Mittwoch, Oktober 30

Ousman Sonko erledigte einst für Gambias Ex-Diktator Jammeh die Drecksarbeit. An den Prozess in Bellinzona ist eines seiner bekanntesten Opfer angereist.

Einmal fragte ihn die Tochter, woher er die Narben am Rücken habe. Die seien aus der Zeit im Gefängnis, sagte er nur. Madi Ceesay hatte es nie vermieden, mit seiner Familie über die Wochen im Frühjahr 2006 zu reden. Die Wochen im Gefängnis, festgehalten von Gambias berüchtigtem Geheimdienst, der National Intelligence Agency (NIA). Doch manche Details behielt er für sich. Die nicht enden wollenden Schläge mit den Gürteln, die Tritte mit den Stiefeln, die Schreie seines Kollegen, der neben ihm verprügelt wurde.

Der Mann, der damals als Innenminister Gambias das Sagen über die NIA hatte, sitzt in diesen Tagen wenige Meter von Ceesay entfernt auf der Anklagebank des Bundesstrafgerichts in Bellinzona. Seit dem 8. Januar läuft dort die Hauptverhandlung gegen Ousman Sonko. Ihm werden systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, darunter Mord, Folter, Vergewaltigungen.

Sonko hat sich den Übernamen «Folterkommandant von Gambia» regelrecht erarbeitet, die 142-seitige Anklageschrift ist voll von brutalen Details. Madi Ceesay, einer der namhaftesten Journalisten des Landes und derzeit Abgeordneter, zählt zu den prominentesten Opfern. Er nimmt nun neben weiteren Opfern als Privatkläger an dem Prozess in Bellinzona teil.

Drei Wochen Schläge

Ceesay hat den 28. März 2006 noch detailliert vor Augen. Es war der Tag, als NIA-Agenten die Redaktion des «Independent» stürmten. Ceesay war damals Verlagsleiter der Zeitung, die immer wieder kritisch über die Regierung berichtet hatte, als sei Gambia eine Demokratie. Ein Irrtum. Ceesay und der Chefredaktor Musa Saidykhan wurden verhaftet.

Die NIA hielt sie ohne Anklage oder Erklärung fest und forderte eine öffentliche Entschuldigung für kritische Artikel. Ceesay weigerte sich. Nach drei Wochen Folter kam er völlig abgemagert frei. Aber nur deshalb, weil Organisationen wie das Committee to Protect Journalists (CPJ) grossen internationalen Druck aufgebaut hatten. «Diese Aufmerksamkeit hat mich geschützt», sagt Ceesay, «sonst hätten sie mich nicht freigelassen.» Der Journalist weiss, dass viele andere Opfer in der Folterkammer dieses Glück nicht hatten.

Doch seine Zeitung wurde geschlossen, Ceesay verlor sein Einkommen. Nach zwei Jahren registrierte er eine neue Zeitung, die «Daily News», aber auch ihr wurde bald die Lizenz entzogen. Zahllose Journalisten flüchteten damals aus dem Land. Ceesay blieb, veröffentlichte seine investigativen Artikel nun online. 2016 setzte er seinen Kampf für die Demokratie schliesslich in der Politik fort, als Abgeordneter einer Oppositionspartei.

Es gab eine Wahrheits-, Versöhnungs- und Wiedergutmachungskommission (TRRC), die von einer ähnlichen Einrichtung aus den neunziger Jahren nach der Apartheid in Südafrika inspiriert war. Doch Sonko ist der erste hochkarätige Fall, der auch vor einem Gericht verhandelt wird. In Gambia ist er das alles bestimmende Thema bei den knapp drei Millionen Bewohnern; die Nachrichtenseiten im Internet berichten per Live-Ticker, das Fernsehen mit Sondersendungen.

«Ich hätte mir gewünscht, dass ein solcher Prozess in Banjul stattgefunden hätte», sagt Ceesay am Telefon. Aber es habe erhebliche Verzögerungen gegeben, die entsprechenden Gesetze und Rahmenbedingungen seien erst kürzlich finalisiert worden. «Die Geschwindigkeit der Aufarbeitung in Gambia ist zu langsam», sagt der Abgeordnete. Für ihn zähle in diesen Tagen erst einmal, dass sich Sonko überhaupt vor Gericht verantworten müsse.

Flucht über Schweden in die Schweiz

Der Prozess in Bellinzona ist wegen der Grausamkeit der Taten bemerkenswert, aber auch wegen seines Ortes fernab des Tatorts. Jahrelang hatte Sonko in dem winzigen westafrikanischen Land Gambia als rechte Hand des Diktators Yahya Jammeh agiert, das von ihm geführte Innenministerium setzte die Unterdrückung von Kritikern operativ um. Doch im Jahr 2016 überwarf sich Sonko mit Jammeh, floh zunächst nach Schweden, wo sein Asylantrag abgelehnt wurde.

Sonko probierte es in der Schweiz. Als publik wurde, dass sich der Politiker in einem Asylzentrum im Kanton Bern aufhält, erstattete die in Genf angesiedelte Menschenrechtsorganisation Trial International Anzeige. Gemäss dem Weltrechtsprinzip kann die Schweiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen, wenn sich der Verdächtige auf ihrem Staatsgebiet befindet und kein Auslieferungsgesuch vorliegt.

Nach Angaben von Trial International ist es das erste Mal, dass ein so hochrangiger Ex-Politiker nach dem Weltrechtsprinzip in Europa vor Gericht steht. Vor einigen Monaten wurde in der Schweiz allerdings bereits eine zwanzigjährige Freiheitsstrafe gegen den ehemaligen liberianischen Kriegsverbrecher Alieu Kosiah vom Berufungsgericht in Bellinzona bestätigt.

Auf einen Antrag auf Auslieferung für Sonko verzichtete Gambias neue Regierung bislang. Zwar wurde der Diktator Jammeh im Jahr 2017 von Truppen des westafrikanischen Staatenbundes entmachtet, weil er sich trotz einer verlorenen Wahl an die Macht geklammert hatte. Doch während sich Jammeh dank Hunderten Millionen Dollar, die er aus der Staatskasse abgezweigt hatte, nach Äquatorialguinea absetzen konnte, kam die juristische Aufarbeitung seiner 22 Jahre dauernden Herrschaft nur langsam voran.

Stromschläge gegen die Genitalien

Sonko hatte laut Anklageschrift die Taten als ranghöchster Politiker des Innenministeriums nicht nur zu verantworten, er soll sich teilweise auch persönlich daran beteiligt haben. Sonko bestreitet alle Vorwürfe. Er gab am vergangenen Mittwoch aber zu, dass er eine Notiz verfasst hatte, in der von Anweisungen Jammehs vom Frühjahr 2016 die Rede ist, auf regierungskritische Demonstranten schiessen zu lassen.

Am Donnerstag berichtete ein Zeuge von Folterungen durch Stromschläge und andere erniedrigende Methoden. Der Mann, dessen Name geheim gehalten wurde, wurde am 14. April 2016 während eines Marsches für Wahlreformen in Gambia verhaftet. Er erzählte dem Gericht in Bellinzona, dass ihm Wasser verweigert worden sei, er habe Stromschläge gegen die Genitalien verabreicht bekommen, dazu sei sein Arm schwer verletzt worden: «Sie haben mich verprügelt, bis ich nicht mehr weinen konnte.» Später sei er zu einem «Ermittlungsgremium» gebracht worden, an dem auch Sonko teilgenommen habe. Dieser habe dort gesagt, dass jeder Kritiker des Präsidenten «zum Abendessen der Geier» werde.

Der Schweizer Staat sowie Trial International haben die Reisekosten für Zeugen und Privatkläger übernommen. Es sei eine Genugtuung, zu sehen, wie Sonko von Polizisten bewacht in den Gerichtssaal geführt werde, sagt Ceesay. «Ich schaue ihm direkt in die Augen, wenn Sonko ins Gericht geführt wird», sagt Ceesay. Es sind Momente, auf die er lange warten musste. Momente, die seinen Glauben an die Gerechtigkeit am Leben halten. Sonko hätte niemals damit gerechnet, dass er im Ausland verhaftet werden würde, sagt Ceesay.

Er rechnet damit, dass sich in seiner Heimat Gambia bald auch andere Handlanger Jammehs vor Gericht verantworten müssen. Die Regierung habe den Empfehlungen der TRRC «zu 95 Prozent» zugestimmt. Zusammen mit dem westafrikanischen Ecowas-Staatenbund soll ein Hybridgericht gebildet werden, das sich durch die Einbindung des Tatortstaats von vorangegangenen Modellen internationaler Strafgerichte unterscheidet – in der Hoffnung auf mehr Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung.

Ceesay hat sich für die Schaffung des Gerichts in Gambia eingesetzt. Er weiss, dass der Prozess in Gambia nur eine Zwischenstation bei der Aufarbeitung der Vergangenheit ist – der des Landes und seiner eigenen. Doch sollte sein einstiger Peiniger verurteilt werden, dann wird sich Ceesay einen Tag des Feierns gönnen. «Ich werde alle meine Freunde einladen und für sie kochen», sagt er. Es wird Benechin geben, das gambische Nationalgericht aus Fleisch, Reis und Gemüse. Zumindest dieser Tag soll ohne Erinnerung an die Folter sein – soweit das möglich ist.

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