Montag, Oktober 7

Mehr als zwei Jahrhunderte beherrschten Dirigenten fast alle bedeutenden Orchester. Doch derzeit schwinden letzte gesellschaftliche und institutionelle Vorbehalte gegen Frauen am Pult.

Es tut gar nicht weh. Und das Festspielhaus in Bayreuth hat auch bloss ein bisschen gewackelt – das liegt aber eher daran, dass Richard Wagners Operntempel von 1876 mittlerweile sanierungsbedürftig ist. Mit dem revolutionären Umbruch, der hier auf dem Grünen Hügel vonstattengeht, hat das wenig zu tun. Dennoch verdient der Vorgang die neuerdings häufig strapazierte Bezeichnung «Zeitenwende»: Zum ersten Mal nach bald 150 Jahren stehen beim traditionsreichsten und immer noch geschichtsträchtigsten Opernfestival der Welt in diesem Sommer mehr Frauen am Pult als Männer. In drei der fünf gezeigten Produktionen geben Dirigentinnen den Ton an, und darunter ist auch das gewichtigste Werk, der vierteilige «Ring»-Zyklus; genau genommen sind also sechs der acht aufgeführten Opern in Frauenhand.

Ja – und? So wird mancher fragen: Sollte das nicht längst normal sein? Eigentlich schon. Ist es aber keineswegs. Nicht hier, am Nabel der Opernwelt, und andernorts auch nicht. Die Wagner-Festspiele selbst gaben vor Beginn eine knappe Mitteilung heraus, die mehr wie eine nüchterne Feststellung wirkte. Stattdessen wäre auch ein programmatisches Bekenntnis denkbar gewesen: Ja, wir sind unserer Vorreiterrolle in der Musikwelt wieder einmal gerecht geworden und haben den allmächtigen Mann am Pult entmachtet.

Denn genau das geschieht derzeit nicht nur in Bayreuth mit wachsender Dynamik: Die letzte verbliebene Männerbastion in der Kulturwelt wird geschleift – den Halbgöttern der klassischen Musik dämmert es gewaltig, nach über zwei Jahrhunderten nahezu unangefochtener Herrlichkeit. In der Praxis verändert sich der Musikbetrieb dadurch so stark wie seit dem Siegeszug der historischen Aufführungspraxis ab den 1950er Jahren nicht mehr. Aber ausser ein paar letzten chauvinistischen Sottisen hört man, anders als früher, dagegen kaum mehr grundsätzliche Einwände.

Vorreiterfiguren

Bezeichnend erscheint, dass der aufsehenerregende Bayreuther Coup nicht einmal geplant war, er hat sich durch Zufall ergeben. Weil der Schweizer Philippe Jordan seine geplanten «Ring»-Dirigate absagte, kam es zum Engagement der australischen Dirigentin Simone Young und damit zur besagten «weiblichen Mehrheit» im Bayreuther Graben. Die Verpflichtung der früheren Hamburger Generalmusikdirektorin, die zugleich zehn Jahre lang die erste Intendantin der dortigen Staatsoper war, ist freilich eine besondere Pointe in dieser Geschichte.

Denn Simone Young, Jahrgang 1961, war tatsächlich eine Pionierin jener Entwicklung, die uns heute bereits normal, ja zwangsläufig anmutet: Sie war die erste Dirigentin, die nicht bloss bei Ensembles der zweiten und dritten Reihe oder bei Spezialformationen für Alte oder Neue Musik Erfolge hatte; ihr gelang vielmehr schon vor bald dreissig Jahren der Start in eine internationale Karriere und damit auch der Sprung an führende Institutionen. Strenggenommen ist Youngs Debüt als erste «Ring»-Dirigentin Bayreuths deshalb gar nicht der Meilenstein, als der dieser Einstand nun gefeiert wird – er war seit Jahren überfällig.

Andererseits braucht es Vorreiterfiguren wie Young, die nolens volens zum Stachel im Fleisch des von starken Beharrungskräften geprägten Kulturbetriebs werden. Eine weitere ist die amerikanische Dirigentin Marin Alsop, fünf Jahre älter als Young, die in den USA erstmals den Chefposten bei einem grossen Sinfonieorchester übernahm und 2013, ebenfalls als erste Frau, die Londoner «Last Night of the Proms» leitete. Dass sich schon die Karrieren von heute etablierten Dirigentinnen wie Susanna Mälkki und Mirga Gražinytė-Tyla, Alondra de la Parra oder Karina Canellakis, die ein bis zwei Generationen jünger sind, gegen deutlich schwächere Vorbehalte entwickeln konnten, ist massgeblich Pionierinnen wie Young und Alsop zu verdanken.

Allerdings bauten auch sie bereits auf dem Wirken von Vorläuferinnen auf. Und diese waren noch mit der vollen Wucht einer diskriminierenden, nicht selten sexistisch grundierten Ablehnung konfrontiert, etwa mit der aufs Grundsätzliche zielenden Frage, ob Frauen denn körperlich überhaupt in der Lage seien, ein Orchester zu leiten. Darin schwang erkennbar die Befürchtung mit, eine Frau vor einem damals vorwiegend männlich besetzten Orchester könnte noch für anderweitige Verwirrungen sorgen. Die Niederländerin Antonia Brico liess sich durch solche Tiefschläge nicht beirren, ihr Kampf um Anerkennung ist unterdessen zu Film-Ehren («Die Dirigentin») gelangt.

Auch zwei Schweizerinnen hatten historischen Anteil daran, dass die sozialen und institutionellen Widerstände nach 1950 allmählich geringer wurden: Die gebürtige Luzernerin Hedy Salquin (1928–2012) und die heute 87-jährige Bündnerin Sylvia Caduff schafften es an die Pulte bedeutender Klangkörper, darunter das Zürcher Tonhalle-Orchester und das Orchestre de la Suisse Romande, im Fall von Caduff sogar die Berliner Philharmoniker. Dennoch war es für ihre Generation noch unvorstellbar, auch Leitungsposten bei solchen Orchestern der A-Kategorie zu übernehmen. Dirigentinnen wie Gražinytė-Tyla oder die Deutsche Joana Mallwitz, beide Jahrgang 1986, werden dagegen heute völlig selbstverständlich auch für die künstlerische Gesamtverantwortung bei führenden Klangkörpern gehandelt.

Gegen Quoten und Klischees

Gegenüber den Zeiten, als noch Statuten von Orchestern geändert werden mussten, weil sie Frauen am Pult kategorisch ausschlossen, ist der Fortschritt also greifbar. Charakteristisch für die zunehmende Normalisierung ist auch, dass jüngere Dirigentinnen eine Karriere dezidiert aus eigener Kraft schaffen wollen. Die Ablehnung geschlechtsspezifischer Förderung gehört dabei ebenso zum guten Ton wie die demonstrative Absage an weibliche Seilschaften. Es dürfte sie trotzdem inzwischen geben, aber im Gegensatz zu den ohne Scheu zelebrierten Mentoren- und Lehrer-Schüler-Verhältnissen unter Dirigenten, bei denen die Berufung auf grosse Vorbilder oft als Qualitätsausweis dient, wird nicht offen darüber geredet. Für Dirigentinnen scheint es immer noch ratsam, jeden Verdacht von Protektion, Bevorteilung oder gar Klüngelwirtschaft von sich fernzuhalten.

So ist auch die Ablehnung einer Quote nahezu einhellig. Simone Young wiederholte anlässlich ihres Bayreuther Engagements, sie sei «absolut» gegen eine Quote: «Wenn ich höre, dass man für eine Stelle nur an einer Frau interessiert ist, dann ist das genauso unsinnig wie die Zeiten, als eine Frau für eine Position nicht infrage gekommen ist.» Vorwürfe, sie habe nicht genug für die Förderung von Kolleginnen getan, lässt sie dementsprechend an sich abprallen: «Ich gehöre zu der Generation, die die Tür aufgemacht hat. Wir sind durchgegangen, aber das heisst noch lange nicht, dass ich jetzt die Tür für die anderen aufhalten muss.»

Young hat sich auch schon früh in ihrer Karriere gegen klischeehafte Zuschreibungen gewehrt, wonach sich der Dirigierstil von Frauen prinzipiell von demjenigen der Männer unterscheide. «Es gibt immer noch eine falsche gedankliche Verbindung zwischen stark und männlich und zwischen sensibel und weiblich. Jeder Künstler muss beides in sich vereinen», betont Young. Die Gender-Trumpfkarte zu spielen, ist deshalb unter Dirigentinnen regelrecht verpönt. Auch die bei Konzertbesuchern beliebte Frage nach einem spezifisch weiblichen oder gar «fraulichen» Stil führt schnell auf vermintes Terrain. Seit sich immer mehr Dirigentinnen Gehör verschaffen und auch Einspielungen vorliegen, die Vergleiche ermöglichen, erkennt man nämlich: Es gibt unter ihnen selbstredend ebenso viele individuelle Ausformungen eines musikalischen Führungsstils wie unter ihren Kollegen.

Auch Dirigentinnen müssen ihre persönliche Balance finden zwischen einem eher hierarchisch-autoritären Leitungsstil und Spielarten der Kooperation mit den Orchestermitgliedern. Letztere herrscht heute vor, nachdem sich der aus dem 19. Jahrhundert stammende Typus des Alleinherrschers am Pult à la Toscanini oder Karajan endgültig überlebt hat. Für Frauen war dieses Rollenbild des allmächtigen «Maestros» nie eine realistische Option, aber auch bei ihnen verwandelt sich ein klassisches Konzert nicht in eine demokratische Diskussionsveranstaltung. Dass im Moment der Aufführung einer – oder eben: eine – den Ton angibt, ist schon aufgrund der Komplexität vieler Werke und des Umfangs der beteiligten Ensembles unabdingbar.

Ein sechzehnstündiges Riesenwerk wie den «Ring des Nibelungen» leitet auch eine Simone Young mit präzisen Ansagen, gestützt auf eine künstlerische Autorität, die ihr durch handwerkliches Können und die bei ihr schon 25 Jahre andauernde Auseinandersetzung mit Wagners Werk zugewachsen ist. Wie wenig sich heutige Dirigentinnen vor der Ausübung von Autorität scheuen, konnte man jüngst auch beim Debüt von Joana Mallwitz in Zürich erleben: Mallwitz hielt hier mit einer zackigen, hoch agilen Schlagtechnik das Tonhalle-Orchester derart straff am Zügel, als wollte sie wirklich den Titel einer «Maestra» für sich beanspruchen.

Eine solche unbedingte Durchsetzung des eigenen dirigentischen Standpunkts ist strenggenommen ein Anachronismus und selbst bei älteren Dirigenten heute kaum mehr üblich. Aber es gibt auch andere Formen einer natürlichen Autorität, wie sie etwa die in der baltischen Vokaltradition aufgewachsene Mirga Gražinytė-Tyla praktiziert, bei der jedes Ensemble zu einem grossen Chor-Kollektiv zu verschmelzen scheint, das sogar gemeinsam atmet. Bemerkenswert auch der Fall der Quereinsteigerin Nathalie Stutzmann, die neben Young und der Ukrainerin Oksana Lyniv derzeit in Bayreuth gefeiert wird: Die renommierte Altistin bringt ihr Stilgefühl und ihre Erfahrung im Umgang mit Stimmen derart bezwingend ein, dass der «Tannhäuser» dort zur besten Produktion des Sommers wurde.

Könnte es sein, dass die Dirigentinnen am Ende auch noch in anderer Hinsicht den Weg der Männer gehen? Ein solches Szenario entwarf Todd Field schon 2022 in seinem Film «Tár». Er zeigt am Beispiel der fiktiven Pult-Diva Lydia Tár, wie auch die Karriere einer Dirigentin nach einem von ihr begangenen Machtmissbrauch und dem Vorwurf sexueller Übergriffe abstürzen kann. Das sei eine überspitzte Analogie zu ähnlichen Vorkommnissen in der männlich dominierten Musikwelt, hiess es von feministischer Seite. Wer recht hat, wird die Praxis zeigen – noch sind keine derartigen Skandale bekannt geworden. Die Diskussion verdeutlicht aber: Die Schonzeit ist zu Ende, Dirigentinnen können auch in Fragen ihres Sozialverhaltens nicht mit Nachsicht rechnen. In künstlerischer Hinsicht konnten sie das noch nie. Nun sind sie endgültig in der Gegenwart angekommen.

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