Montag, Oktober 7

In ihrem Roman «Glück» erzählt Jackie Thomae von zwei erfolgreichen Frauen, die ihre Hoffnungen auf Kinder schwinden sehen. Bis sich ein Ausweg öffnet, von dem man nicht weiss, ist er Himmel oder Hölle.

Berlin-Mitte oder Prenzlauer Berg – das sind jene Berliner Stadtteile, in denen mit Vorliebe jüngere Familien mit ökologisch einwandfreiem Bewusstsein und richtiger politischer Gesinnung wohnen. Es sind, wenn wir weiterhin die Romanliteratur der letzten fünfundzwanzig Jahre als Anschauung nehmen, jene Stadtteile, wo man Probleme ausgiebig diskutiert, für die man in prekären Vierteln nur ein Achselzucken übrig hätte.

Jackie Thomae scheut sich in ihrem dritten Roman nicht, sich in diese klischeebeladenen Regionen aufzumachen und ihre Figuren mit all dem zu konfrontieren, was sich leicht mit Sarkasmus überziehen liesse. So treffen wir in «Glück» unweigerlich auf Lastenfahrräder, auf Croissantkäufer, die sich nicht in gewöhnlichen Bäckereien, sondern in Brotmanufakturen versorgen, und auf eine «Zombiearmee des Lifestyle of Health and Sustainability», der es vor allem um «spassbefreite Richtigmacherei» geht.

Thomaes Protagonistinnen entstammen zudem Milieus, die nicht als repräsentativ gelten dürfen. Marie-Claire Sturm ist eine angesehene Rundfunkmoderatorin, die der Versuchung widerstanden hat, mit peinlichen TV-Formaten ihre Fernsehkarriere zu beflügeln. Anahita Martini hingegen hat es, nachdem sie als Lehrerin nicht zurechtkam und seitdem einen weiten Bogen um Jugendliche macht, als Politikerin weit gebracht: Sie ist Senatorin für Bildung, Jugend und Familie und kandidiert für das Europäische Parlament. Beide sind Ende dreissig und schlagen sich als kinderlose Singles durch ihr eng getaktetes Leben.

Rennen gegen die biologische Uhr

Jackie Thomae hat, der erste Schein trügt, trotz ihrer Fähigkeit, Paradoxien der grossstädtischen Alltagsbewältigung blosszustellen, keinen weiteren Berlin-Roman geschrieben. Vielmehr zeigt der Roman Frauen in einem Lebensalter, das ihnen, wenn sie Kinder bekommen wollen, unweigerlich eine Entscheidung abverlangt. Die Möglichkeiten, einen zum Kindsvater taugenden Partner zu finden, werden, wie Marie-Claire räsoniert, «aufgrund des Verfallsdatums» geringer, und auf Mitleid dürfen kinderlose Frauen, die es beruflich zu etwas gebracht haben, nicht hoffen.

Wie weiterleben, wenn die biologische Uhr immer lauter tickt, wenn Frauen anders als die bis ins hohe Alter zeugungsfähigen Männer Zeitdruck spüren, das Wort «Risikoschwangerschaft» über ihnen kreist und sie über alle möglichen Methoden nachdenken, doch noch Mutter zu werden? Alle diese Themen – inklusive der gesellschaftlichen Gendergaps – verhandelt Jackie Thomae und entgeht glücklicherweise der Gefahr, daraus eine als Roman getarnte Streitschrift zu machen.

«Glück» ist in seinen besten Passagen ein kluges, unterhaltsames Buch, das zwar Ungerechtigkeiten jeder Art zur Sprache bringt, aber seine weiblichen Figuren – Männer spielen nur Nebenrollen – in ihrer Unsicherheit und Fehlbarkeit zeigt. Und nicht zuletzt brilliert der Text, wenn er stilistisch elegant und dialogstark hinter die Medien- und Politikkulissen blickt. Anahitas Alltag etwa besteht daraus, die Fallstricke des Wahlkampfs zu meiden und jedes Wort abzuwägen.

Als sie in einer Talkshow dann doch einmal dezidiert bekräftigt, «man kann doch nicht für jedes private Unglück die Politik verantwortlich machen», weiss sie sofort, aus welcher Ecke sie einen Shitstorm zu erwarten hat. Immerhin erfreuen sich Journalisten daran, dass Anahita ihre Karriere, aufgehübscht mit «Details zur Härte des Aufstiegs», als vorbildliche Migrationsgeschichte erzählt.

Ausblick in die Zukunft

Jackie Thomae hat mit «Glück» einen Roman voller Abschweifungen geschrieben und breitet darin lustvoll die unterschiedlichsten Szenarien und Schauplätze aus. So tauchen wir in Anahitas Familie ein, die rund um ihren umtriebigen Bruder Reza und seine Frau Lydia opulente Feste feiert. Oder wir erleben Marie-Claires Grossmutter und ihre Zwillingsschwester, die als «tagende Jury» ihre Mitmenschen ohne Unterlass mit eindeutigen Kommentaren versehen.

Nicht zuletzt lässt es sich Jackie Thomae nicht nehmen, Marie-Claire zu einem exklusiven, von einer Freundin organisierten Workshop-Retreat am Mittelmeer zu schicken. Dort geht es natürlich um «unerfüllte Kinderwünsche» und um fundamentale Atemtechniken wie «Embodied Breath» oder «Psychotropic Breath», die gegen Bezahlung erklecklicher Summen erlernt werden können: «Die Leute waren verrückt danach, unter Anleitung das zu tun, was sie jeden Augenblick ihres gesamten Lebens sowieso taten, atmen.»

Das alles ist, keine Frage, süffig und mit Witz erzählt und weist aber auch Längen und eine Überzahl von Nebenfiguren auf. Doch alle diese Wege und Irrwege münden in den zweiten Teil des Romans, der – je nach Lesart – utopische oder dystopische Züge annimmt. Etwa drei Jahre sind vergangen. Auf einem Wissenschaftskongress, an dem Marie-Claires erfahrene Ärztin Henriette Nonnenmacher (Achtung: sprechender Name) teilnimmt, wird eine revolutionäre Entwicklung vorgestellt, um Frauen mit spätem Kinderwunsch aus ihrem Dilemma zu befreien.

Der Alterungsforschung nämlich ist es gelungen, die Menopause zu einem historisch überholten Phänomen zu machen und ein Medikament, die neue Pille, zu präsentieren, das die «Aufrechterhaltung der Fähigkeit, schwanger zu werden», verspricht. Ambeth heisst dieses nach einer keltischen Göttin der Fruchtbarkeit benannte Zaubermittel, das es Frauen erlaubt, Zeit zu gewinnen und das «fehlerhafte Konstrukt» ihres Körpers zu beheben. Marie-Claire erhält das Mittel, als von ihrer Ärztin überwachte Testperson.

«Glück» schliesst leider nicht mit diesen zwiespältig-unheimlichen Kongressergebnissen. Stattdessen erfährt man auch noch von Rebekka, Marie-Claires Schwester, dass sie ihren Freund in die Wüste schickt, oder von der Affäre, die die frischgebackene EU-Abgeordnete Anahita mit einem verheirateten Kollegen eingeht. Ach ja, dann hat dieser Roman überdies einen märchenhaften Epilog, der mit dem Wort «Glück» endet. Das wäre definitiv nicht nötig gewesen.

Jackie Thomae: Glück. Roman. Claassen-Verlag, Berlin 2024. 432 S., Fr. 36.90.

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