Freitag, August 22

Er hat den Slogan «Geiz ist geil» erfunden. In seinen Anekdoten aus dem Leben als Werber geizt er allerdings weder mit Selbstlob noch mit Eitelkeit.

Zuerst die gute Nachricht: Dieses Buch muss man nicht lesen. Das sagt sogar sein Autor, der Werbestar Jean-Remy von Matt. Denn es sei «das erste Buch der Literaturgeschichte, das mit Absicht von Anfang bis Ende immer schlechter wird». Man könne getrost aufhören zu lesen, sobald die Geschichten einen zu langweilen begännen. Er bitte sogar darum, er wolle niemandem Lebenszeit stehlen.

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Nun leider die schlechte Nachricht: Man liest das Buch dann trotzdem. Weil man herausfinden möchte, wie schwach ein Buch werden kann, wenn einem schon das erste Kapitel wie ein allzu dünnes Süppchen vorkommt. Aber gehört das nicht zum Geschäft der Werber: Menschen Dinge machen zu lassen, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden?

Immerhin ist der Mann eine grosse Nummer in der Werbeszene. Er hat 1991 zusammen mit Holger Jung die Agentur Jung von Matt gegründet und in Deutschland einige der bekanntesten Werbekampagnen geführt. «Geiz ist geil» gehört zu den ikonischen Schöpfungen der Agentur.

Jean-Remy von Matt hat sich inzwischen aus dem operativen Geschäft zurückgezogen. Irgendwann sei er zu der Einsicht gelangt, «dass meine beste Zeit hinter mir liegt». Darum habe er als Werber aufgehört – und als Künstler neu begonnen. Endlich frei, endlich «unabhängig von Ängsten und Launen der Auftraggebenden». So erzählt es von Matt im Prolog zu seinem Buch, das unter dem Titel «Am Ende» steht, aber vor allem eines behauptet: dass hier einer noch längst nicht am Ende ist.

Liebe zu Drama und Pathos

Der Titel ist das Zweitbeste an dem Buch, weil er das Gegenteil von dem besagt, was er eigentlich meint. Das Beste an dem Buch aber ist seine Entstehungsgeschichte. Sie suggeriert, da werde ein Manuskript dem härtesten Test unterworfen, und es schreibe allein darum schon Geschichte. Sechs Lektoren haben die Kurzkapitel auf einer 10er-Skala benotet; alles, was nicht über einen Fünfer-Schnitt hinauskam, flog raus. Die übrig gebliebenen Kapitel wurden in absteigender Folge ihrer Benotung sortiert.

Man merkt, Jean-Remy von Matt liebt es dramatisch, er denkt gross, das Leben muss riskant sein, und umso grösser sind das Pathos und das Selbstbewusstsein. Über die Kreativität, immerhin von Matts Kernkompetenz, schreibt er, und wir sind da noch immer im Prolog: Sie sei «das Schiesspulver des Kommunikationszeitalters, die Quelle aller Innovation, der Hebel allen Wachstums».

Wenn es etwas gibt, an dem von Matt nicht leidet, dann ist es falsche Bescheidenheit. Wahrscheinlich ist ihm das Wort auf wundersame Weise einfach fremd geblieben. Das hat etwas Erfrischendes in Zeiten, da zu viele an zu wenig Bescheidenheit leiden und es noch nicht einmal merken.

Aus der Klosterschule geflogen

Als Werber war von Matt ein Künstler, als Künstler (und Autor) muss er sich nun als Werber in eigener Sache beweisen. Wenn Kreativität das «Schiesspulver des Kommunikationszeitalters» ist, dann sind Erfindungen die schöneren und genaueren Wahrheiten eines von keinen Zweifeln angekränkelten Egos. Wir erfahren in «Am Ende» (Untertitel: «Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben»), dass von Matt in die Klosterschule Einsiedeln geschickt wurde. Diese katholische Kaderschmiede hatte schon damals einen etwas ramponierten Ruf und war ein Ort geworden, wo aufsässige Schüler aus dem Geist der 68er ihre Kutte abwarfen und theatralisch gegen die Herrschaft der Mönche rebellierten.

In einem Interview mit dem «Spiegel» beichtet von Matt, wie er von der Schule flog. Er sei eines Tages beim Rauchen oder mit einem Erotikmagazin erwischt worden. Zur Strafe sollte er hundert Mal «Gelobt sei Jesus Christus» schreiben. Er habe stattdessen hundert Mal «Scheisse» geschrieben, das habe gereicht. Heute aber erzähle er die Geschichte anders, sagt er. Nicht «Scheisse», sondern «Gelobt sei die Freiheit» habe er geschrieben. So sei die Geschichte schöner. Vermutlich flog das Kapitel aus dem Manuskript, es befindet sich nicht im Buch. Freilich warnt von Matt auch davor, dass zwar alle Geschichten in seinem Buch einen wahren Kern hätten. «Aber man muss damit rechnen, dass ich bis zu 15 Prozent dazudichte.»

Keine Dichtung, aber nichts als die Wahrheit ist das Dach, das er über seinem Berliner Wohnhaus errichten liess. Es hat die Form einer weiblichen Brust, der Kamin markiert die Brustwarze. Im Gespräch mit dem «Spiegel» erklärt er, was es damit für eine Bewandtnis hat: «Ich fand, in Zeiten von Google Earth sollte Architektur auch von oben etwas bieten. Die Idee war, die allererste Form zu nehmen, die der Mensch in seinem Leben begehrt.»

Diebische Freuden eines Lausbuben

Vielleicht handelt es sich bei dieser Extravaganz um einen späten Ausläufer jener pubertären Regungen, die ihn im Kloster in Schwierigkeiten gebracht hatten. Und bezog nicht die ganze aussergewöhnliche Karriere als Werber – als «Kreativer», wie von Matt lieber sagt – ihre wahre Energie aus dieser frühen Quelle?

Denn noch fast jede Werbekampagne durchströmt die Anmutung eines genialisch angehauchten Lausbubenstreichs. Das gilt erst recht für manche Exzentrik der Inneneinrichtung in von Matts Haus. Auf seinem Steinway-Flügel spielt er zwar täglich, aber immer nur Beethovens «Mondscheinsonate». Etwas anderes hat er angeblich nicht gelernt. Und im Wohnzimmer dient ihm als Heimkino einer der legendären Citroën-Lieferwagen.

In seinen Anekdoten unterschlägt von Matt nie, welch diebische Freude und wie viel anhaltender Stolz er bei seinen besten oder ausgefallensten Werbekampagnen noch heute empfindet. Fast triumphierend erzählt er, wie es ihm gelungen sei, für den Springer-Chef Mathias Döpfner einen kleinen Werbegag zu realisieren. Zur Bundestagswahl in diesem Jahr erschien die «Welt am Sonntag» am 23. Februar unter dem Namen «Wählt am Sonntag». Die Idee war nicht ganz neu. Von Matt brauchte in acht Jahren drei Anläufe und drei Bundestagswahlen, bis seine Idee den letzten Widerstand im Verlagshaus überwunden hatte.

Beklagt sich Jean-Remy von Matt in seinem Buch auch ein Dutzend Mal zu oft darüber, wie viele seiner Ideen in einem «Bedenkenmeer» versenkt worden seien, so vermittelt er doch den Eindruck: Was er anpackt, gelingt ihm. Und selbst Niederlagen verwandelt er in strahlende Siege. Als er einmal – aus Geiz – einen Ausflug in Venedig mit einer überteuerten Murano-Vase bezahlen musste, rächte er sich zu Hause an dem Glasungeheuer: Er steckte ein paar weisse Klobürsten verkehrt herum hinein, als wären es Hortensien. Er nennt es «Mein erstes Ready-made»; es war seine Geburtsstunde als Künstler.

Man glaubt beim Lesen seines Buches eine Ahnung zu erhalten, woher ihm diese unverwüstliche Vitalkraft zugewachsen sein könnte. Nicht umsonst erzählt der erste Text von seiner Mutter, die eine ebenso temperamentvolle wie grosszügige Frau gewesen sein muss. «Keine Mutter log so schlau und schön wie unsere.» Gleichgültig, wie schrecklich die Dinge waren, die den Kindern widerfuhren: Ob tote Goldfische oder kleine Wunden, stets erfand sie eine Geschichte, die das Ereignis verpackte und entschärfte. Waren es Lügen? Vielleicht, aber jedenfalls waren es Akte der Phantasie und eine Vorschule für den späteren Geschichtenerfinder.

In dem Buch werden noch weitere Muttergeschichten erzählt. Ob sie erfunden sind oder nicht, ob zu neunzig oder nur fünfzehn Prozent, ist ganz und gar unerheblich. Sie zeichnen das Bild einer bis in die Tage ihres Todes couragierten Frau. Und sie zeigen, woher dieses grosse Kind namens Jean-Remy von Matt seine unzerstörbare Zuversicht erhalten hat.

Jean-Remy von Matt: Am Ende. Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben. Econ-Verlag, Berlin 2025. 240 S., Fr. 37.90.

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