Montag, September 30

Er gewann Olympiagold, den Stanley-Cup, seine Geschichte ist ein Irrsinn. Zuletzt war Jaromir Jagr in seiner Heimatstadt Kladno Teambesitzer, Torschütze, Publikumsmagnet.

Der Blick geht zur Anzeigetafel: Mehr als eine halbe Minute befindet sich Jaromir Jagr schon auf dem Eis, eigentlich müsste er sich auswechseln lassen, den Mitspielern und seinen eigenen Beinen zuliebe, aber er kann nicht anders, ein Anlauf noch.

Sekunden später bejubelt das Stadion Europas prominenteste Eishockey-Attraktion: Die Scheibe liegt im Tor, Jagr hat das 1:1 für Rytiri Kladno gegen Karlovy Vary vorbereitet. Jagr mag nur noch eine abgehalfterte Version seines besten Selbsts sein, aber er ist der begabteste Spieler auf dem Eis. Es ist alles da: die Hände aus Gold, die Technik, die Übersicht, der Spielwitz.

Vor 36 Jahren gab Jagr sein Debüt im professionellen Eishockey. Heute ist er 52 Jahre alt und hat seinen Rücktritt angekündigt. Seine Geschichte ist ein Irrsinn, ein Fall für das Kuriositätenkabinett «Ripley’s Believe It or Not». Das beseelte, fast spitzbübische Grinsen nach einer gelungenen Aktion hat Jagr sich bewahrt. Und unter dem Helm quillt noch immer der Vokuhila hervor, wenn auch inzwischen grau meliert und etwas fahl. Mit dem Haarschnitt hält es sich wie mit Jagr selber: eigentlich längst aus der Zeit gefallen, aber ein unzerstörbares Markenzeichen, ein Original.

Es ist ein Freitagabend Ende Januar in Kladno, einem farblosen Vorort Prags, 70 000 Einwohner. Das 1949 eröffnete CEZ-Stadion ist ein Zweckbau, der fast demonstrativ diejenige Freudlosigkeit ausstrahlt, die man lange mit dem Ostblock assoziierte. Die Reise von Prag nach Kladno führt vorbei an Brachland und Tristesse. Ein Uber-Fahrer sagt, er habe Jagr einmal in ein Casino gefahren, «crazy» sei er, verrückt, nicht nur am Roulettetisch.

In Tschechien hat jeder eine Anekdote zu Jagr, diesem unverwüstlichen Exzentriker, der das Eishockey seit vier Dezennien prägt und dessen Status irgendwo zwischen Rockstar und Sportikone pendelt. Der Medienchef von Rytiri Kladno sagt, es sei schwierig, einen Interviewtermin mit Jagr zu ermöglichen, es gebe mehr Begehren als beim Staatspräsidenten, die Audienzen seien rar. Jagr ist ein Volksheld, das Interesse an ihm ungebrochen, auch jetzt noch, im Spätherbst einer Karriere, die vor der Samtenen Revolution von 1989 begann.

Die Aversion gegen den Kommunismus

Jagr wächst in Kladno in bescheidenen Verhältnissen auf, ein Grossteil der Kindheit und Jugend verbringt er mit Hilfsarbeiten auf dem elterlichen Bauernhof. Er verehrt Ronald Reagan, den amerikanischen Präsidenten, weil der den Kommunisten das Handwerk zu legen versucht. Jagr verachtet die Kommunisten, weil sie sein Elternhaus 1948 zwangskollektivierten. Der Grossvater Jaromir landete im Gefängnis, weil er sich gegen die Enteignung gewehrt hatte. Jagr hört diese Geschichten als Kind. Er will raus aus dem Kommunismus, und er will raus aus Kladno. Als Rückennummer wählt er die 68, es ist seine Hommage an den Prager Frühling.

Er habe zwei Optionen gehabt, wird Jagr später sagen: «Sportler werden oder Sänger. Und ich kann nicht singen.» Also trainiert er stundenlang, manchmal nachts. Im Alter von sechs Jahren absolviert er drei Trainings pro Tag, in verschiedenen Altersgruppen. Mit sieben Jahren macht er 1000 Kniebeugen täglich. Wenn man ihn heute fragt, wie er diese Strapazen ausgehalten habe, sagt er lapidar: «Das ist nicht hart. Im Vergleich zur Arbeit auf dem Bauernhof ist es wie Ferien.»

Jagr bezeichnet Eishockey oft als grössten Spass, es ist seine Standardbegründung dafür, noch immer aktiv zu sein. Er hätte das alles nicht mehr nötig: die Plackerei, den Druck. Nicht nach dieser surrealen Karriere: Olympiagold, den WM-Titel, den Stanley-Cup. Jagr ist der zweitbeste Skorer der NHL-Geschichte. Er hat alles gewonnen, und nun scheitert er am Aufhören.

Jagr ist ein Getriebener, er hat sein Leben dem Eishockey verschrieben. Seit 2011 gehören ihm 70 Prozent von Rytiri Kladno, dem Klub, in dem alles begann. Und den er 2019 in die erste tschechische Liga zurückgeführt hat. Im Aufstiegs-Play-off erzielte er in elf Spielen zehn Tore. Aber er ist nicht nur der Torschütze vom Dienst. Auf der prominentesten Werbebande in der Mitte des Eisfeldes steht schlicht: «Jagr Team». Und das stimmt, in jeder Hinsicht, Jagr ist: General-Manager, Präsident, Botschafter, Spieler. Und vor allem Publikumsmagnet.

Wenn die Ikone spielt, ist das Stadion voll, auch auswärts. Ein bisschen wirkt Jagr wie eine Zirkusattraktion, ein exotisches Fabelwesen, das durch die Manege trottet. Der Spieler Jagr sei gut für das Geschäft, sagt der Manager Jagr. Im Fan-Shop gibt es neben Whiskeyflaschen jedes erdenkliche Jagr-Souvenir: Schlüsselanhänger, Trikots, Buttons. Trotzdem schöpft der Klub Jagrs Potenzial nicht restlos aus.

In Prag, wo jedes Jahr Millionen Reisende ihr Geld in den Touristenfallen rund um den Wenzelsplatz liegen lassen, findet der Klub nicht statt. Obwohl die Figur Jagr mindestens so sehr Weltkulturerbe verkörpert wie die Altstadt um die Karlsbrücke. Die «Jagr Sports Bar», gemäss Eigenwerbung die erste Sportbar Tschechiens, schloss vor vielen Jahren. So sind Kladno und Jagr ein Geheimtipp geblieben, ein Liebhaberprodukt. Wer die Exkursion doch wagt, wird mit einer Zeitreise für kleines Geld belohnt. Die Eintrittskarte gibt es ab fünf Franken.

Die Magie des Geldes

Kladno kommuniziert keine Zahlen, es ist offen, wie lukrativ es ist, in Tschechien ein Profiteam zu besitzen. Im VIP-Raum des CEZ-Stadions werden Brot mit Zwiebeln und Schinken sowie Aufbackpizza gereicht. Ein Mann sagt, um die Profitabilität des Klubs müsse man sich keine Gedanken machen, Jagr sei zu geldverliebt, um Verluste zu schreiben: «Es liegt in der Familie. Die Jagrs waren Bauern und mussten lange jede Krone umdrehen. Das tun sie heute noch. Es ist doch üblich, dass man nach einem Aufstieg in ein Team investiert, oder? Hier wird das nicht getan, Kladno zahlt die schlechtesten Löhne der Liga. Es geht nur darum, Geld zu machen.»

Der Besucher redet sich ein bisschen in Rage. Aber auch er hat ein Ticket gekauft und kann sich der Faszination Jagrs nicht entziehen. Niemand scheint das zu können in Kladno. Im Stadtkern dreht ein Bus mit Jagrs Konterfei Runden.

Geld war Jagr immer wichtig. Er verhandelte in der NHL schon in den frühen 1990er Jahren hartnäckig, als das noch als unanständig galt. Er vermarktete eine eigene Erdnussbutter – und bewarb sie damit, dass er eine Leistenverletzung damit auskuriert habe, indem er das Produkt auf die Haut aufgetragen habe. Es ist eine typische Jagr-Episode: leicht irr. Doch diese Episoden trugen zur Legendenbildung, zur Mystik dieses Ausnahmekönners bei.

Jagr hat allein in der NHL 140 Millionen Dollar verdient. Und er hat eine Schwäche für den Nervenkitzel des Geldspiels: 2003 schuldete er einem Wettanbieter eine halbe Million Dollar. Seine Besuche im Kasino gelten als legendär. Im Spiel mag das Geld bei Jagr locker sitzen, doch im Kampf um angemessene Entschädigungen für seine Arbeit war ihm jedes Mittel recht: Als die Pittsburgh Penguins ihm einst zu wenig bezahlen wollten, sagte er, er habe mit dem Team abgeschlossen. Und es sei ihm auch egal, ob er in Pittsburgh die besten Aussichten habe, einen weiteren Stanley-Cup zu gewinnen: «Ich brauche nicht noch mehr Titel, ich brauche Mädchen und den Strand.»

Die Frauen scheinen bei Jagr noch immer Priorität zu geniessen. Der tschechische Boulevard breitet die neuesten amourösen Entwicklungen jeweils in allen Details aus. Für Jagr ist das Alltag, er hat sich mit dem unablässig gleissenden Scheinwerferlicht arrangiert. Er sagt: «Es gehört zum Geschäft. Andere Leute sind berühmter als ich, es ist okay.»

Einen Tag vor der Partie gegen Karlovy Vary ist der nervöse Trubel des Matchbetriebs weit weg. Jagr dreht im Stadion einsam seine Runden. Noch immer präpariert er im Training seine Ausrüstung mit Zusatzgewichten, damit er sich im Spiel leichter fühlt.

Im kargen Vorraum der Garderobe wischt sich Brendon Nash den Schweiss aus dem Gesicht. Nash ist einer von zwei Kanadiern im Team, ein Billigarbeiter. Nash gehörte zum Aufstiegsteam, in der zweiten tschechischen Liga verdienen Ausländer zwischen 25 000 und 45 000 Euro. Pro Jahr. Er sagt, Jagr sei eine Inspiration, es sei eine Ehre, an seiner Seite zu spielen. Und dass er staune: «Ich bin 32 Jahre alt, und es gibt viele Stellen an meinem Körper, die schmerzen. Dass man mit 47 noch spielt, ist verrückt.»

«Er wird verdammt sauer»

Jagr unternimmt viel dafür, dass sein Körper nicht streikt. Er verschiebt die Grenzen, wie viel man aus sich herauspressen kann. Es gibt noch immer Tage, an denen er vier Mal trainiert. Einer, der dann oft mitarbeitet, ist Jan Kregl. Kregl ist 33-jährig und Assistenztrainer. Er sagt, es sei schwierig, Jagr zu coachen. Zu dieser Einschätzung sind viele Trainer vor ihm gekommen. Jagr galt in der NHL als «Coach Killer», weil die meisten Trainer seinen Launen hilflos ausgeliefert waren. Jagrs Stimmungsschwankungen sind berüchtigt, es ist eine Herausforderung, sie zu ertragen. In Amerika sagte er einst: «Die meisten Leute haben kein Geld und viele Freunde. Bei mir ist es umgekehrt.»

In Kladno liegen die Schwierigkeiten anderswo. Es ist seltsam, wenn der Klubbesitzer jeden Tag in der Garderobe sitzt. Der Assistenztrainer Kregl sagt, es gebe heikle Situationen. Zum Beispiel, wenn der Trainer diese und jene Konditionsübung auftrage. Und Jagr dann von Teamkollegen wissen wolle, ob sie die 100 Liegestützen auch gemacht hätten. Kregl sagt: «Er wird verdammt sauer, wenn jemand nicht alles gibt. Er hat kein Verständnis dafür, aber er muss lernen, zu tolerieren, dass nicht alle so hart arbeiten wie er.»

Der hyperkompetitive Jagr steht für Training bis zur Selbstaufgabe, für eiserne Disziplin und verbissenen Ehrgeiz. Er ist die Antithese zur tschechischen Nationalfigur Soldat Schwejk, der Romanfigur, die sich mit List und Lust durchs Leben schlug und sich mit Hingabe vor Verantwortung drückte.

Jagr hingegen geht voran und spielt so, wie er das seine ganze Karriere über getan hat. Defensivarbeit versteht er als fakultativ, den Puck passt er ungern. Aber welcher Trainer würde ihn dafür kritisieren, wenn er nicht nur der beste Offensivspieler ist, sondern auch der Klubbesitzer? Kregl sagt, das sei kein Problem, Jagr wolle gefordert werden, nicht verhätschelt. Ihn stört etwas anderes: «Jaromir ist 47-jährig. Und der beste Spieler der Extraliga. Was sagt das aus über unsere Liga?»

Die sehr erfolgsverwöhnte Eishockey-Nation Tschechien kämpft mit strukturellen Problemen – die letzte WM- oder Olympia-Medaille des Nationalteams liegt sieben Jahre zurück, die Extraliga verliert im europäischen Vergleich zunehmend an Bedeutung. Jagr will das ändern. Er führt eine Hockeyschule und sagt, sein Ziel sei es, dass Kladno über den besten Nachwuchs des Landes verfüge.

Wie passt das zusammen, Juniorenförderung und ein 47-jähriger Klubbesitzer, der nicht Platz macht? Es ist kompliziert. Jagr hält den Sport am Leben, er führt ihm Popularität zu. Die Jugendlichen im Land hängen sich seit 30 Jahren Poster mit seinem Antlitz übers Bett, ihre Eltern melden sie in den Klubs an und hoffen, dass irgendwann etwas Ruhm abfällt. Der langjährige NHL-Stürmer Tomas Plekanec, auch er ein Kind Kladnos, sagt: «Ohne Jagr würde es den Klub nicht mehr geben.»

Das Spiel gegen Karlovy Vary ist zu Ende gegangen, Kladno verliert 4:5 nach Verlängerung, ein Tor und zwei Assists Jagrs waren zu wenig. Der König von Kladno ist wütend wegen eines trivialen Qualifikationsspiels. Mehrfach legt er sich mit dem Schiedsrichter an, einmal auch mit der gegnerischen Bank. Den vereinbarten Interviewtermin sagt er ab. Er sei nicht in der Stimmung zu reden.

Ein paar Tage später meldet sich Jagr per E-Mail. Er denke nicht ans Aufhören. Warum auch? Nach einem Rücktritt müsse er ja auch fit bleiben, er wolle schliesslich «nicht fett werden». Also schreibt er: «Wenn ich meinem Team etwas bringe, werde ich bis 50 weiterspielen.»

Wer Jaromir Jagr erlebt, in diesem Winter, wie er mit wehenden Locken die Gegner vernascht und das Publikum entzückt, sieht keinen Grund, wieso das anders sein sollte in drei Jahren.

Der alte Mann und das Eis: In Kladno ist das eine Symbiose für die Ewigkeit.

Der Text stammt aus dem Februar 2020 und wurde im September 2024 nach der Rücktrittsankündigung von Jagr geringfügig angepasst.

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