Mittwoch, Januar 15

Vor hundert Jahren wurde der Schriftsteller James Baldwin in New York geboren. Er hat die Sicht auf das schwarze Amerika revolutioniert.

Am 2. August wäre James Baldwin hundert Jahre alt geworden. Geboren im New Yorker Stadtteil Harlem, gilt er als eine der bedeutendsten Stimmen der afroamerikanischen Literatur. Und da liegt schon das Problem: Zu sagen, James Baldwin sei ein Sprachrohr der «People of Color» gewesen, ein in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung engagierter Künstler und Aktivist, ist eine Schmälerung seines artistischen Rangs.

Ja, James Baldwin hat sich wie kein anderer afroamerikanischer Autor der 1950er und 1960er Jahre für die Rechte von Schwarzen eingesetzt. Aber seine Texte, die zahlreichen Essays, Erzählungen und Romane, sind mehr als Parteinahmen für eine von Unrecht und Gewalt geknechtete Ethnie. Sie sind ein Dokument humaner Tapferkeit und ergeben in Gänze die Vision einer, so kitschig es klingen mag, besseren Welt.

Und wer hätte nicht eine Verbesserung der Verhältnisse erhofft? Wer wäre nicht unzufrieden gewesen, enttäuscht oder sogar entsetzt im Angesicht der politischen Lage? James Baldwin klagte in seinen Büchern den rassistischen Terror an, dem die Schwarzen seit den Raubzügen der Weissen in Afrika ausgesetzt sind und der nicht nur in den USA systemisch, ja staatstragend wurde. Er, der homosexuelle Künstler, fächerte auch die Notlagen auf, in die Menschen wie er inmitten einer heterosexuell genormten Gesellschaft geraten.

Er machte in seinen Werken zudem deutlich, wie alle, die Marginalisierten wie auch der sogenannte Mainstream, unter dem Joch der Vorurteile und Ausgrenzung leiden. Der Kulturwissenschafter Henry Louis Gates Jr. benannte das Dilemma: «Wenn Baldwin ein zentrales politisches Argument hatte, war es, dass die Schicksale von schwarzem Amerika und weissem tiefgreifend und unumkehrbar miteinander verflochten waren. Jedes erschuf das jeweils andere (. . .), jedes konnte das andere zerstören.»

Diese Dialektik der doppelten Vergewaltigung durch die Geissel der Ideologie in erzählende Prosa zu übertragen, macht Baldwin zu einem Autor von Weltrang. Man sage also nicht: James Baldwin ist eine der grossen Stimmen der afroamerikanischen Literatur. Sondern: Dies ist ein grosser Dichter der Moderne.

Wie steigt man in dieses Werk ein? Fängt man mit dem epochalen Essay «Nach der Flut das Feuer» an? Erschienen 1962, wurde der Text aus dem Stand ein Fanal der Bürgerrechtsbewegung und ist bis heute eine Inspirationsquelle für Ermächtigung und Protest. Liest man den ersten Roman, «Von dieser Welt» (1953), die mehrstimmige Familiengeschichte eines jungen Afroamerikaners, der in einer streng christlichen Familie aufwächst und sich zu emanzipieren sucht?

Oder beginnt man beim Abschluss dieser Werkgeschichte, mit dem schmalen, bewegenden und im Vergleich zu den anderen Romanen erzählerisch anspruchslos wirkenden Buch «Beale Street Blues» von 1974? Oder traut man sich gleich an das Hauptwerk heran, «Ein anderes Land» (1962), einen Roman, der zahlreiche Figuren unterschiedlicher Hautfarbe und Identitäten in ein erschütterndes Kräftefeld einspannt?

Baldwins Biografie ist ein Spiegel der Gesellschaft

Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich an die Hand nehmen zu lassen von René Aguigah, dessen Biografie gerade erschienen ist. Auf nur 200 Seiten bahnt uns dieser Literaturwissenschafter und Journalist einen Weg in die komplexen Strukturen von Baldwins Texten und Engagement. Er zeigt uns die Romane und Essays als Spiegel ihrer Zeit und erschliesst sie zugleich als Dichtung, das heisst als literarische Innovation.

Die historisch bedeutsamen Daten sind in dieser Studie der Echoraum, in dem Aguigah der literarischen Stimme Baldwins nachspürt, sie analysiert und heutigen Lesern und Leserinnen zugänglich macht. Er folgt Baldwins Kindheit und Jugend in Harlem, seinem freiwilligen Exil in Paris, in Istanbul und in der Schweiz. Schliesslich schildert Aguigah Baldwins Einsatz für die Rechte der Afroamerikaner an der Seite von Malcolm X und Martin Luther King.

Man kann dieses Buch als Gesellschaftsgeschichte der USA lesen mit dem Fokus auf die 1950er bis 1970er Jahre. Als Inspektion der rassistischen Unrechtsstrukturen, die nicht nur in Amerika seit Generationen Menschen ausbeuten und traumatisieren. Es ist aber vor allem ein brillanter philologischer Essay, der darauf besteht, dass Literatur nicht unter politischen Gesichtspunkten verengt, sondern auf ihre die sozialen und ethnischen Kategorien überschreitende Kraft hin gewürdigt wird.

Ästhetische Rezeption ist niemals farbenblind. Lektüreerfahrungen finden vor einem kulturellen Hintergrund statt. Aguigah ist deutsch-togolesischer Abstammung, und ihm eine besondere Sensibilität für die Erfassung von Baldwins Grösse zu bescheinigen, ist womöglich selbst schon ein rassistischer Akt. Es hiesse, eine schwarze Essenz anzunehmen, die Schwarze von Weissen unterscheidet und sie damit für bestimmte Debatten auszeichnet, für andere aber disqualifiziert.

Wenn man einerseits hermeneutisch korrekt lesen und andererseits den ideologischen Kräften, die eine solche Hermeneutik immer durchdringen, entgehen will, gerät man also in eine vertrackte Lage. Der deutsche Publizist und Literaturkritiker Ijoma Mangold hat in seinem Erinnerungsbuch «Das deutsche Krokodil» anschaulich beschrieben, wie sich ethnisches Bewusstsein im gesellschaftlichen Kontext überhaupt erst herstellt und wie Hautfarben mit ihren kulturellen Assoziationen sozial konstruiert werden.

«Wir haben den N*** erfunden»

Eine doppelte Perspektive ist bei der Lektüre gefragt: Zum Schock über das an den «People of Color» begangene Unrecht muss das Ergriffensein kommen. Baldwins Werk spricht uns alle an, weil das Alleinsein, das Ausgegrenztwerden jeden ereilen kann. In den Worten des Autors: «Du denkst, dass dein Schmerz und dein Liebeskummer in der Geschichte der Welt beispiellos sind, aber dann fängst du an zu lesen.»

Die Schriftstellerin Toni Morrison, eine Freundin und politische Gefährtin Baldwins, sagte in einem Interview, sie schreibe Literatur, weil sie sonst «in der Realität festsitze». Das ist das Faszinierende an Baldwins Büchern: dass sie die Realität literarisch so verdichten, dass die Barbarei des Rassismus messerscharf deutlich wird.

Es ist kaum möglich, Romane wie «Ein anderes Land» oder «Von dieser Welt» zu lesen und nicht betroffen zu sein von der Brutalität der rassistischen Logik. Sie definiert den oder die Nichtweisse als das Andere, um sich selbst als Zentrum der gesellschaftlichen Wahrheit festzusetzen. Baldwin schrieb: «In diesem Land gibt es etwas, das man den N*** nennt. Wir haben den N*** erfunden. Ich habe ihn nicht erfunden. Die Weissen haben ihn erfunden.»

Gleichzeitig sind Baldwins Texte eine Sphäre der Hoffnung. Mag unser Denken noch so tief in der Realität festsitzen, in der Literatur ist Freiheit möglich. Diese Freiheit kann nicht mehr verdrängt, verboten, totgeschwiegen werden. Ihre ästhetische Vision erzeugt Sehnsucht und Hoffnung, die mächtigsten Impulse, um gesellschaftliche Veränderung in Gang zu setzen.

Der Abgrund blickt zurück

Vor einem Regal mit Baldwin-Büchern greife man einfach hinein. Die Essays aus «Nach der Flut das Feuer» sind die beste Einführung in identitäre Debatten und ihre Fallstricke, lange bevor der Begriff Identitätspolitik erfunden wurde. Der frühe Roman «Von dieser Welt» ist eine in flammender Rhetorik geschriebene Analyse religiösen Eiferertums und die furiose Geschichte der Emanzipation eines jungen Menschen von den Konventionen seines Milieus.

Der schmale, an stilistischer Eleganz kaum zu übertreffende Roman «Giovannis Zimmer» über ein schwules Liebespaar im Paris der 1950er Jahre ist eine komplexe Studie über Begehren und wie es bedroht wird von den Normen der Zeit. Das späte Prosawerk «Beale Street Blues»: Was für ein Buch! Es erzählt von einem jungen Afroamerikaner, der von der rassistischen Justiz ins Gefängnis gebracht wird, und es handelt von seiner schwangeren Verlobten sowie ihrer Familie und deren Kampf um Gerechtigkeit.

Die Idee, dass, wer lange in den Abgrund blickt, irgendwann selbst vom Blick dieses Abgrunds getroffen wird, gilt auch umgekehrt: Wer zu diesen Helden und Heldinnen aufschaut, wird erhoben. James Baldwin führt uns unsere Niedertracht vor Augen. Und unsere Grösse.

René Aguigah: James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt. Beck-Verlag, München 2024. 233 S., Fr. 36.90. – Die Bücher von James Baldwin sind bei DTV in der Übersetzung von Miriam Mandelkow erschienen. Ausserdem hat der Kampa-Verlag den Band «Ich weiss, wovon ich spreche. Ein Leben in Gesprächen» sowie das Doppelbuch James Baldwin / Teju Cole: «Fremder im Dorf / Schwarzer Körper» herausgegeben.

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