Die Zürcher Retrospektive bietet einen umfassenden Überblick über das Schaffen der weltweit berühmtesten Vertreterin der Performancekunst.
Man muss sich nicht zwischen den beiden Nackten hindurchzwängen, um im Kunsthaus Zürich in die Ausstellung von Marina Abramovic zu gelangen. Aber man kann. Man muss in dieser Schau auch nicht mitleiden in Anbetracht der schmerzhaften Exerzitien, die die serbische Performancekünstlerin vor vielen Jahren immer wieder am eigenen Körper durchgeführt hatte. Aber man kann, wenn man sich nur genügend in die gezeigten Videos in der grossen Retrospektive vertieft.
Man muss sich auch nicht ekeln vor dem Haufen Rinderknochen, denn diese sind fake und aus Kunststoff gemacht. Aber auch so erfährt man, wie die echten Knochen einen fürchterlichen Verwesungsgeruch verströmten, als sie Gegenstand der Performance «Balkan Baroque» waren. 1997 schrubbte Abramovic an der 47. Biennale von Venedig während vier Tagen das Blut von den Knochen und sang dazu Volkslieder aus ihrer Kindheit.
Mit ihren immer wieder schockierenden Performances rückt einem Abramovic in der Kunsthaus-Retrospektive nur so weit auf den Leib, wie man es zulässt. Unter die Haut geht hier ihre Kunst nur in selbstbestimmten Dosen. Das liegt in der Natur dieser Schau. Performancekunst ist unmittelbar und flüchtig. Sie kann im Museum nur beschränkt vermittelt werden.
Und hätte Marina Abramovic sich nicht schon am Anfang ihrer Künstlerkarriere dazu entschlossen, ihre Werke minuziös mit Foto und Film aufzuzeichnen, wäre eine solche Retrospektive gar nicht erst zustande gekommen. Es wäre unmöglich, das Gesamtwerk der berühmtesten Performancekünstlerin der Welt in einem solch umfassenden Überblick erleben zu können, wie ihn nun das Zürcher Kunsthaus bietet.
Kompromissbereitschaft
Allerdings kann man sich auf dem Rundgang durch die labyrinthisch angelegte Ausstellung mit ihren wandfüllenden Fotos und Videos – alles Schlüsselwerke, gezeigt in lockerer chronologischer Abfolge – fragen, ob diese Präsentation nicht einen Verrat am Geist der Performancekunst darstellt. Warum etwa ging jetzt im Kunsthaus die Künstlerin für ihre legendäre Performance «Imponderabilia» – Unwägbarkeiten – einen Kompromiss ein?
Erstmals führte sie diese Arbeit 1977 zusammen mit ihrem damaligen Partner Ulay in Bologna auf. Damals standen Abramovic und Ulay unter dem Türbogen der Galleria Comunale d’arte moderna einander nackt und so dicht gegenüber, dass sich zwischen ihnen hindurchzwängen musste, wer in die Ausstellung gelangen wollte.
Heute im Kunsthaus, wo die «lebende Tür» von zwei Darstellern nachgestellt wird, verlangen es die feuerpolizeilichen Auflagen, dass man auch links oder rechts einen Eingang wählen kann, der nicht von Nacktheit verstellt wird. Marina Abramovic selber meinte dazu, sie sei mit ihren bald 78 Jahren genug weise, um solche Kompromisse einzugehen. In jüngeren Jahren wäre das für sie allerdings auf keinen Fall denkbar gewesen.
Hätte Abramovic früher nicht über jene kompromisslose Radikalität verfügt, mit der sie sich einen Stern in den nackten Bauch ritzte, bis sie blutete, oder sich in einen sternförmigen Feuerkranz legte, aus dem sie vor dem Verbrennen gerettet werden musste, wäre sie wohl nie zu der Ikone der Performancekunst geworden, die sie heute ist.
Energie aus der Natur
Heute performt Abramovic nicht mehr selber. Die Zeiten ihres extremen Körpereinsatzes für die Kunst seien vorbei, sagt die Künstlerin. Dafür gründete sie in New York das Marina Abramovic Institute (MAI), das Kunstschaffende einer nächsten Generation darin ausbildet, ihre Performances aufzuführen. Auch im Kunsthaus Zürich agieren nun junge Darstellerinnen und Darsteller stellvertretend für Abramovic.
Und dann wären da auch noch die Objekte zum Anfassen und zum Benutzen. Seit Anfang der neunziger Jahre schuf Abramovic unter dem Titel «Transitory Objects for Human Use» (flüchtige Gegenstände für den menschlichen Gebrauch) eine ganze Reihe von Arbeiten, die nicht als Skulpturen gedacht sind, sondern in Anlehnung an eine Idee von Joseph Beuys als heilende Objekte. Mit diesen Arbeiten will die Ausstellung, die von Marina Abramovic eng mit dem Kunsthaus zusammen konzipiert wurde, mit dem Publikum auf eine neue Weise interagieren.
Schon immer ging es der Künstlerin um Übertragung von Energie auf das Publikum und um Bewusstseinserweiterung bei demselben. Das sollen jetzt energiegeladene Gegenstände wie Kupferplatten oder Quarzkristalle übernehmen: Energie direkt aus der Natur sozusagen. Man kann sie berühren, sich auf sie setzen oder legen, sich ihnen anschmiegen. So werden die Besucher der Kunsthaus-Ausstellung selber ein bisschen zu Performern. Und das ist ganz im Sinn von Marina Abramovic.
«Marina Abramovic – Retrospektive», Kunsthaus Zürich, bis 16. Februar 2025. Katalog Fr. 49.–.