Frage war sofort da. Generäle und Politiker sagten in Videos im Internet und im Fernsehen: «Jetzt müsst ihr entscheiden, wer ihr seid: Wollt ihr Flüchtlinge sein – oder Ukrainer?»

Wer floh, war also kein Ukrainer mehr?

Sie sagten das nicht so hart, aber so klang es. Sie sagten, «wir verstehen, dass ihr Angst habt. Aber ihr müsst jetzt entscheiden, wer ihr seid.»

Was ging dir durch den Kopf?

Wenn du Militärs sagen hörst: «Wir brauchen mehr Leute, neue Leute.» Da verstehst du sofort: Sie brauchen die Leute, weil die anderen gestorben sind.

Wie bewusst war dir, was Krieg bedeutet?

Stell dir vor, du erhältst Nachrichten von Freunden: «Erinnerst du dich an XY? Er ist tot. Erinnerst du dich an Z? Er ist gefallen.» Inzwischen sind es sicher zwölf solche Nachrichten von Freunden, die ich kannte. Und weitere von Leuten, die ich nicht so richtig gekannt habe. Ich fürchte mich vor den Nachrichten, die ich gar nicht erhalten habe. Keiner meiner engsten Freunde ist zum Glück in der Armee. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Viele meiner Freunde haben das Land verlassen.

Sie sind also in der Logik der Generäle keine Ukrainer mehr.

Sie schicken Spenden aus dem Ausland. Das mache ich auch.

Wie fühlt sich das an?

Wie ein schlechter Vater, der den Kindern Geld schickt, weil er kein Vater sein kann.

Hast du Angst?

Natürlich, ich habe Angst, dass ich sterbe, wenn ich mich melde. Jeder hat diese Angst, glaube ich.

Es gibt Soldaten, es gibt die Freiwilligen, die sich gleich gemeldet haben – glaubst du, diese Männer haben weniger Angst vor dem Tod als du?

Nein, das glaube ich nicht. Auch sie haben Angst. Aber je länger du in dieser Situation bist, desto weniger nimmst du die Angst wahr. Irgendwann gewöhnt man sich an alle Gefühle.

Schämst du dich?

Manchmal . . .

Du zögerst.

Ich bin gesund, ich bin 35 Jahre alt, ich bin nicht dumm. Ich kann verstehen, wie man schiesst, ich kann das lernen, ich habe nicht die schlimmste Körperform, ich arbeite in der IT, das kann man in der Armee gut brauchen, in diesem neuen Krieg mit den Drohnen. Ja, ich schäme mich.

Die Angst ist stärker.

Niemand kann mir garantieren, dass ich nicht sofort sterben werde. Auch wenn du 45 Kilometer von der Front entfernt stationiert bist, kann dich jede Sekunde ein Artilleriegeschoss treffen. Oder eine Rakete. Sogar wenn du in der Ukraine in einer Stadt 600 Kilometer von der Front entfernt in einer Wohnung sitzt, kann jederzeit eine Rakete einschlagen.

Wie gehst du mit dieser Scham um?

Phu. Ich kann nichts damit anfangen. Ich versuche einfach, damit zu leben. Was soll ich damit tun? Was würdest du damit tun?

Keine Ahnung, ich bin nicht in dieser Situation.

Genau, niemand kann im Voraus mit Sicherheit sagen, wie er sich verhalten würde. Ich versuche seit zwei Jahren eine Antwort darauf zu finden. Auf der einen Seite habe ich diese riesige Angst und die Scham. Und auf der anderen Seite verstehe ich: Es braucht mich, sie brauchen mich, da warten Leute im Schützengraben darauf, dass sie abgelöst werden, ich müsste gehen. Und ich frage mich: Auf welcher Seite der Waage wird das Gewicht schwerer?

Du sagst, die Frage, ob du dich der Armee anschliesst, entscheide darüber, wer du bist. Wer bist du denn jetzt?

Ich weiss es nicht. Ich habe darauf jetzt keine Antwort mehr. Ich kann sagen: Ok, ich verstehe, wenn jemand sagt: «Du bist kein Ukrainer, wenn du nicht für die Ukraine kämpfst.» Aber natürlich bin ich immer noch Ukrainer. Nicht weil ich den Pass habe. Ich fühle das einfach in mir drin. Und das heisst, irgendwann werde ich zurückkehren. Und ich frage mich die ganze Zeit: Wenn der Krieg irgendwann endet, ich nach Hause gehe, und sei es nur zu Besuch, wie wird das sein?

Was stellst du dir vor?

Da sind diese Männer und Frauen, die ein Bein oder einen Fuss amputiert haben oder einen Arm. Ich stelle mir vor, wie ich ihnen in die Augen blicke und sage: «Ich war in Europa und habe gespendet, ich habe für euch gespendet, auch für dich.»

Das fühlt sich nicht gut an.

Ich habe Angst, was sie antworten werden. «Danke, du bist so toll, dass du gespendet hast, während wir unser Leben geopfert haben. Du bist wirklich ein ganz toller Mensch.»

Du hast Angst vor diesem Moment.

Ja. Deshalb habe ich keine Antwort darauf, wer ich nun bin. Es tut mir leid. Ich weiss es nicht.

Das ist auch eine Antwort. Würdest du sagen, du bist grundsätzlich ein mutiger Mensch?

Hahaha. Wie kannst du mir diese Frage stellen? Wie soll ich darauf antworten? Ich sitze hier in Deutschland in Sicherheit.

Ich halte mich zum Beispiel durchaus für einigermassen mutig. Und zugleich muss ich zugegeben, dass ich wohl kaum in den Krieg ziehen würde.

Man kann mutig sein in einer bestimmten Situation. Und dann ist man auch in der nächsten. Situation noch mutig. Und plötzlich kommt eine Situation, die du nicht mehr aushältst – und du rennst davon. Du warst ein mutiger Mensch, bis zu jenem Moment.

Du hast gesagt, wenn sie nun ein Aufgebot schicken, dann kehrst du zurück. Fühlst du dich schwach, weil du es nicht schaffst, die Entscheidung selbst zu fällen?

Dieses Gefühl auszuhalten, ist das Schwierigste. Sobald ich gegangen bin, wird es einfacher. Dann folgt alles Schritt auf Schritt. Aber jetzt frage ich mich die ganze Zeit: Soll ich gehen, oder soll ich nicht gehen? Und ich sage mir, dass ich hier ein Leben habe, eine Freundin habe, eine Arbeit habe. Und dass ich nützlicher bin, wenn ich Geld verdiene und das Geld der Armee spende. Und trotzdem bin ich womöglich nicht der nützlichste Teil der ukrainischen Verteidigung.

Fühlst du dich nutzlos?

Ich kann diese Frage nicht beantworten. Wie soll ich das wissen? Wie nützlich werde ich in einem Schützengraben sein? Womit soll ich es vergleichen? Mit meinem Job hier bei einer Firma, die Online-Spiele produziert?

Fühlst du dich weniger männlich als die ukrainischen Soldaten?

Nein, das spielt keine Rolle. Meine Würde als Mann, meine Männlichkeit hängt nicht davon ab, ob ich ein Maschinengewehr in der Hand halte. Männlich finde ich, in einer schwierigen Situation eine schwierige Entscheidung verantwortlich zu treffen. Vor zwei Jahren habe ich entschieden, dass ich hier bleibe. Auch das war eine schwierige Entscheidung. In dem Sinn bin ich ein Mann.

Du hast deiner Freundin gesagt, dass du gehen wirst, wenn sie dich rekrutieren.

Sie sagte, wenn ich das mache, «schneide ich dir dein Bein ab». Sie ist auch Ukrainerin. Sie hat Angst. Wir sind alle nicht romantisch, wenn es um den Krieg geht. Der Krieg ist der letzte Ort, wo du sein willst. Es geht nicht um Mut. Es geht um Dreck, um Blut, den Tod. Ums Erfrieren.

Du willst, dass ich deinen Namen ändere, wieso?

Ich glaube, es geht vielen so wie mir. Ich fühle mich nicht speziell. Und es ist ein schwieriges Thema in der Ukraine. Wir reden nicht darüber. Und hier im Ausland schämen wir uns. Ja, wir machen etwas, wir schicken Geld. Aber dann heisst es in der Ukraine: «Toll, damit können wir Munition kaufen, aber wer benutzt diese Munition, wenn ihr nicht zurückkommt?»

In Deutschland hat man sich ja vor kurzem gefragt, ob man die Flüchtlinge zurückschicken sollte, wenn die Ukraine die Soldaten braucht und das verlangt.

Eine grosse Frage. Wenn ich schon Jahre vor dem Krieg im Ausland gelebt habe, wieso sollte ich jetzt zurück? Ich hatte meine Gründe, das Land zu verlassen. Mein Alltag ist nur sehr entfernt mit der Ukraine verknüpft.

Machst du noch Pläne für die Zukunft?

Covid stahl unsere Zukunftspläne. Dann schien es, als ob alles wieder normal würde. Und für euch wurde es das auch. Und für uns kam der Krieg. In meinen Kreisen macht niemand mehr Pläne, die weiter als ein, zwei Wochen in die Zukunft reichen.

Findest du uns Europäer naiv?

Ich kann nur für mich reden. Ich glaube, der Krieg in der Ukraine ist nur der Anfang. Wenn Putin gewinnt, selbst wenn es einfach einen Waffenstillstand gibt und er Land dazugewinnt, wird er nicht aufhören. Und wir müssen uns vorbereiten. Und jetzt genau in dem Moment geben uns ukrainische Männer und Frauen die Zeit, damit wir uns vorbereiten können. Und wenn wir einfach weiterleben so wie jetzt, ohne Vorbereitung, werden wir vom Krieg überrascht wie die Ukraine am 24. Februar.

Hast du das Gefühl, wir verschwenden die Zeit, die uns die Ukraine gibt?

Ja, ja. Das wird sich rächen. Wir werden alle überrascht sein. Vielleicht liege ich falsch. Ich hoffe, dass ich falschliege.

Wenn die Ukraine verlieren würde, und du wärst hier – und hättest überlebt . . .

Das ist ein sehr schwieriges Thema.

Verdrängst du es?

Nein, es ist wichtig, ich habe es versucht mir vorzustellen. Was wäre dann dort, wo die Ukraine war? Aber ich habe gemerkt, es spielt gar keine Rolle, wie ich mich fühle. Wenn die Ukraine verliert, dann kommt der Krieg hierher. Es geht dann weiter, nicht im gleichen Jahr, aber nach ein paar Jahren. Ich werde keine Zeit haben, mir Gedanken zu machen, wie es mir geht. Wenn die Ukraine verliert, heisst das für jeden hier: Geh irgendwohin und lerne, zu schiessen, Leute zu verarzten, Drohnen zu fliegen.

Bereitest du dich darauf vor?

Ich schaue viele Videos, über Notfallmedizin, wie man Drohnen manipuliert, dafür habe ich eine Software heruntergeladen. Auch Videos auf Youtube, die erklären, wie man Artilleriegeschosse berechnet.

Du stellst dir vor, Soldat zu sein.

Ich weiss, dass es heisst, nur im Moment zu leben. Du denkst nicht an morgen, es geht nur darum, wie du den Tag überlebst. So stelle ich mir das vor. Nichts spielt mehr eine Rolle, Steuern, Ferienpläne.

Wovor hast du am meisten Angst?

Davor, zu erfrieren. Und ans Bett gebunden zu sein. Dass sie mich so verwunden, dass ich für den Rest meines Lebens ein Pflegefall wäre.

Bist du wütend auf das Leben, dass du in einer solchen Situation steckst?

Ich bin auf niemanden wütend. Aber ich bin enttäuscht. Von den Russen. Ich hatte geglaubt, dass sie anders sind. Weil ich Freunde dort habe, auch hier in Berlin russische Freunde habe. Und jetzt habe ich gelernt, dass fast alle guten Russen eben nicht mehr in Russland leben. Dass sie Russland verlassen haben. Schaust du Chatrouletska?

Chatroulette, dieser Video-Chat, bei dem man sich einloggt und dann zufällig einem anderen Video-Chat zugeteilt wird?

Genau, wir Ukrainer haben uns dort viel rumgetrieben, um mit Russen ungehindert über den Krieg zu reden. Ich habe zugeschaut. Und es ist hoffnungslos. 95 Prozent der Russen sitzen einfach vor dem Computer und schreien in die Kamera: «Russland ist das beste Land der Welt.» Der Ukrainer fragt: «Wieso?» «Weil es das grösste Land ist.» Es ist lächerlich.

Redest du mit deinen Freunden darüber, ob sie zurückkehren werden?

Ich frage sie nicht, was sie tun würden, wenn sie ein Aufgebot erhalten, falls du das meinst.

Wieso?

Sie sind geflohen, als der Krieg kam. Vielleicht war das schon ihre Antwort auf die Frage.

Aber das kann sich ja ändern.

Jeder, der kämpfen will, könnte ja zurückgehen.

Aber ist das nicht komisch, die Frage ist ja da, du denkst darüber nach. Und du gehst ja auch nicht zurück, sagst aber, wenn ein Aufgebot käme, würdest du gehen.

Du hast recht. Das klingt jetzt merkwürdig: Aber ich will ihre Antwort nicht hören.

Wovor fürchtest du dich?

Dass sie sagen: «Wenn wir ein Aufgebot erhalten, werden wir nicht gehen.»

Weil du dann den Respekt verlieren würdest?

Nein, es geht nicht um Respekt. Aber es würde verändern, wie ich sie sehe. Ich würde verstehen, dass sie Angst haben. Sie wären immer noch meine Freunde. Aber jetzt sage ich mir: Wenn ich das mache, dann würden sie dasselbe tun. Und ich will nicht, dass diese Vorstellung zerbricht.

Was würde das ändern?

Stell dir vor, du läufst nachts nach Hause zu dritt. Und dann kommt jemand und greift dich an. Und ein Freund hilft dir. Aber ein anderer rennt davon. Was wirst du über diesen Freund denken?

Dass er ein Feigling ist?

Genau. Aber er ist zugleich immer noch ein guter Mensch. Du wirst ihn wieder treffen. Er tut viele gute Dinge. Du magst ihn. Aber er ist halt etwas feige. Soll ich ihn jetzt wegen dieses Abends verurteilen? Davor habe ich Angst. Es geht nicht um Respekt. Es geht um meine Erwartungen. Hast du jemals mit jemandem gekämpft?

Ja, einmal, aber er hat mir einen Schneeball aus einem Meter Entfernung ins Gesicht geworfen, und ich habe ihm eine reingehauen. Auf dem Pausenplatz.

Ich wuchs in einem toughen Viertel von Odessa auf. Wir kämpften viel. Für uns war es etwas Grosses, dass deine Freunde dich nicht im Stich lassen. Das gilt heute noch. Meine Freunde von damals werden sich anschliessen, falls ich mich melde.

Das hoffst du.

Wenn ich sage, «ich gehe kämpfen», hoffe ich, dass einer meiner Freunde, der jetzt gerade in den USA oder in Zypern oder in Spanien sitzt, sich anschliessen würde.

Wenn einer dieser Freunde dir jetzt schreiben würde, er gehe zur Armee, würdest du ihn dann begleiten?

Ich habe gerade mit einem Freund darüber geredet. Wenn er sich meldet, gehe ich auch. Das habe ich ihm gesagt.

Du bist sicher?

Ja. (Lange Pause.) Wie ich gesagt habe: Du kannst da nicht weg. Wenn dein Freund angegriffen wird, stehst du ihm bei.

Ich will nicht unhöflich sein, aber entschuldige bitte, das ist doch dumm.

Absolut, absolut. Das ist einhundert Prozent dumm.

Ich verstehe ja die Loyalität, aber es geht nicht um einen Pausenplatzstreit. Und du hast es bis jetzt geschafft, zu überleben, und hast entschieden, dass du hier nützlicher bist als dort. Und jetzt entscheidet sich ein Freund von dir, zur Armee zu gehen, möglicherweise zu sterben, und das ändert bei dir alles.

Er wurde rekrutiert. Er hatte keine Wahl. Ich will ihn unterstützen. Und ihm einen Helm zuschicken, das ist kein Support. Sondern jeden Tag mit ihm das durchzustehen, das macht man als Freund dann.

Das heisst, du hattest bis jetzt einfach Glück, dass keiner deiner Freund rekrutiert wurde.

Ja. Ich hatte Glück, dass nur zwei meiner Freunde in der Ukraine leben.

Was vermisst du?

Ich habe so viele Erinnerungen. Ich vermisse die Möglichkeit, einfach dorthin zu gehen und Freunde und Familie zu treffen. Wenn du mich vor zwei, drei Jahren gefragt hättest, ob ich in die Ukraine zurückkehren wolle, hätte ich gesagt: «Nein, mein Leben ist gut in Europa. Und ich kann ja jederzeit zurück.» Jetzt geht das nicht mehr.

Du könntest jederzeit gehen.

Nicht einfach so. Das Leben entscheidet es für mich. Wenn die Armee ruft, kann ich gehen.

Du hättest jetzt Angst, dass du dann zwangsrekrutiert wirst.

Das ist es nicht. Wenn ich jetzt zurückgehe – ich weiss gar nicht, wie ich mit meinen Leuten dort reden soll. Wir haben uns verändert.

Wie genau?

In der Ukraine glauben sie, Männer wie ich sind Feiglinge. Und was soll ich sagen: dass sie falsch lägen, weil ich doch Geld schicke? Oder dass sie recht hätten, weil ich mich ja schäme?

Gibt es etwas, das dir hilft, im Alltag die Frage zu verdrängen?

Arbeit. Oder Filme und Serien schauen. Aber es geht nie zu hundert Prozent weg. Sobald ich lache oder mich glücklich fühle, geht es nur wenige Sekunden, und der Gedanke schiesst wie ein Blitz in den Kopf: Shit, ich kann so glücklich sein, nur weil jemand anders gerade im Schützengraben sitzt.

Exit mobile version