Die meisten Asylsuchenden sind mit einem Smartphone unterwegs. Die Geräte gewinnen für die Migrationskontrolle an Bedeutung.
Die meisten Asylsuchenden reisen ohne Ausweispapier ein, verschiedene Schätzungen aus Deutschland und der Schweiz gehen von einem Anteil von 60 bis 80 Prozent aus. Das erschwert die Abklärung der Identität. Nach jahrelangem Ringen tritt deshalb am kommenden Dienstag eine Neuerung im Asylrecht in Kraft, die diese Situation verbessern soll: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) darf neu Daten auf Handys oder Computern auswerten, wenn die Identität, die Nationalität oder der Reiseweg von Asylsuchenden nicht anders festgestellt werden kann. Das ermöglicht es beispielsweise herauszufinden, ob die Angaben, die Gesuchsteller zu den Fluchtgründen, zum Alter oder zur Herkunft machen, wirklich stimmen können. Das Smartphone wird so zu einer Art Ersatzausweis für Asylsuchende umfunktioniert.
Die Neuerung, die sich tief in einer Verordnung versteckt, war jahrelang äusserst umstritten, weil sie die Persönlichkeitsrechte von Asylsuchenden tangiert. Ausserdem ist bis heute nicht wirklich klar, wie viel die neuen Befugnisse in der Praxis bringen. In den Nachbarländern der Schweiz, wo diese Möglichkeit schon länger besteht, sind die Ergebnisse teilweise eher ernüchternd. 2022 erklärte die deutsche Bundesregierung beispielsweise, nur in zwei Prozent aller Fälle habe die durch die Asylsuchenden angegebene Identität durch die Analyse des Smartphones widerlegt werden können. In 34 Prozent sei sie bestätigt worden – und in fast zwei Drittel aller Fälle (64) habe es gar keine verwertbaren Erkenntnisse gegeben.
Smartphone-Analyse dauert 16 Minuten
In einem Pilotversuch, den das SEM vor acht Jahren in Vallorbe und in Chiasso durchführte, konnten ebenfalls nur auf rund 15 Prozent aller durchsuchten Geräte relevante Informationen über die Identität, Herkunft oder die Reiseroute entdeckt werden. Die Durchsuchung der Smartphones dauerte dabei im Schnitt 16 Minuten. Das SEM erklärte nach dem Pilotversuch, dass eine flächendeckende Einführung zu einem etwas grösseren Personalbedarf führe. Ähnliche Erfahrungen gibt es auch in Deutschland: Die Implementierung von Software zur Auswertung von Smartphone-Daten erweise sich gemessen am Nutzen als eher teuer, erklärte die Bundesregierung 2019.
Dabei sind die Kompetenzen des SEM beschränkt. So hat dieses bei seinem Pilotversuch auf fünf Smartphones auch sicherheitsrelevante Informationen gefunden: In jeweils zwei Fällen ging es damals um Betäubungsmittel sowie um Menschenhandel. Und in einem Fall wurden sogar Hinweise auf Kriegsverbrechen entdeckt. Das SEM leitete die Informationen damals umgehend an das Bundesamt für Polizei (Fedpol) weiter. Doch just zur Verhinderung oder Aufklärung von Straftaten ist die nächste Woche in Kraft tretende Verordnung explizit nicht vorgesehen. Die Voraussetzungen, um auf Datenträger zugreifen zu können, sind sogar ausserordentlich restriktiv.
Die Asylsuchenden müssen ihre Geräte im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht ausschliesslich dann aushändigen, wenn die Identität, die Nationalität oder der Reiseweg nicht auf andere Weise festgestellt werden kann. Das SEM muss zudem in jedem Einzelfall die Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit der Auswertung von Datenträgern prüfen. Eine systematische Auswertung der Datenträger, zum Beispiel in Bezug auf jihadistische Inhalte oder auf Spuren von Schleppernetzwerken, kommt deshalb nicht infrage. Eine solche Suche benötige eine grundlegende Änderung auf Gesetzesstufe, erklärte das SEM kürzlich auf eine Anfrage der NZZ.
Chats dürfen nicht durchsucht werden
Die Grundrechte verbieten es in der Schweiz allerdings generell, ohne konkreten Hinweis auf eine Straftat auf Datenträger zuzugreifen. Nachrichtendienstgesetz und Strafprozessordnung sind hier äusserst streng. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die Behörden zufällig auf Informationen zu terroristischen oder kriminellen Absichten stossen, gilt als klein. Während Asylbewerber ihre Smartphones im Rahmen des Pilotversuches nämlich freiwillig abgaben, schreibt die neue Verordnung präzise vor, welche Daten zur Rekonstruktion von Herkunft oder Reisewegen überhaupt ausgewertet werden dürfen. Dazu gehören Adressen, Telefonnummern, Ton- und Bildaufnahmen oder Navigationsdaten, nicht aber Chats oder Browserverläufe.
Stösst das SEM in einem Einzelfall dennoch auf Hinweise auf eine konkrete oder schwere Bedrohung für die innere oder äussere Sicherheit, muss es den Nachrichtendienst informieren. In der Realität wird die Neuerung bei der Bekämpfung von Terror oder Schlepperkriminalität jedoch kaum von entscheidender Bedeutung sein. Das zeigte sich auch bei den Anschlägen in Deutschland im vergangenen Winter: Obwohl einige der Beschuldigten bereits auf dem Radar der Behörden waren oder sich als Migranten über längere Zeit in Europa bewegten, konnten die Anschläge nicht verhindert werden. Und dies, obwohl der Zugriff auf Smartphones in Deutschland schon lange erlaubt ist.
Nicht nur bei der Prüfung von Asylgesuchen soll die Möglichkeit zur Analyse von Datenträgern jedoch Vorteile bringen, sondern auch beim Vollzug der Wegweisung. Zuständig sind dafür zwar die Kantone, doch diese nehmen dafür vom SEM standardmässig Unterstützung in Anspruch. Seit der Asylgesetzrevision vom März 2019 wird ein grosser Teil dieser Wegweisungen ohnehin direkt ab den Bundesasylzentren vollzogen. Tatsächlich ist die rasche Abklärung der Identität für die Wegweisung entscheidend. So nimmt die Papierbeschaffung gemäss einem Bericht des SEM noch immer über ein Jahr in Anspruch. Diese Dauer soll durch die Smartphone-Analyse zur Identitätsabklärung gesenkt werden. Wie gross der Nutzen ist, ist allerdings auch hier unklar.
Anmeldung per Smartphone an der EU-Aussengrenze?
Die Auswertung von Smartphones hat in den letzten Jahren bei der Bekämpfung der irregulären Migration zunehmend an Bedeutung gewonnen. So bezweckt ein deutsch-österreichisches Forschungsprojekt unter anderem die Erkennung von Schlepperrouten anhand der auf Smartphones von Asylsuchenden analysierten Daten. Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen warnen deshalb vor einem zunehmenden Einsatz von digitalen Technologien zur Migrationskontrolle. Die Zürcher SP-Nationalrätin Céline Widmer sprach im Parlament in Bezug auf die Smartphone-Auswertung in der Schweiz sogar von einem «datenschutzpolitischen Dammbruch».
Weil gemäss unterschiedlichen Untersuchungen zwischen 75 und 95 Prozent aller Migranten mit einem Smartphone unterwegs sind, kursieren aber auch andere, völlig neue Ansätze zur Nutzung der Geräte bei der Kontrolle der Migrationsströme. So schlug der deutsche Migrationsexperte Daniel Thym unlängst in einem Interview im «Spiegel» vor, Asylsuchende sollten sich vor der Einreise in die EU an den Aussengrenzen per Smartphone anmelden. Die Sicherung der Aussengrenzen wird mit dem Inkrafttreten des EU-Migrationspakts im kommenden Jahr deutlich wichtiger. «Ich schlage eine tägliche Höchstgrenze für Asylverträge an den Aussengrenzen vor», sagte Thym. «Zum Zuge kämen in erster Linie Personen, die vorab elektronisch einen Termin vereinbart haben.»