Montag, November 25

Am 4. November 1989 kamen fast eine Million Menschen auf dem Ostberliner Alexanderplatz zu der ersten freien Massenkundgebung der DDR zusammen. An der von Künstlern organisierten Demonstration redete auch der Schauspieler Jan Josef Liefers.

Liefers, der besonders durch seine Rolle als Gerichtsmediziner im «Tatort» Münster bekannt ist, setzt sich in seiner Arbeit immer wieder mit gesellschaftspolitisch brisanten Themen auseinander. In seinem neuen Film, «Alter weisser Mann», strauchelt die Hauptfigur (Liefers) durch den aufgeheizten Zeitgeist von Diversität, Wokeness und Cancel-Culture – allerdings verpackt in Humor und Ironie.

Sie waren einer der ersten Redner bei der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Von einer provisorischen Bühne auf einem Lastwagen aus haben Sie zu rund einer Million Menschen gesprochen. Erinnern Sie sich noch, was da in Ihnen vorgegangen ist? Haben Sie auch Angst gespürt, Herr Liefers?

Wenn ich sehe, wie viel Ängstlichkeit heute in uns steckt – Angst, zu sagen, was wir denken, Angst vor dem Mainstream, Angst vor der Wahrheit, dem Shitstorm, vor Applaus von der «falschen» Seite, Angst vorm Fehlermachen –, dann waren wir damals erstaunlich angstfrei. Wir haben in einer Diktatur gelebt, uns gefangen gefühlt, das Ministerium für Staatssicherheit, die Spitzel und die Polizei waren wie ein Gespenst allgegenwärtig. Aber mein Modus war: Wenn ich das jetzt nicht durchziehe, verpasse ich für den Rest des Lebens mein Ticket in die ersehnte Freiheit.

Sie waren damals 25 Jahre alt und einer der jüngsten Redner . . .

Ich habe einfach ausgeblendet, was uns alles hätte passieren können, Verhaftung, Gefängnis oder Repressalien anderer Art. Das ist ein Vorteil, wenn man jung ist und noch nicht so viele schlechte Erfahrungen gemacht hat. Man hat einfach Chuzpe.

Welche Botschaft hatten Sie, die Ihnen bei Ihrer Rede wichtig war?

Ich wollte unbedingt die verfassungsmässig verankerte «führende Rolle der SED» infrage stellen. Manche fanden das zu provokativ, und so war meine eigentliche Aufgabe nur, den vielen Menschen dort zu sagen, dass wir mit den alten Parteibonzen nichts am Hut haben, die da plötzlich auftauchten. Die wollten offenbar versuchen, diese erste und einzige genehmigte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR für sich zu kapern. Ich sollte klarmachen: Wir können denen nicht verbieten, hier teilzunehmen, aber wir haben nichts mit denen zu schaffen. Am Ende habe ich einfach doch beide Anliegen kombiniert.

Wenn Sie jetzt über die Erinnerungen sprechen, ist Ihnen der Auftritt da noch präsent?

Ja, sehr präsent. Ich bin wirklich kein Mensch, der in der Vergangenheit lebt, aber das werde ich nie vergessen. Sobald ich ein Bild von damals sehe, ist alles wieder da.

Sie sind vor zwei Jahren als Regisseur mit dem Film «Honecker und der Pastor» noch einmal tief in die Erlebnisse kurz nach der Wende eingetaucht. Darin geht es um eine wahre Geschichte. Der aus dem Amt gejagte DDR-Staatschef und seine Frau Margot hatten keine Bleibe mehr und fanden für neun Wochen Asyl bei einem Pastor. Als Sie den Film drehten, war die DDR schon mehr als dreissig Jahre Vergangenheit. Warum war Ihnen dieser Film wichtig?

Ich habe von dieser Geschichte leider erst spät erfahren. Als ich das erste Mal davon las, dachte ich, das hat sich doch jemand ausgedacht! Normalerweise werden abgesetzte Diktatoren erschossen oder müssen ins Exil. Aber wo fällt ein Mächtiger so weich und ausgerechnet in den Schoss eines Pastors, der statt Rache an seinem schlimmsten Gegner lieber christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit übt? Diese Geschichte hatte für mich eine grössere Dimension, eine fast schon archaische Kraft. Deswegen wollte ich diesen Film unbedingt machen.

In dem Film gibt es auch einen sehr feinen Humor, trotz der Geschichte über einen Diktator und seine Frau. Auch in Ihrem neuesten Film, «Alter weisser Mann», werden gesellschaftspolitische Kampfthemen wie Wokeness und Political Correctness mit Humor und Ironie dargestellt. Geht es nur so?

Es gibt für mich keine gute Komödie, in der nicht auch ein Faden tiefer Traurigkeit eingewebt ist. Aber ja, lachen hilft. Wir lachen ja nicht berechtigte Anliegen von bisher marginalisierten Gruppen aus. Wir lachen über die Übertreibungen, über die Verkrampftheit, die Heucheleien, den moralischen Zeigefinger, die Belehrungen, die Ungeschicklichkeiten, mit denen wir versuchen, diese berechtigten Anliegen nach vorne zu bringen. Wir Deutschen wollen der Welt immer zeigen, wie es richtig geht. Wir machen alles gründlich, auch die Fehler. Darüber kann man lachen.

Über den Humor ist es viel einfacher, sich einem heiklen Thema zu nähern. Es ist auch ein Film, der zeigt: Bei allen Veränderungen, die wir mitmachen müssen, sind wir vor allem Menschen und fehlerbehaftet. Es gibt keine Person oder Personengruppe, die für sich die Wahrheit gepachtet hat und autorisiert ist, diese anderen Menschen aufs Auge zu drücken. Ich liebe die offene Gesellschaft, für die stehe ich und nicht für geschlossene Systeme. Unser Film macht einfach Spass.

Es geht Ihnen um einen übertriebenen Zeitgeist, auch um Ausgrenzungen? Wokeness soll ja eigentlich sensibilisieren.

Ausgrenzung ist ein Werkzeug von Totalitarismus. Der Begriff woke hingegen stammt aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und bedeutet, dass wir besonders wachsam gegenüber Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft sind. Ich bin dafür! Wer sollte denn ernsthaft etwas dagegen haben? Das sind Fragen, die wir miteinander verhandeln müssen statt gegeneinander.

Diese Themen sind ein heisses Eisen. Schlägt Ihnen auch Unverständnis, vielleicht sogar Hass entgegen?

Das ist nicht auszuschliessen, aber bisher ist es noch nicht passiert. Ich glaube wirklich, wer den Film richtig sieht, wird es schwer haben, etwas in ihm zu finden, was einen Cancel-Aufruf wert wäre. Dieser Film hat nicht den grimmigen, auf Krawall gebürsteten Blick auf die Menschen, sondern einen grosszügigen und eher verzeihenden Blick. Aber klar, einige verstehen auch gerne absichtlich falsch.

Sie haben sich in einem Interview einmal auf Sophie Passmann bezogen, die ja humorvolle Gespräche mit «alten weissen Männern» in ihrem gleichnamigen Buch geführt hat. Der Buchtitel führt noch den Zusatz «ein Schlichtungsversuch». War das auch Ihre Intention?

Sie hat einen sehr smarten Ansatz gewählt, der sich letztlich selbst erklärt. Unser Film ist jedenfalls keine Kriegserklärung, sondern, wenn man so will, auch ein Schlichtungsversuch.

Es ist gerade wieder sehr en vogue, den Osten zu erklären, anlässlich runder Jubiläen oder singulärer Wahlergebnisse. Spüren Sie, der ja viel unterwegs ist, eine neue Entfremdung oder ein zunehmendes Desinteresse auf beiden Seiten?

Das nehme ich schon wahr, gerade bei Jüngeren, die Wurzeln in der ehemaligen DDR haben. Da höre ich oft: «Mensch, Herr Liefers, das ist aber schön, dass einer von uns auch einmal aufs Treppchen gekommen ist.» Dann frage ich, ob es in ihrer Generation nicht längst schon egal sei, ob man aus Ost oder West stamme. «Nein», höre ich dann, «das wird noch lange nicht egal sein!» Das ist so verrückt, dass sogar eine Generation, die die DDR längst nicht mehr erlebt hat, eine Art Ostidentität stiftet.

Haben Sie eine Begründung dafür?

Jemand hat mal gesagt, man dürfe nicht unterschätzen, wie viel Sozialisierung noch immer zu Hause am Küchentisch stattfinde. Offenbar wird dort von Generation zu Generation eine bestimmte Erfahrungswelt weitervermittelt, und daraus entsteht dann so eine Art Trotz und Widerständigkeit, dies auf einem Sediment aus Verletzungen, Enttäuschungen und Kränkungen aus der Zeit nach dem Mauerfall. Die führen zu solch einer seltsamen identitären Kraft, so etwas wie Ossi-Pride.

Teilen Sie die These des Soziologen Steffen Mau, dass die Unterschiede zwischen Ost und West bleiben werden und dass nicht unbedingt zusammenwächst, was einmal zusammengehört hat?

Der gute Wille bestand, fest verzurrt mit hohen Erwartungen. Aber die Plätze an der Sonne, die jeder DDR-Bürger für sich erhofft hat, waren auch im Westen schon rar. Vor jedem dieser kleinen, goldenen Handtücher stand schon eine lange Schlange hoffnungsvoller Anwärter, bevor die Mauer fiel. Wir haben in den Kapitalismus eingeheiratet, und dessen Lebenselixier ist nun mal die ewige Ungleichheit, sonst funktioniert er nicht. Augenhöhe aller ist nicht vorgesehen. Das war vielen nicht so klar. Diese Wahlergebnisse sind auch – nicht nur, aber auch – zustande gekommen, weil die Leute in den neuen Bundesländern genau spüren: Das ist die einzige Nadel, die einen neuralgischen Punkt der Westdeutschen trifft.

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