Mittwoch, Oktober 2

Sie wurde getötet, weil sie Jüdin war. Mireille Knoll war 85, als sie ermordet wurde. Von einem jungen Muslim, dem Sohn einer Nachbarin, der das Opfer kannte, seit er ein Kind war. In einem Buch erinnern Mireille Knolls Söhne an die Mutter.

Am 23. März 2018 wurde Mireille Knoll ermordet. Am frühen Nachmittag hatte ihr Sohn die 85-jährige Frau besucht. In der bescheidenen Wohnung im 11. Pariser Arrondissement, wo sie seit mehr als sechzig Jahren lebte. Wenige Stunden später stand die Wohnung in Flammen. Die Feuerwehr fand die Frau in einer Blutlache auf dem Bett liegend. Sie war mit elf Messerstichen getötet worden, einer davon führte mitten durch die Kehle. Um Spuren zu verwischen, hatten die Täter die Wohnung in Brand gesteckt.

Knolls Familie wurde unmittelbar nach der Tat nicht über die Einzelheiten informiert. Im Buch «Unsere Mutter. Die Jüdin, die nicht hassen wollte» schildern Knolls Söhne Allan und Daniel die Stunden nach der Todesnachricht: «Wir wussten nicht, dass unsere Mutter nicht durch einen Brand gestorben war. Es war schlimmer. Schlimmer, als man sich vorstellen konnte.» Bald stand fest: Mireille Knoll wurde getötet, weil sie Jüdin war. Sie, die nie jemandem etwas getan hatte und zu allen freundlich und hilfsbereit war.

Der Junge von nebenan

Das Opfer hatte den Mördern selbst die Tür geöffnet, sie in die Wohnung gebeten und ihnen ein Glas Portwein angeboten. Den einen der beiden, Yacine Mihoub, kannte Mireille Knoll seit er ein Kind war. Er wohnte im gleichen Haus, ging bei ihr ein und aus. Sie hatte ihn betreut, wenn seine Mutter arbeitete. Er hatte Einkäufe für sie erledigt. Mireille Knoll hatte zu Yacine gehalten, als der Jugendliche später straffällig wurde. Er blieb für sie der nette Araberjunge von nebenan. Bei der Tat war Mihoub 28 Jahre alt. Den Mittäter hatte er im Gefängnis kennengelernt.

Das Gericht verurteilte Mihoub zu lebenslanger Haft. Die Angeklagten hatten sich gegenseitig die Schuld zugeschoben. Der Mittäter behauptete, Mihoub habe «Allahu akbar!» gebrüllt, als er sich auf Mireille Knoll stürzte. Mihoub leugnete. Er verbreitete antijüdische Verschwörungstheorien: Juden seien reich, kontrollierten die Politik. In der Gefängniszelle hatte er den Namen des Terroristen Amedy Coulibaly an die Wand geschrieben. Coulibaly hatte 2015 einen koscheren Supermarkt in Paris überfallen und vier Menschen erschossen.

Der Mord an Mireille Knoll war nicht der erste antisemitisch motivierte Mord in Frankreich. Seit Jahren hatten islamistische Muslime Juden bedroht, angegriffen und getötet. Offener Judenhass war an der Tagesordnung, aber die Gesellschaft schaute weg. Mireille Knolls Tod rüttelte die Öffentlichkeit auf. In Paris versammelten sich mehrere zehntausend Menschen, um gegen Antisemitismus zu protestieren. Der Innenminister hielt eine Rede, die Bürgermeisterin Anne Hidalgo versprach, eine Strasse nach Mireille Knoll zu benennen.

Knapp den Nazis entkommen

Allan und Daniel Knoll schildern das alles. Aber ihr Buch gilt nicht dem Verbrechen. Es gilt der Mutter. Ihr Leben lernte die Familie erst nach ihrem Tod kennen. Erst da erfuhr sie, dass die Mutter im Juli 1942 in Paris nur knapp der Deportation in ein Konzentrationslager entgangen war. Wie sie den Vater kennengelernt hatte, einen österreichischen Auschwitz-Überlebenden, der nie über das Schreckliche sprach, das er erlebt hatte

«Unsere Mutter» erzählt dieses Leben. Auch Mireille Knoll sprach nicht gern über die Vergangenheit. Sie genoss die Gegenwart, liebte Musik, gutes Essen, das Zusammensein mit anderen Menschen. Dass sie getötet wird, weil sie Jüdin war, hätte sie nicht glauben können. Dass der Nachbarsjunge sie bedrohen könnte, erst recht nicht. «Yacine ist mein Freund», sagte Mireille Knoll ihrer Familie, wenige Wochen bevor sie starb: «Er hilft mir und ist sehr freundlich.»

Allan und Daniel Knoll: Unsere Mutter. Die Jüdin, die nicht hassen wollte. Aus dem Französischen von Isolde Schmitt. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2024. 224 S., Fr. 28.90.

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