Mit «Shoplifters» gewann Hirokazu Koreeda vor ein paar Jahren die Goldene Palme in Cannes. Nun seziert er auch in einer Netflix-Serie meisterlich eine Familiendynamik.

Während sich die Aufmerksamkeit in der Serienwelt derzeit auf «Adolescence» konzentriert, hat Netflix irgendwo in seinen Untiefen die neue Serie von einem der prägenden Filmemacher der letzten dreissig Jahre versteckt. «Asura» nennt sich der aus sieben Folgen bestehende Stoff von Hirokazu Koreeda, dem gerade auch eine Retrospektive im Xenix-Kino in Zürich gewidmet ist.

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Der japanische Filmemacher, regelmässig Gast bei den grossen Filmfestivals, entfaltet basierend auf einem Roman Kuniko Mukōdas Geschichten rund um vier Schwestern und deren Familien im Japan der 1970er Jahre. Mit leichtem Ton gelingt ihm dabei ein komplexes Bild des Familienlebens in einer Epoche. Wie oft bei Koreeda lässt sich am meisten über seine Arbeit anhand der Gesichter sagen, die er filmt.

Etwa als der Vater der Familie einen verkrampften Lachanfall bekommt, als der Verlobte seiner Tochter ihm gesteht, dass er der Privatdetektiv war, den seine Töchter angeheuert haben. Sie fanden heraus, dass der Vater jahrelang heimlich eine zweite Familie hatte. Dieser lacht und weint zugleich, die Blicke in dieser Serie erzählen von dem, wofür es keine Worte gibt, alles bleibt ambivalent.

Koreeda filmt die alltägliche Sentimentalität, die sich von der herkömmlichen Kino-Sentimentalität dadurch unterscheidet, dass sie nicht als dramaturgischer Höhepunkt seiner Filme auftaucht, sondern als flüchtiges Aufleuchten im gleichmässigen Strömen des Lebens. Jemand stirbt, und am nächsten Morgen müssen Einkäufe erledigt werden. Ein Mann betrügt seine Frau, und trotzdem lachen sie zusammen über ein Malheur beim Essen.

Solche Szenen erzählen etwas über eine Gesellschaft, die ihr Gefühlsleben bevorzugt nicht nach aussen trägt, aber sie sind auch Regie-Kalkül. Denn so entstehen Konflikte im Unausgesprochenen, als Zuschauer fühlt man sich als heimlicher Zeuge der Traurigkeit dieser Menschen. Man identifiziert sich. Die entsprechende gefühlsduselige Musik hilft dabei, auch wenn sie hie und da die Ambiguität zu ertränken droht.

Sexpuppe in der Identitätskrise

Der Reiz von Filmen wie «Our Little Sister» (2015), in dem sich Koreeda schon einmal Schwestern gewidmet hat, liegt darin, dass der Filmemacher die kleinsten Regungen seiner Figuren greifbar macht. Etwas penetrant fragt er über sein ganzes Werk: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

Sein Film «Air Doll» (2009), wenn man so will: der eigentliche «Barbie»-Streifen, in dem er eine zum Leben erwachte Sexpuppe in der Identitätskrise begleitet, ist da am wenigsten subtil. Denn wie das so üblich ist im Genre des Puppenfilms, wird auch hier vor allem vom Menschen berichtet. Der bevorzugte Mikrokosmos, in dem Koreeda die Frage nach dem Wesen der Menschen stellt, ist die Familie.

Das zeigt sich nicht nur in «Asura», sondern auch in «Still Walking» (2008), in dem Koreeda eine Familie über einen Tag begleitet, an dem sie des verstorbenen ältesten Sohns gedenkt, oder in seinem Cannes-Gewinner «Shoplifters» (2018), der die Familiendynamik in einem verarmten, kleinkriminellen Kosmos unter die Lupe nimmt. Vor allem Kinder nehmen dabei eine entscheidende Rolle ein.

Durch ihre Augen sieht Koreeda die Welt zugleich einfacher und unergründlicher, mit ihnen kommt er der inhärenten Ungerechtigkeit der Verhältnisse auf die Schliche. Koreedas Filme sind fast zu perfekt. Man könnte in Drehbuchseminaren lehren, wie er Figuren mit einem Milieu verbindet, ein Milieu mit einer Zeit, eine Zeit mit Ideologien.

Das zeigt sich auch in «Asura», wenn die vier Schwestern bestimmte Lebensentwürfe der Mittelklasse im Japan der 1970er Jahre repräsentieren und darüber hinaus aus feministischer Sicht über die Rolle von Frauen in dieser Zeit nachgedacht wird. Koreeda filmt Rituale und Alltägliches, um Brücken zwischen dem Persönlichen und Allgemeingültigen zu errichten.

Zwischen Tradition und Moderne

Er erzählt durch das Essen, das gekocht wird, die religiösen Traditionen, die verfolgt oder abgelehnt werden, oder auch durch das Telefon, das von der Kommunikation in den 1970er Jahren erzählt. Die Frauen sollen auf der einen Seite noch den traditionellen Vorstellungen der Ehe in Japan entsprechen, auf der anderen Seite entdecken sie Wege in eine grössere Unabhängigkeit. Dabei klaffen auch Risse zwischen den Generationen, die durch Untreue und Lebenslügen verstärkt werden.

Koreeda interessiert sich dafür, wie jede der Frauen mit der jeweiligen Situation umgeht, statt seine eigene Perspektive in den Vordergrund zu stellen. Das ist ein Prinzip seines Schaffens. Neben seinen frühen Dokumentarfilmen, die im Xenix leider nicht gezeigt werden, ist vor allem der Spielfilm «Maboroshi no Hikari» (1995) ein Glanzlicht.

Darin erzählt er von einer jungen Frau, die plötzlich ihren Ehemann verliert und zusammen mit ihrem Sohn in einer neuen Ehe an einem entlegenen Ort am Meer leben muss. Statt die üblichen melodramatischen Erwartungen zu bedienen, zeigte Koreeda eine Trauer, die sich in jedes Bild schleicht. Es geht nicht darum, etwas zu erreichen oder zu überwinden, es geht darum, trotz allem zu leben.

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