Freitag, Oktober 18

Der Publikumsliebling gewinnt in Melbourne trotz einem 0:2-Satzrückstand. Dem Gegner Daniil Medwedew widerfährt eine solche Niederlage zum zweiten Mal nach 2022.

Italien ist die Heimat der schönen Künste, des guten Essens, der wundersamen Landschaften. Vor allem aber auch des Calcio, des Fussballs, welcher die Sport-Agenda an den Wochenenden jeweils monopolisiert. Allen Problemen um Rassismus und Fangewalt zum Trotz, welche den Fussball begleiten, bleibt die Serie A doch eine Herzensangelegenheit für die meisten Italiener. Wie der Cappuccino und das Cornetto zum Frühstück.

Welch Anhäufung von Klischees? Doch nein, vielleicht ist es auch der Ausdruck einer stillen Sehnsucht, die praktisch jeder in sich trägt und das Bild dieses wunderbaren Landes prägt. Doch Italien ist mittlerweile auch eine Tennis-Nation, die Heimat von Jannik Sinner, der neusten Sensation auf der Tennis-Tour. Seit der 22-jährige Südtiroler vor zwei Tagen den grossen Dominator Novak Djokovic in drei Sätzen entzaubert und aus dem Turnier verabschiedet hatte, fieberte ein ganzes Land und mit ihm all jene, die Sinner in Sympathie und Sehnsucht verbunden sind, diesem Sonntag entgegen: Dem Final-Tag des Australian Open, an dem Sinner und gegen den Russen Daniil Medwedew um den ersten grossen Titel in der neuen Saison spielte.

Medwedew ist bereits Major-Sieger. Er stand 2021 und 2022 in Melbourne jeweils im Final. Doch den einzigen Major-Titel feierte er im Herbst 2021 am US Open, als er Djokovic am Gewinn des Kalender-Grand-Slams hinderte. Der 25-jährige Russe ist eine Art Enigma, ein Rätsel, dass sich selbst ihm selber nicht immer erschliesst. Das war auch im Final des Australian Open nicht anders.

Jannik Sinner war der Favorit der Herzen

Die Sympathien waren schon vor dem Match klar verteilt: Jannik Sinner war der Favorit der Experten, vor allem aber auch jener der Herzen. Der junge Südtiroler gehört nicht nur wegen seiner italienischen Herkunft, sondern auch wegen der offenen, umgänglichen Art bereits jetzt zu den populärsten Spielern auf der Tour.

Nicht wenige vergleichen ihn wegen seiner Vielsprachigkeit, aber auch seinen formvollendeten Umgangsformen schon jetzt mit dem jungen Roger Federer. Dazu beigetragen hat auch, dass Sinner jüngst in einem Interview mit der Mailänder Zeitung «Corriere della Serra» sagte, Federer sei sein Jugendidol gewesen und wenn er für einen Tag in der Haut eines anderen Spielers stecken dürfte, dann in jener Federers.

Vor dem Final erreichten Sinner Glückwünsche von anderen Sportlern aus der ganzen Welt. Namentlich die Skifahrerinnen, die in Cortina d’Ampezzo in Sinners näheren Heimat an diesem Wochenende Weltcup-Rennen austrugen, sind ihm zugetan. Mit der Amerikanerin Lindsey Vonn, die auch zum Bekanntenkreis Federers gehört, ist Sinner auch schon Ski gefahren. Als Junior war er ein ebenso talentierter Skiläufer und italienischer Junioren-Meister im Riesenslalom.

Medwedew und der Schatten des Ukraine-Krieges

Da hatte Daniil Medwedew doch einen eher schweren Stand. Der fünf Jahre ältere Russe gilt als intelligenter, durchaus amüsanter, irgendwie aber auch sonderbarer Zeitgenosse. Immer wieder eckt er mit kontroversen Aussagen und Meinungen an. Vor seinem Halbfinal gegen den deutschen Alexander Zverev etwa überraschte er in einem Interview auf Eurosport mit der Aussage, im Gegensatz zu dem, was Zverev kolportiere, seien sie beide alles andere als Freunde.

Das sind aussergewöhnliche Aussagen in der Tennis-Szene, die wie kaum eine andere um das Bild der Freundschaft und Harmonie bemüht ist. Zudem ist Medwedew in Russland gross geworden, auch wenn er mittlerweile längst in Frankreich lebt. Und russische Wurzeln zu haben ist heute ein nicht zu unterschätzendes Handicap. Selbst dann, wenn man mit Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine nichts zu tun hat.

Kaum jemand hatte vor diesem, gemessen an der Sympathie, ungleichen Final auf Medwedew gesetzt. Die zahlreichen Experten, die im Umfeld der Grand-Slam-Turniere gefragt und teilweise auch ungefragt ihre Prognosen auf einem der TV-Kanäle abzugeben pflegen, setzten fast ausschliesslich auf Sinner. Die meisten rechneten sogar mit einem Triumph in drei Sätzen. Wie wertlos dieses Kaffeesatz-Lesen selbst in den Resten eines italienischen Espressos ist, zeigte sich relativ schnell.

Medwedew dominierte vom ersten Ballwechsel an

Medwedew dominierte den Match vom ersten Ballwechsel an. Mit seiner Aggressivität stellte er Sinner vor unlösbare Aufgaben. In den sechs Partien auf dem Weg in den Final hatte der Südtiroler seinen Aufschlag gerade zweimal abgegeben. Im Halbfinal war Djokovic, der wohl beste Returnspieler auf der Tour, zu keinem einzigen Breakball gekommen. Medwedew nahm Sinner im Final bereits das zweite Aufschlagspiel ab.

'Aggressive' Daniil Medvedev wins the opening set against Jannik Sinner 🔥 | Australian Open 2024 🇦🇺

Bis in den dritten Satz hinein spielte praktisch nur ein Spieler: Medwedew. Wäre der Weltranglisten-Dritte etwas besser mit seinen zahlreichen Chancen umgegangen, der Match hätte zu einem eigentlichen Debakel für den im Ranking nur einen Rang schlechter klassierten Sinner werden können. Als Sinner beim Stand von 1:5 im zweiten Satz zu den ersten zwei Breakbällen kam und den zweiten davon davon tatsächlich nutzte, hatte Medwedew ihn bereits viermal gebreakt gehabt und sieben weitere Gelegenheiten ungenutzt gelassen.

Doch dieses eine Break veränderte die Physiognomie des Matchs vollständig. Medwedew gewann Satz zwei zwar noch. Doch Sinner und sein Betreuerstab hatten da längst Lunte gerochen. Möglicherweise stiegen im Kopf des Russen die Bilder jenes Finals vor zwei Jahren auf, als er gegen Rafael Nadal ebenfalls mit 2:0-Sätzen in Führung gegangen war, danach aber den Faden vollständig verlor und am Ende noch verlor. Der Schweizer Tennis-Experte Heinz Günthardt bezeichnete jenes Comeback des Spaniers als «eine der grössten Leistungen, die ich im Tennis je gesehen habe.»

Doch Tennis ist auch deshalb eine der faszinierendste Sportart, weil ein Match wirklich erst dann entschieden ist, wenn der sprichwörtlich letzte Ball gespielt ist. Beide Spieler sahen in diesem faszinierenden Final mindestens einmal wie der sichere Sieger und wie der sichere Verlierer aus. Doch immer wieder kippte das sprichwörtliche Momentum. Einmal hatte Medwedew, dann wieder Sinner Vorteile. Unglaubliche Winner wechselten sich mit Fehlern ab, die ihren Platz üblicherweise in den ersten Runden der nationalen Interclub-Meisterschaft haben. Auch das macht diesen Sport für sein Publikum so faszinierend und auch nachvollziehbar.

Beide Spieler lauerten auf eine Schwäche und eine Gelegenheit, den Vorteil auf ihre Seite zu ziehen. Die Entscheidung kam beim Stand von 3:2, als Sinner Medwedew den Service zum 4:2 abnahm. Genau 3:32 Stunden waren da gespielt. Eine Viertelstunde später verwandelte Sinner seinen ersten Matchball und machte sich mit 22 Jahren zum jüngsten Australian-Open-Sieger seit Novak Djokovic im Januar 2018.

Selbst dem grossen Rod Laver stiegen auf der Tribüne die Tränen in die Augen. Sinner ist er erste männliche italienische Grand-Slam-Sieger im Einzel seit Adriano Panatta 1976 in Roland-Garros. Er ist erst der dritte italienische Mann neben diesem und Nicola Petrangeli (1959 und 1960 in Paris). 2015 hatte Lavia Pannetta sensationell das US Open gewonnen.

Sinner ist der Mann der Stunde, Djokovic bleibt die Nummer 1

Sinner erweiterte damit den Kreis der Major-Sieger. Nach Carlos Alcaraz am US Open 2020 und in Wimbledon 2023 ist er der erste aus der ganz jungen Generation. In der Weltrangliste verändert sich vorerst nichts. Novak Djokovic beginnt am Montag seine 410. Woche an der Rankingspitze. Das scheint ein weiterer Rekord des Serben, der für die Ewigkeit ist. Doch wie sagte er selber in dieser Woche: «Irgendwann wird jeder Rekord gebrochen. Dazu sind Rekorde da.»

Der Moment gehört aber Sinner. Doch er wird diesen Erfolg bestätigen müssen. Das weiss niemand besser als sein Gegner Medwedew, der seinem zweiten Titel seit mittlerweile zweieinhalb Jahren hinterher läuft. Es ist eine jener grossen Qualitäten der Generation um Federer, Nadal und Djokovic, dass sie sich über Jahre, ja fast Jahrzehnte, in den Toppositionen hielten und diese Position immer wieder mit Siegen bestätigte. Doch Sinner hat das Potenzial, selbst in diese grossen Fussstapfen zu treten.

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