Freitag, Oktober 18

Der ukrainische Präsident versucht am EU-Gipfel, den Westen mit neuen Drohkulissen aufzuschrecken. Ein grosser Kredit für Kiew stünde bereit, doch Orban blockiert.

Der Winter rückt näher. Die Lage in der Ukraine wird dadurch noch schwieriger, als sie es ohnehin ist. Am 10. Oktober 2022 griff die russische Armee zum ersten Mal in einer grossen Welle die Energieinfrastruktur des Landes an. Seither hat sie die Attacken immer von neuem wiederholt. 70 Prozent der ukrainischen Strominfrastruktur sind laut dem EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell mittlerweile zerstört.

«Wir brauchen so schnell wie möglich Geld», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski daher am Donnerstag am EU-Gipfel in Brüssel. Zum einen, um die Bürger vor den Härten des Winters zu schützen, zum anderen, um Waffen, die der Westen nicht liefert, selber zu produzieren. Lange Zeit habe die Ukraine mit zu wenig militärischer Unterstützung des Westens zu Rande kommen müssen, meinte Selenski.

Die vielen Ängste des Westens

Daran wird sich so schnell nichts ändern, das wurde am EU-Gipfel erneut klar. Am Mittwoch hatte Selenski im ukrainischen Parlament seinen «Siegesplan» präsentiert. Darin stellt er unter anderem die Forderung auf, mit westlichen Langstreckenwaffen Ziele im Inneren Russlands beschiessen zu dürfen.

Doch die westlichen Länder zögern. Sie befürchten, in den Ukraine-Krieg hineingezogen zu werden. Selenski versuchte in Brüssel vor den Medien, diese Sorge zu zerstreuen. «Wir nutzen bereits Langstreckenwaffen – eigene und solche aus Frankreich und Grossbritannien», sagte er. Mit ihnen habe die Ukraine unter anderem 23 russische Schiffe versenkt, die sich nicht auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine befunden hätten.

Von Deutschland hat die Ukraine noch keine Langstreckenwaffen erhalten. Selenski forderte Bundeskanzler Olaf Schulz aber ausdrücklich auf, dies zu tun. Das wäre ein Zeichen des guten Willens.

Unbestimmt ist Deutschlands Haltung auch in der Frage einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft. Eine Einladung, dem Bündnis beizutreten, ist der gewichtigste Punkte von Selenskis Siegesplan. Bundeskanzler Olaf Scholz habe dazu weder Ja noch Nein gesagt, meinte der ukrainische Präsident. «Aber wir werden daran arbeiten.»

Auch mit dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump habe er über die Nato-Mitgliedschaft geredet. Er habe ihm zugehört und seinen Argumenten zugestimmt, sagte Selenski.

Die Frage der Nato-Mitgliedschaft und die Einladung dazu ist für Selenski nicht nur eine Frage der Bewaffnung und des Schutzes durch Bündnispartner. Es wäre auch ein Zeichen der Hoffnung für die Bevölkerung, sagte Selenski.

Selenski verweist auf ein Eingreifen von Nordkorea

Militärisch ist die Lage der Ukraine ernst. Um das den Partnern drastisch vor Augen zu führen, verwies Selenski auf Nordkorea, Russlands Verbündeten. Offiziere des Landes nähmen bereits an dem Krieg teil, sagte der Präsident. Und er behauptete, dass 10 000 nordkoreanische Soldaten auf einen Einsatz im Ukraine-Krieg vorbereitet würden. Das sei eine Erkenntnis seines Geheimdienstes. Die Nato hat die Aussage ausdrücklich nicht bestätigt. Laut Selenski wäre ein solches Eingreifen der erste Schritt zu einem Weltkrieg.

Ebenso dramatisch wie die militärische ist auch die finanzielle Lage der Ukraine. Ein geschickt eingefädelter Kredit für das Land steht eigentlich bereit. Im Sommer hatten die Staaten der G-7 beschlossen, der Ukraine einen Kredit von 50 Milliarden Dollar zu gewähren. Diesen soll das Land mit Zinsen zurückbezahlen, die auf eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank in der EU anfallen.

Der Staatenbund will zu diesem Kredit einen Anteil von 35 Milliarden Euro beisteuern und wäre damit erneut der wichtigste Financier des kriegsgeplagten Landes. Aber Ungarn will die Übereinkunft bis zu den amerikanischen Wahlen am 5. November blockieren.

Das Darlehen benötigt keine Einstimmigkeit der Mitgliedsländer, sondern bloss eine qualifizierte Mehrheit. Ungarn hat aber einen anderen Hebel, um die Transaktion zu verzögern: Die EU hat die russischen Guthaben im Rahmen der gegen das Land verhängten Sanktionen blockiert, und diese müssen alle sechs Monate von den Mitgliedstaaten einstimmig verlängert werden.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban kann den Kredit verzögern und politische Spiele betreiben, indem er einer Verlängerung nicht zustimmt. Hat Selenski in Brüssel mit seinem Kontrahenten gesprochen? «Wir haben uns gegrüsst, das ist doch schon etwas», meinte der Präsident.

Die ukrainische Energieinfrastruktur wird immer schwächer

So mühsam die Hilfen an die Ukraine auf den Weg kommen – an verbaler Unterstützung fehlte es auch an diesem Gipfel nicht. «Die Ukraine kann sich auf uns verlassen», sagte Scholz vor dem Treffen. Das Darlehen von 50 Milliarden Dollar sei ein wichtiges Zeichen dieser Solidarität.

Bei der Aufrechterhaltung der ukrainischen Energieinfrastruktur befinden sich die Ukraine und die EU in einem Wettlauf mit der Zeit. Russland greift immer wieder an, während die ukrainischen Elektriker versuchen, die Schäden möglichst rasch zu beheben.

Die Ukraine erhält aus dem Westen Ersatzmaterial, etwa Generatoren. Aber deren Lieferung kommt wegen der beschränkten Kapazitäten der Hersteller nur schleppend voran. Das Land kann die gestörte Versorgung jeweils erstaunlich rasch wieder halbwegs herstellen. Doch die Infrastruktur wird laut Experten mit jeder Attacke schwächer – auch im kommenden Winter wieder.

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