Mittwoch, April 30

Der Welt gehe es immer schlechter, das ist ein verbreiteter Glaube. Der Soziologe Heinz Bude widerspricht. Die Krisenstimmung könne bewirken, dass die ganze Gesellschaft wieder politischer werde.

Man muss sich Heinz Bude als einen Boomer vorstellen. Einen Boomer, wie er, der Soziologe, ihn selber definiert: einen Menschen von heiterer Gelassenheit selbst angesichts von Krisen und Katastrophen. Bude nennt es «lakonischen Existenzialismus». Dieser zeichne die Generation der geburtenstarken Jahrgänge aus. Mit Geburtsjahr 1954 zählt sich Bude knapp noch zu der Kohorte, die so schnell nichts umwirft.

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Mit federndem Schritt überquert Bude das Kopfsteinpflaster in Prenzlauer Berg im Nordosten Berlins. Cafés, Buchläden, ein Modegeschäft namens Woodstock. Das Gesicht unter dem Borsalino sieht jugendlich aus, das Lächeln auf den Lippen verschwindet auch dann nicht, wenn Bude die Gegenwart seziert, in der sich so viel ereignet, dass es vielen «zu viel» wird, wie sie dann sagen.

Der emeritierte Professor ist einer der bedeutendsten Soziologen Deutschlands. Er hat Bücher über die Gesellschaft der Angst, über Solidarität und die Macht von Stimmungen geschrieben. In seinem jüngsten Buch «Abschied von den Boomern», das letztes Jahr im Hanser-Verlag erschienen ist, analysiert er die zwischen 1955 und 1970 Geborenen, die nun nach und nach in Rente gehen.

Verschwinden tun sie dabei nicht, im Gegenteil: Weil sie «so viele sind», in Budes Worten, bleiben sie sichtbar. Interessant als Zielgruppe für die Wirtschaft, belastend für das Renten- und das Gesundheitssystem. Auch besetzten sie weiterhin «die Eliten-Ränge in Wissenschaft und Politik», sagt Bude. Das beste Beispiel dafür sei der mutmassliche neue Bundeskanzler Friedrich Merz mit Jahrgang 1955.

«Früher war nichts besser»

Es herrsche eine «grosse Gereiztheit» in der Gesellschaft, hat Bude schon vor ein paar Jahren konstatiert. Die Menschen sähen sich technologischen Entwicklungen ausgeliefert, sie fühlten sich verlassen, bevormundet, übergangen. Abstiegsängste plagten sie, Erschöpfungsdepressionen, und die Politik verdriesse sie nur noch.

Allerdings reklamiert Bude für seine Generation eine Haltung, die zum Vorteil werden kann in einer Zeit der Polykrisen. Weshalb also gelingt es den Älteren besser, mit den Zumutungen der Gegenwart umzugehen, während die Jüngeren das Weltgeschehen zunehmend zu bedrücken scheint?

«Früher war nichts besser», stellt Bude klar, während er im Strassencafé einen Cappuccino trinkt und ein Croissant isst, offenbar sein Mittagessen. Die Babyboomer seien «im Nachbeben des Weltkriegs aufgewachsen». Er erinnert sich an den Coiffeur mit dem Holzbein, den Nachbarn ohne Arm, an die beschädigten Körper, die zum Alltag gehörten. Dazu die Lehrer, von denen alle wussten, dass sie Nazis waren.

«Meine Generation weiss, was Krieg bedeutet, ohne ihn erlebt zu haben», sagt Bude. Weil sie nichts mehr mit dem Krieg zu tun gehabt hätten, sei in sie viel Hoffnung gesetzt worden. Nur, und das ist für ihn das einigende Lebensgefühl der Boomer: «Wir waren zu viele. Wir sind eine Generation ohne Mission und ohne Gestalt.»

Gewappnet für die Katastrophe

Den Blick der Boomer auf die Welt hätten zwei Krisen in den 1980er Jahren geprägt, so Bude: Aids und Tschernobyl. Dies habe zu einer «Resilienz aus Kontingenz» geführt. Damit meint er eine psychische Robustheit, die man sich zulegt, weil man jederzeit mit etwas Unvorhergesehenem rechnet. Weil wenig sicher ist, kann vieles anders werden.

Die fehlende Erwartung, dass es linear besser werden müsse, schütze vor Resignation und Verbitterung. «Nach jedem Ende kam ein Anfang.» Dabei seien die Boomer keine «blöden Optimisten», sondern sie hätten erkannt, dass das Leben voller Zufälle sei. «Das reduziert das Klagebedürfnis», sagt Bude. «Wir lassen uns weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft terrorisieren. Wir wissen, wie viel schiefgehen kann.»

Sie hat etwas Stoisches, diese Haltung: Man erwartet die Katastrophe und wird durch ihr Ausbleiben positiv überrascht. Oder ist, falls sie eintrifft, weniger erschüttert. Doch die Lebensphilosophie der Stoiker aus der Antike ist Bude zu abgeschlossen. Er schlägt «positive Geworfenheit» vor. Boomer blickten mit einer existenziellen Ironie auf das Leben. Ihr Stilmerkmal ist Lakonie.

Darin sieht er auch einen Unterschied zu den 68ern, «die wie Karikaturen aussahen und sich auch so verhielten». Von deren Aufbruchstimmung, dem Hedonismus, dem utopischen Glauben an eine andere, bessere Welt seien die Boomer weit entfernt gewesen. Denn sie hätten gewusst: «Wir haben nur diese Welt.»

Bude weiss, dass er auch übertreibt und jedes Leben individuelle Abweichungen kennt. «Generation Plauderton», hat die «TAZ» über seine Generationenbetrachtung geschrieben. Man spürt seine Lust, sich die Zuschreibungen auszudenken. Es ist inspirierend, ihm dabei zu folgen. Erhebt man Widerspruch, weil die Abgrenzung einer Generation von der anderen immer etwas Willkürliches hat, geht er darauf ein. Und gibt einem tendenziell recht.

So hatte auch Bude seine rebellische Phase und besetzte in den 1980er Jahren Häuser, um gegen fehlenden bezahlbaren Wohnraum in Berlin zu protestieren. Über jene Zeit hat er zusammen mit zwei Autorinnen den Roman «Aufprall» geschrieben.

Konkurrenz als Antrieb

Die Boomer waren zu viele, und aus diesem Gefühl erwuchs eine hohe Leistungsbereitschaft. Denn die Zahl der Konkurrenten ist gross, also braucht es einen starken inneren Antrieb, um etwas zu erreichen. Nur 5 Prozent der Boomer-Jahrgänge hätten keinen Berufsabschluss, sagt Bude. Heute liege die Zahl in Städten wie Berlin bei 20 Prozent. Man musste besser sein, sich gegen den Banknachbarn durchsetzen. «Gleichzeitig war da das tröstliche Gefühl, dass es anderen auch so geht und man nicht alleine ist.»

Dennoch erhebt sich Bude nicht über die anderen Generationen, schon gar nicht über die Jungen, von denen es heisst, sie hätten lauter Ansprüche, scheuten sich aber, etwas dafür zu leisten. Er bezweifelt dies. Den Begriff «woke» findet er abschätzig, überhaupt meidet er das kulturkämpferische Vokabular. Als die Jungen auf Social Media Leute seines Alters mit «Okay, Boomer» verspotteten, nahm er das hin.

Ganz durchgehen lässt er den identitätspolitischen Eifer der jungen, links denkenden Generation aber nicht. Bude spricht von der «Verrechtlichung der Lebenswelt» und sagt: «Falls ich jemanden falsch anspreche, könnte ich eine Ordnungswidrigkeit begehen. Da ist eindeutig etwas schiefgelaufen.» Hinter dem Wunsch, alles geregelt zu haben, damit nichts Ungerechtes geschieht, erkennt er eine Verzagtheit und Verlorenheit. Ohne dass er es sagt, möchte man anfügen: die in seiner Generation seltener anzutreffen sind.

Nun wendet sich der Zeitgeist. Das vernünftige Argument könnte wieder mehr gelten als verletzte Gefühle. Bude stimmt zu. Was wir jetzt erlebten, sei «ein Innehalten»: «Man zieht Bilanz und fragt sich: War das wirklich alles gut?» Barack Obama habe gesagt: «What if we were wrong?» Was, wenn wir uns geirrt haben?

Es beunruhige ihn, dass sich Linke diese Frage nie stellten. «Man kann nicht immer nur sagen, Donald Trump sei an allem schuld.»

Politiker mit Überzeugungskraft

Als Experte für gesellschaftliche Stimmungen nimmt Bude ein grosses Bedürfnis wahr, «gekränkt zu sein». Jeder fühle sich gedemütigt, obwohl er ein Leben führe wie bisher. Er nennt es Irrsinn: Man müsse wieder mit der Verrücktheit der Gesellschaft zurechtkommen. Viele empfänden das Versprechen von Demokratie, Gleichheit und Freiheit als Lüge. Daraus erwachse das Ressentiment.

«Erinnern wir uns, wie anders das vor ein paar Jahren war», sagt Bude über sein Land. «Während der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland hiess es: die Welt zu Gast bei Freunden. Überall wurden schwarz-rot-goldene Fähnchen geschwenkt. Man strahlte aus, wie gut gelaunt die Welt ist. Wo ist das alles hin?»

Dafür macht er die Politik verantwortlich. Inzwischen lebe man in einer «Zuschauerdemokratie», in der alle darauf warteten, dass jemand im Stadion erscheine. Trump nutze diese Sehnsucht. Bude gibt auch dem amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance recht, der an der Sicherheitskonferenz in München den Europäern vorwarf, sie hätten Angst vor dem eigenen Volk. Nun entdecke Europa die Politik wieder und merke: Nichts ist unpolitisch, schon gar nicht die Stimmung.

«Wenn wir Europäer kapieren, dass man die Welt durch politisches Handeln verändern kann, wird auch die Stimmung besser», sagt Bude. «Gegen den Autoritarismus hilft nur die Autorität der Politik.»

Schliesslich sieht er es aber nicht so dramatisch wie manche Soziologen, welche die Krisenstimmung als Verlusterfahrung deuten: als das Ende der Gewissheit, dass es immer besser werde. Die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen sei durch Zugewinne gekennzeichnet, sagt Bude. Es gebe genügend Jobs, es sei möglich, politisch etwas zu bewirken. Man traue sich aber wenig zu. «Es gibt eine Skepsis gegenüber sich selbst, ein Unvertrauen.» Dabei sei, mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein gesprochen, Zutrauen die Bereitschaft, aufzuhören zu zweifeln.

Jetzt spricht wieder der Boomer: «Wenn alles so schlecht ist, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als Zutrauen zu sich selbst zu haben.» Daran mangelt es ihm nicht.

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