Donnerstag, Oktober 10

Philipp Bagus ist ein libertärer Weggefährte des argentinischen Präsidenten und hat ein Buch über ihn geschrieben. Im Interview erklärt der Ökonomieprofessor, warum das Eintreten für wirtschaftliche Freiheit auch eine Frage der Moral ist und was liberale Parteien von Milei lernen können.

Herr Bagus, Sie kennen den argentinischen Staatspräsidenten Javier Milei seit Jahren persönlich. Was unterscheidet den Privatmenschen Milei vom Politiker Milei?

Sehr wenig. Milei ist als Politiker authentisch, er verstellt sich nicht, sondern sagt ehrlich und geradeheraus, was er denkt. Er ist auch als Politiker er selber. Die Leute merken das, in der Bevölkerung geniesst er grosse Sympathien.

Milei ist laut und schrill, im Wahlkampf trat er mit Kettensäge auf und rockte auf der Bühne. Das wirkt, zumindest nach europäischen Massstäben, exzentrisch, um nicht zu sagen: verrückt.

Exzentrisch ist Milei sicher, aufbrausend ebenfalls. Wenn er Heuchelei und Lügen sieht, macht ihn das wütend. Früher musste er besonders laut sein, um sich Gehör zu verschaffen. Er war ein Aussenseiter, einer gegen viele, man hätte ihn in den Talkshows sonst gar nicht zu Wort kommen lassen. 2021 ist er als Quereinsteiger in die Politik gegangen, ohne Partei. Das Konfrontative und Direkte ist mit ein Grund für seinen Erfolg. Zudem vertritt Milei klare moralische Werte. Den Staat hält er für unmoralisch, weil er auf Zwang aufgebaut ist. Steuern sieht er als Diebstahl, weil sie vom Staat zwangsweise erhoben werden.

Milei bezeichnet sich selbst ja als Anarchokapitalisten. Wie geht er mit dem Widerspruch um, dass er als Anarchokapitalist den Staat abschaffen will und gleichzeitig der höchste Repräsentant dieses Staates ist?

Philosophisch gesehen ist Milei ein Anarchokapitalist: Für ihn ist der Staat das eigentliche Problem, er glaubt an die Individuen. Gleichzeitig ist diese Haltung in der Praxis heute nicht umsetzbar. Milei ist Realist genug, um das zu sehen. Sein Ziel ist es, den Staat auf seine Grundfunktionen zurückführen, ihn auf einen Minimalstaat zu reduzieren. Das zu erreichen, ist schon schwer genug. Milei hat keine Mehrheit im Parlament, er kann also nicht alles machen, was er gerne möchte.

Politiker, die dem Wahlvolk nur Blut, Schweiss und Tränen in Aussicht stellen, haben meistens keine Chance auf Erfolg. Warum ist das bei Milei anders? Warum wird er auch von den unteren sozialen Schichten unterstützt?

Tatsächlich erhielt Milei in den ärmsten Vierteln von Buenos Aires besonders hohe Zustimmung. Er hat den hart arbeitenden Argentiniern zehn Jahre lang erklärt, dass sie es sind, die am meisten unter dem Staat leiden, dass sie durch den Sozialismus verarmt sind und dass es schmerzhafte Reformen braucht, um Argentinien wieder zu einem wohlhabenden Land zu machen. Die Leute haben das verstanden und ihn gewählt – im Wissen, dass harte Einschnitte auf sie zukommen werden. Das ist tatsächlich einzigartig. Der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Beispiel hat mit seiner Arbeitsmarkt-Agenda nicht Wahlkampf gemacht.

Mit seinen Vorträgen über die Österreichische Schule der Nationalökonomie, etwa über Hayek, von Mises, Rothbard, zieht Milei Tausende Interessierte an. Dabei sind solche Themen kaum massentauglich. Wie ist das zu erklären?

Ja, das ist eigentlich unglaublich. Milei hat die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich darzulegen, ohne den Inhalt zu verwässern. Jeder kann seine Ausführungen verstehen. Durch seine Fernsehauftritte und über die sozialen Netzwerke hat er Kultstatus erlangt. Er will, dass die Zuhörer und insbesondere die Jungen sich weiterbilden, er gibt ihnen Listen mit Werken, die sie lesen sollen. Das funktioniert: Seine Anhänger sind in der Lage, die libertären Überzeugungen gegen andere Ideen zu verteidigen. Und er hat über Argentinien hinaus Erfolg. In Madrid habe ich beispielsweise eine Kioskverkäuferin, eine einfache Frau, dabei angetroffen, wie sie sich ein Youtube-Video ansah, auf dem Milei über Libertarismus redete. Libertär zu sein, ist cool. In Argentinien trugen die Jungen früher T-Shirts mit Che Guevara vorne drauf, jetzt ist es Milei.

Zum Wirtschaftsprogramm: Milei ist seit Dezember 2023 im Amt. Was hat er konkret erreicht?

Als er Präsident wurde, stand Argentinien vor dem Abgrund, es drohte eine Hyperinflation. Die Armutsrate war sehr hoch, und sie drohte weiter zu steigen. Doch bereits im Januar 2024 gab es einen Haushaltsüberschuss. Das war entscheidend, um die Hyperinflation abzuwenden und um die Budgetsituation zu entspannen. Für Milei ist dieser monetäre Anker, wie er das nennt, nicht verhandelbar. Er legt konsequent das Veto ein gegen jede neue Ausgabe, die wieder zu Defiziten führen würde. Die Inflation ist inzwischen auf vier Prozent zurückgegangen. Er hat die Transfers zu den Provinzen gestrichen, alle Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt. Er hat die Ministerien zusammengestrichen, 30 000 Staatsbedienstete entlassen und zu Beginn die Sozialausgaben unterhalb der Inflationsrate erhöht. Damit konnte er die realen Staatsausgaben in den ersten 100 Tagen real um 35 Prozent kürzen. Das ist historisch einmalig.

Was lief in Sachen Deregulierung?

Milei hat kurz nach Amtsantritt rund 300 Massnahmen zur Deregulierung verabschiedet. Dazu gehört auch die Abschaffung der Mietpreisbremse, was den Wohnungsmarkt spürbar belebt hat. Es kommen wieder mehr Wohnungen auf den Markt, die Mieten sind real gesunken. Im Juni wurde auch ein Privatisierungsgesetz verabschiedet. Ursprünglich wollte Milei über vierzig Staatsbetriebe privatisieren, jetzt sind es nur vier bis acht.

Auch Milei muss also Kompromisse machen. Trotz seiner Ankündigung im Wahlkampf, er werde sich eher einen Arm abschneiden, als Steuern zu erhöhen, hat er auch Steuern erhöht.

Ja, er hat die Importsteuer erhöht. Im Gegenzug hat er aber die zuvor extrem hohe Inflationssteuer zurückgefahren. Netto sind die Steuern gesunken.

Hat der Wortbruch zu einer Entzauberung Mileis geführt?

Nein, denn er hat die Massnahme überzeugend begründet. Er sagte, die Steuererhöhung missfalle ihm aus libertärer Sicht, aus politischer Sicht gebe es aber keine Alternative. Kritik kam übrigens nicht aus der Bevölkerung, sondern von einigen Libertären, die in ihren Modellwelten leben und zum Teil mit Neid auf Milei blicken. Milei wirft ihnen vor, die Zwänge der Politik nicht zu kennen.

Sie vergleichen das heutige Argentinien mit dem zerbombten Nachkriegsdeutschland. In Deutschland dauerte es einige Jahre, bis es zum Aufschwung kam. Wie lange kann Milei die Bevölkerung auf bessere Zeiten vertrösten, bevor die sozialen Spannungen zu gross werden?

Nach dem Amtsantritt Mileis stieg die Armutsquote, da die Währung abgewertet wurde und die Einkommen – in Dollar gerechnet – sanken. Seit dem zweiten Quartal steigen die realen Löhne und Renten wieder. Die Talsohle scheint im April oder Mai durchschritten worden zu sein. Die Autoverkäufe, die Ölförderung, die Zementproduktion erholen sich. Es sieht so aus, als ob das Wachstum jetzt beginnt.

Milei stellt sich offen gegen die internationalen Eliten. Beispiele sind seine Reden am WEF in Davos oder an der Uno-Vollversammlung, wo er sich gegen die Agenda 2030 und den Zukunftspakt stellte. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass er mit solchen Auftritten die Schweigespirale durchbreche. Sehen Sie Nachahmer, die es Milei nun gleichtun?

In Davos und vor der Uno hat Milei den globalistischen und sozialistischen Eliten die Leviten gelesen und als Alternative eine Agenda der Freiheit vorgeschlagen. Nachahmer gibt es durchaus. So hat der salvadorianische Präsident Nayib Bukele vor der Uno den Respekt des Privateigentums eingefordert. Und Donald Trump erklärt, er wolle – wie Milei – ein Ministerium für Deregulierung schaffen und einen Libertären in sein Kabinett berufen. Das mag Opportunismus sein. Aber wenn Mileis Politik funktioniert und bei den Leuten ankommt, werden sich andere Politiker eine Scheibe davon abschneiden wollen.

Wie kommt das in Argentinien an, dass er auch ein globales Publikum sucht?

Die Opposition kritisiert ihn wegen seiner Auslandreisen, das sei zu teuer. Doch innenpolitisch gibt es mehr Plus- als Minuspunkte. Milei betont, Argentinien sei zurück auf der Weltbühne. Noch vor zwei Jahren hat sich niemand für das Land interessiert. Jetzt sind Argentinien und Milei in aller Munde. Milei trifft sich mit Elon Musk, Mark Zuckerberg, gewinnt Preise, hält Reden, die Aufsehen erregen. Darauf sind die Argentinier stolz.

Milei geht es nicht nur um Wirtschaftsreformen. Fast noch wichtiger erscheint ihm der Kulturkampf im Sinne moralischer Werte. Ist es Aufgabe der Liberalen, moralische Werte zu propagieren?

Milei hält es für einen Fehler, dass sich viele Liberale auf die Wirtschaft beschränken und den Kapitalismus nur deshalb befürworten, weil er effizient ist und der Sozialismus zu Armut führt. Für Milei ist das ein moralisches Thema. Der Sozialismus sei unmoralisch, weil er auf Zwang beruhe. Der Kapitalismus hingegen sei gerecht, weil er auf freiwillige Kooperation setze. Diese Sicht ermöglicht einen emotionaleren Zugang zu den Menschen. Sozialisten halten sich ja oft für moralisch überlegen, dabei ist das Gegenteil der Fall: Sie setzen auf Neid und Missgunst, und ihre Ideologie hat im 20. Jahrhundert weit über 100 Millionen Tote verschuldet.

Ist es Milei gelungen, dieses Narrativ, dass die Linken die «Guten» sind, zu ändern?

Ja, die Argentinier durchschauen die sozialistischen Lügen, die an edle Gefühle appellieren, um niedere Instinkte zu verbergen. Javier Milei zeigt, dass das Konzept der «sozialen Gerechtigkeit» unsozial ist, weil es darauf hinausläuft, dem einen etwas zu stehlen, um es dem anderen zu geben. Es impliziert eine ungleiche Behandlung vor dem Gesetz. Die Wähler wenden sich ab von den Linken und ihren Versprechen von sozialer Gerechtigkeit.

Was können liberale Parteien anderer Länder von Milei lernen?

Milei wendet sich über die sozialen Netzwerke direkt ans Volk. Und er spricht über Moral, lässt sich hier also nicht von der Linken in die Defensive drängen. Seine Rhetorik ist radikal: Der Staat ist der Feind, Politiker sind Parasiten, die auf Kosten der hart arbeitenden Bevölkerung leben. Diese Rhetorik hat gut funktioniert – und könnte auch von anderen liberalen Parteien genutzt werden.

Wobei der Leidensdruck in Argentinien nach Jahrzehnten der Misswirtschaft wohl grösser ist als anderswo.

Ja, Milei hat selbst gesagt: Dass ich an die Macht gekommen bin, zeigt, dass Argentinien grosse Probleme hat. Ohne die wirtschaftliche Misere wäre er nicht gewählt worden. Zuvor hatte man alles Mögliche versucht. Dann kam Milei und versprach etwas ganz anderes, Radikales. Man kann das Modell Milei zwar kopieren, aber wahrscheinlich geht es den Menschen vielerorts noch zu gut, als dass es ähnlich erfolgreich sein könnte.

Sie sind also überzeugt, dass Milei erfolgreich sein wird?

Wenn er die Reformen umsetzen kann, die er umsetzen will, und wenn das Volk geduldig genug ist, dann wird das eine Erfolgsgeschichte. Wenn andere sehen, dass die liberalen Rezepte funktionieren, werden sie Ähnliches ausprobieren. Zuerst in Lateinamerika, dann in der ganzen Welt. So wie der Fall der Berliner Mauer den Bankrott des Sozialismus besiegelte, könnte Milei den Bankrott des Etatismus einläuten. Das Phänomen Milei sollte nicht unterschätzt werden.

Libertärer Ökonom und Vertrauter von Milei

tf./fon. Philipp Bagus ist deutscher Ökonomieprofessor und lehrt an der Universität Rey Juan Carlos in Madrid. Er ist befreundet mit dem argentinischen Präsidenten Javier Milei und teilt mit diesem die Leidenschaft für den Libertarismus und die Österreichische Schule der Nationalökonomie. Diese Schule wird mit Namen wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises assoziiert und setzt auf Eigenverantwortung und die freie Interaktion der Individuen. Der 1980 geborene Bagus hat diesen September ein Buch mit dem Titel «Die Ära Milei. Argentiniens neuer Weg» veröffentlicht. Im Vorwort dazu beschreibt Milei seine Transformation vom ehemals staatsgläubigen Ökonomen zum überzeugten Liberalen.

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