Donnerstag, Oktober 3

Strenge Lärmschutzvorgaben blockieren etliche Grossprojekte. Eine Lockerung zeichnet sich ab. Doch jetzt gibt es Fragezeichen.

3000 geplante Wohnungen sind durch eine strenge Auslegung der Lärmschutzvorgaben blockiert – alleine in der Stadt Zürich. Diese Zahl hatte Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) letzten Herbst bei den Anhörungen im Ständerat genannt. Der Stadtrat hat jahrelang hinter den Kulissen für eine Gesetzesänderung geweibelt.

Nun, da eine Lösung in greifbarer Nähe liegt, überlegt es sich der Stadtrat mit einem Mal anders.

Der Hochbauvorsteher André Odermatt (SP) sagte am Montag im Interview mit der NZZ, leider habe «das Bundesparlament das Fuder überladen» und den Lärmschutz geschwächt. «Darum können wir als Stadtrat nicht mehr hinter dieser Lösung stehen.»

Noch ist das Geschäft in den eidgenössischen Räten nicht abgeschlossen. Sollte es aber bei der gegenwärtigen Stossrichtung bleiben, droht ein Referendum.

Setzt sich dann die Empfehlung des Stadtrats durch, ändert sich nichts beim Bauen an lauten Lagen. Dann bleiben zahlreiche grosse Wohnprojekte blockiert. Auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus.

Und dies, obwohl der Mangel an Wohnungen eines der drängendsten politischen Probleme in der Stadt ist. Und obwohl das Bauen im Lärm als eines der wenigen Mittel gilt, die verhältnismässig rasch Abhilfe schaffen könnten.

Wie ist dieser Richtungswechsel des Stadtrats zu erklären?

Der Lärmschutz wird zur Waffe

Die Regelung, um die es geht, ist die sogenannte Lüftungsfensterpraxis. Bis 2016 wurde sie vor allem im Kanton Zürich angewandt, um das Bauen an lauten Lagen zu ermöglichen. Die Praxis läuft darauf hinaus, dass gebaut werden kann, sofern die Rückseite der Gebäude ruhig ist.

Dann jedoch legte das Bundesgericht mit einem Urteil im Jahr 2016 die Lärmschutzverordnung strenger aus. Fortan war die Lüftungsfensterpraxis so gut wie verboten.

Seither scheitert Bauprojekt um Bauprojekt an dieser Hürde. Bekannte Beispiele sind die Seebahnhöfe, eine Grossüberbauung mit Hunderten von Wohnungen im Kreis 4. Oder das Projekt der Swisscanto an der Bederstrasse mit 124 geplanten Wohnungen.

Der Lärmschutz dient dabei oft als Waffe in der Hand von Nachbarn, die unliebsame Bauprojekte grundsätzlich torpedieren wollen.

Der Aargauer GLP-Nationalrat Beat Flach forderte schon 2016 eine Gesetzesänderung mit dem Ziel, dass die alte Praxis wieder angewendet werden solle. Nach Jahren des Stillstands unter Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP) ging es unter dem Nachfolger Albert Rösti (SVP) in den letzten Monaten vorwärts.

Flach hatte die Lüftungsfensterpraxis wieder etablieren wollen. Diese Forderung nahm der Bundesrat auf. Aber National- und Ständerat gingen über das Anliegen hinaus.

Drei Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Lüftungsfensterpraxis besagt, dass die Lärmschutzwerte in mindestens der Hälfte der Räume einer Wohnung eingehalten werden müssten. Gemessen wird dabei stets am offenen Fenster.

Der Nationalrat will hingegen, dass die Grenzwerte an einem einzigen Fenster einer Wohnung eingehalten werden.

Noch weiter geht der Ständerat: Gemäss ihm müssten die Vorgaben an gar keinem Fenster mehr eingehalten sein, solange das Gebäude über eine Komfortlüftung verfügt. Denn dann gebe es keinen Bedarf, bei geöffnetem Fenster zu lüften.

Dies würde bedeuten, dass man nahezu überall bauen kann, was den Lärm betrifft.

Zuletzt hat vergangene Woche der Ständerat darüber debattiert und an seinem Standpunkt festgehalten. Nun ist der Nationalrat wieder am Zug.

Marco Denoth, SP-Stadtparlamentarier in Zürich und von Beruf Architekt, kann gut nachvollziehen, dass das, was nun vorliegt, seinen Parteikolleginnen und -kollegen im Stadtrat zu weit geht. Er sagt, er habe grosse Hoffnungen in die Motion Flach gesetzt. «Aber offenbar schlagen jetzt die Bürgerlichen in Bern über die Stränge.» Eine geschlossene Wohnung mit kontrollierter Lüftung entspreche nicht einer Wohnform, mit der sich die Leute wohlfühlten.

Dass beim Scheitern des Gesetzes die heutige Blockade bestehen bliebe, sei zweifellos ein Opfer, räumt Denoth ein. «Aber wir stehen für die Leute ein, die dort leben müssen, für die Mieterinnen und Mieter.» Wenn die bürgerliche Mehrheit in Bern derart übertreibe, nehme sie das Referendum in Kauf.

Mieter wissen, worauf sie sich einlassen

Flurin Capaul, der für die FDP im Stadtparlament sitzt, kritisiert die Kehrtwende des Stadtrats. «Wir brauchen dringend mehr Wohnungen. Ich kann damit leben, wenn nicht jede neu gebaute Wohnung perfekt ist.» Wohnen sei etwas sehr Individuelles, nicht jeder habe dasselbe Ruhebedürfnis. Es gebe Leute, die kein Problem damit hätten, in eine Wohnung an lauter Lage mit Komfortlüftung zu ziehen. «Wer in eine solche Wohnung zieht, weiss, worauf er sich einlässt», sagt er.

Snezana Blickenstorfer, GLP-Stadtparlamentarierin und Präsidentin der Genossenschaft Sunnige Hof, sagt, sie sei «auch nicht happy» mit der gegenwärtigen Stossrichtung in Bern. Wohnungen, die gar nicht mehr manuell gelüftet werden könnten, seien nicht sinnvoll.

Allerdings zweifelt sie daran, dass viele Hauseigentümer wirklich von dieser Erleichterung Gebrauch machen würden, selbst wenn das Gesetz dies künftig zulassen sollte. Wenn es den Leuten in den Wohnungen nicht behage, komme es erfahrungsgemäss zu mehr Mieterwechseln. Das rechne sich auch für kommerzielle Liegenschaftsbesitzer nicht.

Letztlich sei entscheidend, dass sich endlich etwas bewege beim Bauen im Lärm. Blickenstorfer sagt: «Lieber Wohnungen nur mit Komfortlüftung als gar keine.» Zumal heute viele Leute in schlecht isolierten alten Wohnungen verharrten. Oder schon gar keine Wohnung fänden, weil Neubauten und Verdichtung verhindert würden.

Der Motionär, GLP-Nationalrat Beat Flach, sagt gegenüber der NZZ, die Situation sei verfahren. «Leider hat das zuständige Bundesamt sieben Jahre lang alles blockiert.» In der Debatte hätten nun einige Leute «die Geduld verloren». Flach hofft, dass eine Kompromisslösung im Sinne des Nationalrats noch zustande kommt. Sonst drohe eine Volksabstimmung mit ungewissem Ausgang.

Die Lärmliga Schweiz richtet auf ihrer Website einen Appell an die eidgenössischen Räte, den Lärmschutz ernst zu nehmen.

Sie schreibt: «Die Lärmliga ist bereit für das Referendum.»

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