Japans Leitindex beginnt eine neue Epoche. Kurzfristige Gewinnmitnahmen sind nicht ausgeschlossen. Manche Strategen halten eine Fortsetzung der Hausse für möglich, andere sind skeptischer.
Am Donnerstag war es so weit: Der Aktienindex Nikkei-225 durchbrach den Langzeitrekord aus Japans legendärer Blasenwirtschaft vom 29. Dezember 1989. Angetrieben von überraschend guten Zahlen des amerikanischen Grafikkarten-Herstellers Nvidia stieg der Nikkei-225 nach der Mittagspause kurzzeitig auf 39 029 Punkte und übertraf so den bisherigen Rekord um 114 Punkte.
Damit setzten die japanischen Aktien ihre starke Performance aus dem Vorjahr fort. 2023 gehörte der Nikkei-225 mit einem Plus von 30 Prozent zu den weltweiten Gewinnern. Seit Jahresbeginn hat er um weitere 16 Prozent zugelegt. Die grosse Frage ist jedoch, ob die bisherigen Faktoren wie ein schwacher Yen, Reformen der Corporate Governance und Kapitalzuflüsse aus dem Ausland anhalten werden – oder ob wir wieder kurz vor dem Platzen einer Blase stehen.
Zinserhöhung ist möglich
Der neue Rekord macht einigen Aktienstrategen in Japan ein wenig Sorge. Zwar hatten viele mit einem neuen Rekord gerechnet, aber nicht so früh im Jahr. Naoki Kamiyama, Chefstratege bei Nikko Asset Management, warnt: «Eine Kursrally ohne klare Ursache könnte bedeuten, dass der Markt auch für plötzliche Korrekturen anfällig ist.»
Der grösste Störfaktor ist die Bank von Japan. Ein Risiko besteht darin, dass sie ihre riesigen Aktienbestände reduzieren will. Sie ist Japans grösster Aktionär, da sie im Rahmen ihrer ultralockeren Geldpolitik auch Aktien gekauft hat, um billiges Geld in den Markt zu pumpen. Ein wahrscheinlicherer Auslöser könnte jedoch eine Zinserhöhung und damit das Ende der Negativzinspolitik sein, die die Märkte für März oder April erwarten.
Kamiyama schliesst aber auch einen weiteren Anstieg nicht aus. «In dieser Hinsicht könnte die jüngste robuste Performance japanischer Halbleiteraktien das nächste heisse Thema sein», sagt er. Fabrikausrüster wie Tokyo Electron boomen, weil sie sowohl westliche als auch chinesische Chiphersteller beliefern, auch wenn die Spitzenausrüstung wegen der amerikanischen Sanktionen gegen die chinesische Chipindustrie nur in westliche Länder geliefert werden kann.
Experte rechnet nicht mit Spekulationsblase
Einen tiefen Einbruch erwarten derzeit nur wenige Pessimisten. Martin Schulz, Volkswirt beim Technologiekonzern Fujitsu, sagt aus historischer Sicht: «Ich glaube nicht, dass die Aktien jetzt dramatisch überbewertet sind.»
Anders war das 1989. Damals befand sich Japan in einem Immobilienrausch, der auch die Aktienkurse in die Höhe trieb. Die Stimmung war euphorisch. Die Globalisierung schritt voran und die aufkommende Digitalisierung machte Japans Elektronikkonzerne zu Weltmächten.
Heute ist die Stimmung gedämpft, die Wirtschaft schwächelt, die Globalisierung scheint sich aufzulösen. «Eine grosse Spekulationsblase ist nicht in Sicht», sagt Schulz. Die Immobilienpreise seien zwar auch in Japan gestiegen, aber im internationalen Vergleich immer noch günstig. Vielmehr sei es die hohe Liquidität, für die die japanische Notenbank mit ihrer ultralockeren Geldpolitik sorge. «Die muss irgendwo hin.»
Der Wirtschaftsprofessor Kazumasa Oguro von der Hosei-Universität sagt: «Der Nikkei-225-Index normalisiert sich gerade wieder.» Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist die Marktkapitalisierung zwar bis zu dreimal so hoch wie 20 Jahre nach dem Platzen der Blase. Historisch gesehen hat sie aber erst das Niveau von 1955 erreicht.
Ausländische Investoren setzen auf Japan
Das sehen vor allem ausländische Investoren so. Seit die amerikanische Investorenlegende Warren Buffet im vergangenen Jahr Japan als einen seiner aktuellen Lieblingsmärkte offenbarte, haben sie das Land als Wachstumsmarkt entdeckt. Im Januar 2024 beliefen sich ihre Nettokäufe japanischer Aktien nach Angaben der Tokioter Börse auf 2,1 Billionen Yen (12,9 Milliarden Euro), den siebthöchsten Monatswert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1982.
Ob die Bullen auch in Zukunft recht behalten oder die Bären, die auf fallende Aktienkurse setzen, wird sich erst zeigen. Doch die Optimisten haben einige Argumente, die für einen weiteren Anstieg sprechen.
Pluspunkt 1: Der schwache Yen
Ein Auslöser für Japans Höhenflug war die globale Zinswende. Während die Notenbanken rund um den Globus drastische Inflationsschübe mit raschen Zinserhöhungen bekämpften, beliess die Bank of Japan ihren Leitzins bei minus 0,1 Prozent. Denn die Inflationsrate war in Japan niedriger als in den meisten Ländern.
Die wachsende Zinsdifferenz zwischen Japan und den USA sowie Europa nutzten Devisenanleger, um den Yen drastisch abzuwerten. Das wiederum trieb die Aktienkurse der Exportindustrie in die Höhe. Denn je schwächer der Yen, desto stärker steigen die Auslandsgewinne bei der Umrechnung in die japanische Währung.
So hat Toyota im Jahresverlauf seine Gewinnprognose für das noch bis Ende März laufende japanische Geschäftsjahr um mehr als 50 Prozent auf einen neuen Rekordgewinn angehoben. Und der weltgrösste Autobauer ist kein Einzelfall.
Pluspunkt 2: Corporate-Governance-Reformen
Ausserdem zahlen sich jetzt die Reformen der Corporate Governance aus. Die Regierung und die Tokioter erhöhen seit Jahren den Druck auf die Unternehmen, attraktiver für in- und ausländische Investoren zu werden. Unter anderem hat die Regierung die Unternehmen aufgefordert, mehr unternehmensexterne Mitglieder in den Aufsichtsrat zu berufen.
Die Tokioter Börse wiederum hat mit der Einführung ihres Topix Prime Index nicht nur einige hundert Unternehmen aussortiert, die kaum gehandelt wurden. Sie drängt auch Unternehmen, die unter ihrem Buchwert gehandelt werden, ihren Anlegern zu erklären, wie das Management die Situation verbessern will.
Fast die Hälfte der Topix-Unternehmen fällt in diese Kategorie. Strategen erwarten, dass der Markt dieses Potenzial freisetzen wird. Indizien dafür gibt es. Nicht nur, dass die Unternehmen ihre Dividenden erhöhen und vermehrt Aktien zurückkaufen, um den Wert der verbleibenden Aktien zu steigern. Gerade grosse Versicherungen haben angekündigt, dass sie nun auch die Reste ihrer Überkreuzbeteiligungen mit anderen grossen Unternehmen weitgehend abbauen wollen.
Pluspunkt 3: Erhöhung der Steuerfreibeträge auf Aktienanlagen
Ein weiterer Impuls für die Hausse ist die grosse Reform des Nippon Individual Saving Account (Nisa), mit dem Japaner steuerfrei investieren können. Seit diesem Jahr verdreifacht sich nicht nur der jährlich erlaubte Höchstbetrag auf 3,6 Millionen Yen. Darüber hinaus wurde die 5-Jahres-Frist für die Steuerbefreiung aufgehoben und die Gesamtanlagesumme auf 18 Millionen Yen (110 000 Euro) erhöht.
Damit will die Regierung die hohen Ersparnisse der Bürger in Aktien umlenken. Das Ziel ist ehrgeizig. Die Gesamtzahl der NISA-Konten soll sich zwischen 2022 und 2027 von 17 Millionen auf 34 Millionen verdoppeln, die Gesamtsumme der NISA-Käufe von 28 Billionen Yen auf 56 Billionen Yen.
Die Strategen von Morgan Stanley MUFG meinen: Das könnte ein starker Rückenwind für aktive japanische Aktienfonds sein. Denn die Experten schätzen, dass die Japaner in diesem Jahr 5,4 Billionen Yen (33 Milliarden Euro) über Nisa-Konten in Aktien investieren werden – Tendenz steigend.
Noch stecken viele Japaner ihr Geld in ausländische Aktien. Doch auch japanische Werte haben Rückenwind, glauben Japans Bullen. Selbst wenn jetzt die Kurse wieder fallen sollten, wären neue Rekorde zum Jahresende drin. So hielt Hisashi Shiraki, Chief Global Strategist von Sumitomo Mitsui DS Asset Management, vor Beginn der diesjährigen Rekordjagd für Ende 2024 sogar einen Nikkei von über 40 000 Punkten für möglich.