Samstag, Oktober 5

Wir fluchen, hupen, bremsen andere aus: Auf der Strasse übernimmt immer öfter die Wut das Steuer. Woran liegt das?

Tom Rab, Annina Widmer und Lina Hess verbindet eine Eigenschaft: Sie sind ausnehmend nett und höflich – bis sie es plötzlich nicht mehr sind. Wenn sie im Auto oder auf dem Velo sitzen, beginnen sie zu schimpfen, brüllen «Arschloch» und «Idiot», hupen, drängeln oder bremsen andere aus. Der Verkehr macht etwas mit ihnen. Er verwandelt sie in die schlechteste Version ihrer selbst.

Auf der Strasse übernimmt die Wut das Steuer: Um das Phänomen zu illustrieren, zeigt der Dresdner Verkehrspsychologe Bernhard Schlag seinen Studentinnen und Studenten jeweils einen Trickfilm aus den 1950er Jahren. In «Motor Mania» wird Goofy von einem liebenswerten Fussgänger zu einem Berserker, sobald er im Auto sitzt. In diesem Clip sei der typische Wandel wunderbar dargestellt, sagt Schlag: «Der Wandel von einem freundlichen in einen aggressiven, äusserst durchsetzungsfähigen Menschen, der nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist.»

Schlag ist ein Experte für die Emotionen auf der Strasse, er hat viele Studien dazu durchgeführt. Der Verkehr sei eine nie versiegende Quelle von negativen Gefühlen, sagt er. Befragt man die Menschen nach ihren Ärgernissen im Alltag, steht er stets zuoberst, «und das mit grossem Abstand».

Was die Menschen unterscheidet, sind die Intensität ihrer Wut und die Art, wie sie diese ausleben. Manche ärgern sich still oder fluchen leise vor sich hin, andere werden beleidigend, wieder andere lassen sich zu aggressiven Fahrmanövern hinreissen.

Und dann gibt es noch die Extremform namens «Road-Rage», bei der die Wut in Gewalt umschlägt. Manche Fälle werden publik: Im März 2023 ging in Zürich ein Mercedes-Fahrer mit einem Messer auf einen Audi-Fahrer los. Im August 2023 verhaftete die Zürcher Polizei gleich zwei Autofahrer, die Velofahrer verfolgt und zu Fall gebracht hatten. Im April 2024 stieg ein Mann im Aarauer Stossverkehr aus seinem Ford-SUV und prügelte auf einen VW-Passat-Fahrer ein. Im Juli überrollte in Winterthur mutmasslich ein Audi-Fahrer einen Velofahrer nach einem Streit, verletzte ihn schwer und flüchtete.

Warum macht uns der Verkehr so wütend?

«Es muss einfach fliessen»

Tom Rab fährt in seinem VW Tiguan durch die Innenstadt von Zürich, lächelt einer Fussgängerin zu, die quer über die Strasse hastet, und schenkt einem Velofahrer winkend die Vorfahrt. Wie alle Protagonisten in diesem Text heisst Rab anders, doch mit dem richtigen Namen möchte niemand von seiner Wut erzählen.

Der 57-jährige Fotograf strahlt für gewöhnlich eine geradezu Zen-buddhistische Gelassenheit aus. Deshalb falle ihr die Veränderung so stark auf, sagt seine Frau, die ihn als Gesprächspartner vermittelt hat. Im Auto wirke er manchmal wie ausgewechselt, da werde er laut, fluche oder haue aufs Lenkrad. Die Stimmung im Wagen sei dann angespannt.

«Sie übertreibt ein wenig», sagt Rab in seinem gemächlichen Bernerdialekt, während er geduldig vor einem Rotlicht wartet. Aber ja, es gebe diese Momente. Nicht an einem Morgen wie diesem, wenn die Strassen sommerlich leer sind. Sondern wenn es nach langen Arbeitstagen nicht vorwärtsgeht. Dann ärgert sich Rab über Fahrer, die schleichen. Oder beim Einspuren zögern. Oder bei Grün nicht rasch genug losfahren. «Zuefahre, du muesch zuefahre», habe ihm schon sein Vater eingebläut. «Es muss fliessen.»

Der Kampf auf der Strasse sei im Grunde ein Ressourcenkonflikt, sagt der Verkehrspsychologe Bernhard Schlag: Viele Leute wollen zur gleichen Zeit am selben Ort dasselbe tun. «Beim Autofahren gibt es ja diese Fehlerwartung, die Verkehrsumwelt sei für mich gemacht und es stehe mir zu, gut durchzukommen.» Wird diese Erwartung enttäuscht, führt das zu Frustrationen.

Rab leidet an einer milden Form von Strassenwut. «Jetzt fahr doch endlich», poltert er, oder «Gopfertori nomal». Manchmal hupt er Zögerer an, manchmal fährt er dichter auf als sonst, und wenn der Verkehr auf der Autobahn stockt, wechselt er zwischen den Kolonnen hin und her. «Handörgele» nennt er das, natürlich ein Blödsinn, weil man ein paar Kilometer später wieder neben dem gleichen Auto stehe. Aber so ist es halt: Wenn es nicht fliesst, wächst Rabs Ärger, und er wird grösser als irgendwo sonst. Wobei Rab sich nicht über alle Verkehrsteilnehmer gleichermassen aufregt. Über Fussgänger oder Velofahrerinnen, die ihn am Zufahren hindern, schimpft er so gut wie nie. Er nervt sich nur über andere Autofahrer. Über Leute also, deren Gesicht er nicht sieht.

Blind, taub und stumm

Die Strasse ist ein seltsamer Ort. Autofahrer verbringen den Grossteil ihrer Zeit damit, anderen Autos aufs Hinterteil zu starren. Das mache per se missmutig, weil wir diese Position mit Unterlegenheit assoziierten, vermutete der amerikanische Soziologe Jack Katz. Er treibt seine These noch weiter: Vielleicht sei diese Perspektive der Grund, warum im Verkehr so häufig das Wort «Arschloch» falle.

Sicher ist: Mit Hinterteilen kann man schlecht kommunizieren. Und auch sonst enden Verständigungsversuche im Verkehr meist in Sackgassen. Das Auto macht sehbehindert, taub und stumm. Während wir uns anderswo dauernd mit Blicken, Mimik und Sprache austauschen, erkennen wir die Gesichter hinter den Scheiben kaum und hören die Worte der anderen nicht. Besonders frustrierend ist, dass wir selbst mundtot gemacht werden. Sich nicht mitteilen zu können, hält der Mensch kaum aus. Deshalb brüllen wir «Arschloch» oder «Jetzt fahr doch endlich», auch wenn das sinnlos ist.

Was es mit uns macht, wenn wir uns abgeschnitten wähnen, zeigen verschiedene Hup-Experimente. Die Hupe ist ein unentbehrliches Requisit in der Forschung der Verkehrspsychologie, gerade weil es wenig Möglichkeiten gibt, auf der Strasse zu kommunizieren. Bei einem dieser Versuche wollten die Wissenschafter herausfinden, wie verbreitet das zwecklose Beschimpfen bei Autofahrern ist. Die Studienteilnehmer wurden vor einem Stopp vermeintlich zu Unrecht angehupt, worauf sich drei von vier Fahrern wortreich gegen diese Ungerechtigkeit wehrten, obwohl niemand sie hören konnte.

Bei einem anderen Hup-Experiment massen die Forscher, welchen Einfluss Anonymität auf das Verhalten hat. Sie liessen Cabrio-Fahrer mit offenem und geschlossenem Verdeck an einer Ampel warten, wenn der vorderste Wagen bei Grün nicht losfuhr. Und tatsächlich: Die «unsichtbaren» Fahrer unter dem geschlossenen Verdeck drückten nicht nur viel schneller, sondern auch häufiger und länger auf die Hupe als jene mit offenem Verdeck.

Anonymität sei ein Faktor, der die Aggression stark begünstige, sagt der Verkehrspsychologe Bernhard Schlag. Je anonymer die Menschen sich fühlen, desto stärker verludern die Sitten, das kennt man aus dem Internet. In der klimatisierten Blase unseres Autos verhalten wir uns unhöflicher als sonst und erlauben uns mehr, solange wir keine Konsequenzen zu erwarten haben. Die Anonymität wirkt aber auch umgekehrt. Wir reagieren aggressiver, weil wir die anderen nicht als Menschen wahrnehmen, sondern nur als Störfaktor im Ablauf des eigenen Handelns. Als Hindernis, das sich bewegt – oder eben nicht.

Doch weshalb ärgert es uns überhaupt, wenn wir vor einer Ampel ein bisschen länger warten müssen? Und warum sind manche Leute davon leicht genervt und werden andere rasend vor Wut?

Hitze macht aggressiv

Der amerikanische Psychologe Jerry L. Deffenbacher hat ein Ärger-Modell entwickelt, das sich leicht auf den Verkehr übertragen lässt. Er geht davon aus, dass sich das Gefühl von Wut aus dem Zusammenspiel von drei Faktoren ergibt: einem Auslöser, unserem Vor-Ärger-Status und unserer Bewertung der Situation.

Drei Kategorien von Auslösern hat Deffenbacher ausgemacht, die sich auch überschneiden können: Unser Ärger wird geweckt, wenn wir Ungerechtigkeit erleben, wenn wir uns schlecht behandelt fühlen oder wenn wir daran gehindert werden, ein uns wichtiges Ziel zu erreichen. Solche Ziele müssen keine Orte sein. Vielleicht wollen wir im Restaurant zahlen, und dann beachtet uns der Kellner nicht. Vielleicht wollen wir einen Text fertig schreiben, und dann stürzt der Computer ab. Vielleicht wollen wir aber tatsächlich irgendwo ankommen, und dann stellt sich uns etwas in den Weg.

Nehmen wir den freundlichen Berner Tom Rab, der auf dem Heimweg zu fluchen beginnt, weil der Feierabendverkehr nicht fliesst. Er will rasch nach Hause, doch nun schiebt sich an der Ampel eine Kolonne zwischen ihn und dieses Ziel. Und als es Grün wird, fährt der vorderste Wagen nicht los.

Nun kommt der zweite Faktor aus Deffenbachers Modell ins Spiel: Ob und wie stark sich Rab zu ärgern beginnt, hat mit seinem Vor-Ärger-Status zu tun. Also damit, wie zufrieden oder unzufrieden er sich gerade generell in seinem Leben fühlt, wie viele kleine Frustrationen sich über diesen Tag hinweg schon angehäuft haben – und in welcher körperlichen und geistigen Verfassung er in diesem Moment ist.

Menschen reagieren gereizter, wenn sie angespannt, hungrig oder müde sind und wenn es ihnen körperlich unwohl ist. Hitze zum Beispiel macht aggressiv. Das haben nicht nur Untersuchungen mit Baseballspielern und Häftlingen gezeigt, sondern auch solche mit Autofahrern und ihren Hupen: An einem heissen Tag wird ein zögerndes Fahrzeug an der Ampel viel häufiger und länger angehupt als an einem kühleren. Und: Von den Fahrern, die in einem klimatisierten Auto sassen, drückten zwei Drittel auf die Hupe; in nichtklimatisierten waren es neun von zehn.

Rab fährt einen klimatisierten Wagen. Aber wie sagte er: Wenn er sich aufregt, dann meist nach einem langen Arbeitstag. Er ist also müde und wohl auch hungrig, wenn das vorderste Auto nicht losfährt. Jetzt kommt der dritte Faktor aus Deffenbachers Modell zum Zug: die Bewertung der Situation. Warum fährt der da vorne nicht los? Vielleicht ist eine Mutter mit Kinderwagen auf dem Fussgängerstreifen gestürzt. Vielleicht daddelt der vorderste Fahrer auf dem Handy herum. Vielleicht bleibt er extra stehen, um sich an seinem Hintermann zu rächen, der ihm vorher den Mittelfinger gezeigt hat.

Könnte Rab den Grund für die Verzögerung sehen, würde sich sein Ärger in aufsteigender Reihenfolge steigern: Bei der gestürzten Mutter bliebe er ruhig, beim Fahrer am Handy begänne er zu schimpfen, beim Rächer würde er aufs Lenkrad hauen. Wir ärgern uns stärker, wenn wir eine Situation als vermeidbar bewerten oder sich jemand unserer Meinung nach falsch verhält. Und nichts macht uns wütender, als wenn wir glauben, jemand behindere uns mit voller Absicht. Deshalb machen die mutwilligen Klimakleber manche Autofahrer so rasend, dass sie sie anfahren oder von der Strasse zerren.

Die Crux dabei: Mal abgesehen von den Klimaklebern wissen wir meist nicht, warum sich andere Menschen verhalten, wie sie sich verhalten. Das führt zu einem psychologischen Paradox: Wenn wir selbst einen Fehler machen, geben wir gerne den Umständen die Schuld; wir finden lauter gute Gründe, warum wir als freundliche Menschen und ausgezeichnete Autofahrer in einer Situation ausnahmsweise falsch gehandelt haben. Macht hingegen ein Unbekannter einen Fehler, nehmen wir von ihm das Schlechteste an. Wir begehen den fundamentalen Attributionsfehler, einen gut erforschten Irrtum: Der Mensch neigt dazu, das eigene Fehlverhalten unglücklichen Umständen zuzuschreiben, das Fehlverhalten anderer hingegen deren schlechtem Charakter. Jemand, der nicht zufährt, ist nicht einfach abgelenkt oder ortsfremd. Er ist ein egoistischer Idiot, der nicht Auto fahren kann.

«Fussgänger würde ich am liebsten anfahren»

«Idiot», «Totsch», «Arschloch»: Annina Widmer verfügt über ein Arsenal an Beleidigungen, und als Texterin erfindet sie auch gern neue. «Du mit deinen Wienerli-Pneus», ruft sie dann, oder «Goldküsten-Tussi». Die Sechzigjährige redet schnell, gestikuliert wild und lacht gern über sich selbst. Eigentlich sei sie ja sonst sehr höflich, ein Wort wie «Arschloch» käme ihr ausserhalb des Autos nie über die Lippen. Hinter dem Steuer aber ist sie eine andere.

Widmer sagt, wenn sie etwas im Leben gut könne, dann Auto fahren. Ihr Lieblingswort ist «zügig». Und tatsächlich lenkt sie ihren Mini zügig und routiniert zu einem Kreisel im Zürcher Oberland. Hier rege sie sich besonders oft und heftig auf. Überall die Zögerer, die nicht einbiegen. Überall die Egoisten, die im Kreisel nicht blinken und so den Fahrfluss stören. Widmer nervt sich aber auch über Velofahrer, «die sich massiv selbst gefährden». Oder über Fussgänger, die provokativ langsam über den Streifen schlendern, «die würde ich am liebsten anfahren». Sie hupt, «wenn jemand einen Seich macht», und fährt Trödlern auch einmal dicht auf: «Die jage ich ein bisschen.»

Widmers Attacken finden sich im Katalog aggressiver Verhalten der Verkehrspsychologie, zu denen auch Manöver wie riskantes Überholen, Lichthupen, Rasen oder «Schulmeistern» gehören. Ob solche Aggressionen auf der Strasse zunehmen, ist umstritten; es gibt keine zuverlässige Messmethode dafür. Was man aber weiss: Immer mehr Menschen gestehen ein, dass sie aggressiv fahren. In einer deutschen Studie von 2023 gab die Hälfte der Befragten zu, sich gelegentlich im Verkehr abzureagierten, indem sie zum Beispiel viel schneller führen, wenn sie sich ärgerten; 2016 hatte dies erst ein Drittel bejaht. 44 Prozent bremsen hin und wieder Drängler aus, 34 Prozent drängeln selbst, 31 Prozent geben manchmal Gas, während ein Auto sie überholt.

Warum fährt Widmer, wie sie fährt? Häufig habe es damit zu tun, dass sie spät dran sei, sagt sie. Sie hasst es, zu spät zu kommen, fährt aber oft knapp los. «Könnte ich schlank durchrollen, wäre ich pünktlich. Wenn mich unterwegs aber Baustellen, Trödler oder schlechte Autofahrer bremsen, muss ich aufholen. In solchen Situationen werde ich besonders hässig.»

Bernhard Schlag nennt das Fachwort zu Widmers Erklärungsversuch: «Externalisierung», ein gängiges Phänomen in der Psychologie. «Man sucht die Gründe für etwas, was man sich selbst eingebrockt hat und über das man sich nun ärgert, lieber bei den anderen statt bei sich selbst.»

Weil Widmer sich in Situationen bringt, in denen sie sich ärgern muss, hält Schlag sie für keine besonders gute Autofahrerin. Aber die Mehrzahl der Menschen überschätze die eigenen Fahrkünste. Je nach Umfrage geben zwischen 80 und bis zu unfassbaren 100 Prozent der Befragten an, sie würden überdurchschnittlich gut fahren – was nur schon mathematisch unmöglich ist. Viele Leute missverstünden, was gutes Autofahren heisse, sagt Schlag. «Sie glauben, das bedeute, möglichst zügig unterwegs zu sein und sich durchsetzen zu können. Aber gutes Autofahren beginnt nicht im Auto, eine gute Zeitplanung gehört auch schon dazu.»

Die Forschungslage dazu lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Wer knapp dran ist, fährt schlechter. Werden Leute in Verkehrsexperimenten unter Zeitdruck gesetzt, beachten sie die Vorschriften weniger, gehen mehr Risiken ein und drücken stärker aufs Gas.

Die höheren Geschwindigkeiten lösen eine Spirale aus. Einerseits steigert schnelles Fahren den Erregungszustand im Hirn. Wir sind noch angespannter, wodurch der Vor-Ärger-Status steigt. Andererseits vergrössert sich der Raum, den wir als den unseren empfinden. Der Mensch ist dauernd mit einer Art psychologischem Abstandsmesser unterwegs – kommt uns jemand zu nahe, empfinden wir das als übergriffig. Wir mögen es nicht, wenn eine Person zu dicht hinter uns geht oder ein Auto zu dicht vor uns einschert. Um diesen Abstand zu bewerten, rechnet das Gehirn die Geschwindigkeit ein, mit der wir uns gerade fortbewegen. Je schneller wir unterwegs sind, desto länger wird das Stück Strasse vor uns, das wir zu verteidigen versuchen.

Die selbsterfundenen Gesetze

Annina Widmer weiss natürlich, dass sie Teil ihres Problems ist. Sie arbeite daran, früher loszufahren, um gar nicht erst in Zeitnot zu geraten, sagt sie. Denn der häufige Ärger setzt ihr je länger, je mehr zu, «ich spüre ihn richtig körperlich».

Wut versetzt uns in höchste Alarmbereitschaft, genau wie Angst oder Erschrecken. In Sekundenbruchteilen stellt sich der Körper darauf ein, zu kämpfen oder zu flüchten. Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird flacher, das Blut fliesst in die Muskeln und in den Kopf, weshalb wir «rot vor Wut» werden. Wir sitzen angeschnallt im Auto, aber unser Körper ist zum Äussersten bereit. Was wir nun mit dieser Energie anfangen, wird im präfrontalen Cortex entschieden, einem Teil der Grosshirnrinde. Beschimpfen wir den Auslöser unserer Wut? Reagieren wir aggressiv? Oder schaffen wir es, den Ärger zu regulieren?

Der amerikanische Psychologe Ryan Martin, wegen seines Fachgebiets auch der «Ärger-Professor» genannt, hat untersucht, warum sich manche Leute viel schneller und stärker aufregen als andere. Eine seiner Erkenntnisse: Menschen mit einer hohen Ärgerneigung denken anders. Sie externalisieren häufiger, schieben also die Schuld an selbst verursachten Problemen anderen zu. Sie neigen stärker zum fundamentalen Attributionsfehler, bei dem sie ein negatives Ereignis dem Charakter einer Person zuschreiben. Und sie setzen ihre eigenen Bedürfnisse stärker über die der anderen.

Eine so übersteigerte Anspruchshaltung zeigt sich laut Martin oft an Sätzen, die diese Menschen im Kopf formulieren. Überdurchschnittlich oft komme darin das Wort «sollte» vor – und zwar stets an die anderen gerichtet. Der Fahrer an der Ampel sollte doch den Fuss bei Orange schon auf dem Gas haben. Die Ortsfremde, die mit 40 statt mit 50 fährt, sollte doch an den Strassenrand rausfahren. Wenn einer mit 120 auf der Autobahn unterwegs sein will, sollte er den Überholstreifen freigeben. Wer zu erhöhtem Ärger neigt, hat oft ein ganzes Regelwerk im Kopf, in dem alle Gesetze zugunsten der eigenen Ziele umformuliert sind. Sobald sich jemand nicht daran hält, wird er zum Bösewicht.

Annina Widmer ist erst vor kurzem aufgefallen, dass sich nicht alle Leute im Auto verhalten wie sie. Das liegt an einer eigenwilligen Kommunikationsform in ihrem Bekanntenkreis. Widmer und ihre Freundinnen nehmen während des Fahrens oft lange Sprachnachrichten füreinander auf, die sie einander dann zuschicken. In diesen hörte Widmer, wie es klingt, wenn ihre Freundinnen sich ärgern. «Die sagen dann mitten im Satz plötzlich ein sanftes ‹Fahr jetzt, Schätzeli› oder ‹Jetzt schlaf doch nicht›.» Das hat Widmer ehrlich erstaunt. Sie hatte immer gedacht, ihre lautstarken Reaktionen seien normal. Schon ihr Vater, «im Alltag ein sehr distinguierter Herr», habe im Auto alle guten Manieren verloren, ihren Geschwistern passiere das ebenfalls.

Niemand will der Dumme sein

Ärger ist ein universelles Gefühl, das in allen Kulturen vorkommt. Aber die Regeln, wann, wem und wie wir unsere Wut zeigen, lernen wir als Kind. Wer immer wieder mitkriegt, wie die Eltern andere Verkehrsteilnehmer beschimpfen oder ihren Willen auf der Strasse rücksichtslos durchsetzen, greift meist auf diese Erfahrungen zurück.

Aber natürlich lernen wir später dazu, im Guten wie im Schlechten. Der Lehrmeister ist die Umwelt. Zu erleben, dass man seine Bedürfnisse erfüllen kann, indem man aggressiv fährt, ohne dass es Konsequenzen hat, wirkt auf das Hirn wie eine Belohnung. Man wird das Verhalten wiederholen, worauf es sich verfestigt. Es kann sogar ausreichen, zu sehen, wie andere mit riskantem Verhalten durchkommen. Bernhard Schlag nennt als Beispiel Messungen in Berlin, die zeigten, dass immer mehr Rotlichter überfahren würden. «Wer sieht, dass viele bei Rot noch schnell Gas geben, kommt sich wie der Dumme vor, wenn er es nicht tut. Die Leute lernen das wirklich schnell.» Was dagegen hilft? «Mehr Kontrollen und härtere Strafen», sagt Schlag. «Dann bremst eine negative Konsequenz die Lernerfahrung aus.»

Bei Widmer hat das funktioniert. In ihrer langen Karriere als zügige Fahrerin hat sie einige Bussen kassiert. Als ihr aber im vergangenen Jahr der Ausweis für einen Monat entzogen worden sei, habe das etwas ausgelöst. «Jetzt habe ich ein bisschen Schiss und fahre langsamer, insofern war das eine gelungene Erziehungsmassnahme.»

Wäre Widmer die Wut im Auto eigentlich gerne los? Sie zögert einen Moment, dann sagt sie, sie wäre schon gern gelassener, ihr Verhalten sei ja nicht wirklich elegant. Ein paar Tage später wird sie eine E-Mail schicken, in der sie die Antwort zurücknimmt.

Die Macht der Feindbilder

Noch ist Lina Hess eine zurückhaltende Vespa-Fahrerin. Sie lässt jeden Fussgänger über die Strasse, beachtet alle Verkehrsregeln, fährt nicht an stehenden Kolonnen vorbei. Das mag daran liegen, dass sie die Vespa erst seit ein paar Monaten besitzt. Es hat aber noch einen anderen Grund: Das Fahren mache ihr einfach gute Laune, weil es sie an ihre Ferien erinnere, sagt die 35-jährige Juristin. Anders gesagt: Ihr Vor-Ärger-Status liegt auf der Vespa bei null.

Ganz anders sieht es aus, wenn Hess auf dem Velo sitzt. Dann missachtet sie Stoppschilder, Einbahnstrassen, rote Ampeln. Sie fährt auch gern einmal extra knapp an Autos vorbei, die zu nah am Velostreifen stehen, und ruft «Blöde Kuh» ins offene Fenster hinein. Die Veränderung von Hess ist frappant. Im normalen Leben handelt sie überlegt und diplomatisch. Sie frage sich bei jedem Konflikt, welchen Anteil sie habe, sagt sie. «Doch sobald ich auf dem Velo sitze, besteht die Welt aus Feinden.»

Fahrradfahrer seien eine Spezies, die sich strukturell benachteiligt fühle, sagt der Verkehrspsychologe Bernhard Schlag. Und das durchaus zu Recht. «Sie nehmen den Kampf auf der Strasse aus der unterlegenen Position auf. Aber inzwischen treten viele von ihnen äusserst durchsetzungsstark auf.»

Hess’ Wut folgt einem ausgeklügelten Feindbildsystem. Fussgänger und andere Velofahrerinnen nerven sie selten, die Autos sortiert sie nach Grösse, Marke oder Preis. Ihre liebsten Gegner sind die Fahrer von Sportwagen, Offroadern, Autos mit Nummernschildern aus Steuerparadiesen, und, zuoberst: «Reiche Züribergfrauen in dicken SUV.»

Schubladendenken ist ein Überbleibsel aus der Steinzeit, die Evolution hat uns darauf programmiert. Für unsere Vorfahren war es überlebenswichtig, Fremde blitzschnell in Freund oder Feind einteilen zu können. Obwohl wir heute eher selten einem fremden Stamm gegenüberstehen, greift unser Gehirn auf Stereotype zurück, wenn wir uns bedroht oder ausgeliefert fühlen. Und Velofahrerinnen wie Hess geraten dauernd in Situationen, die potenziell gefährlich sind. Der Ärger im Verkehr kann auch auf Gefühlen gründen, die in Wut umgeschlagen sind: in Ohnmacht, weil man die Situation nicht kontrollieren kann. Oder in Angst, die man nicht zeigen will.

Stereotype begünstigten aggressives Verhalten, sagt Schlag. Man muss sich nicht mehr überlegen, welches Verhalten einer Einzelperson gegenüber angemessen wäre. «Stattdessen hat man eine Kategorie mit lauter schlechten Leuten, bei denen man schon zu wissen glaubt, wie sie sind und wie man auf sie reagieren darf.»

Fahrende Fratzen

Hess’ Feindbilder sind aber auch durch die Gestaltung der Autos bedingt. Der Mensch reagiert aggressiv auf Aggression, und die teuren Autos, die Hess zu ihren Gegnern erklärt hat, haben in der Regel den «bösen Blick». Der Begriff aus dem Fahrzeugdesign bezeichnet Frontpartien, bei denen die schlitzförmigen Scheinwerfer an zusammengekniffene Augen erinnern und die überdimensionierten Kühlergrills an aufgerissene Mäuler. Dass solche Autos die Wirkung von wutverzerrten Gesichtern oder zähnefletschenden Raubtieren haben, ist gewollt. «Ein BMW sollte immer so aussehen, als wolle er die Strasse vor sich auffressen», sagte der Chefdesigner von BMW einmal. «Dominant wirkende Fahrzeuge», wie die Hersteller sie nennen, scheinen drohend «Platz da» zu brüllen, und sie sind bei den Käufern so beliebt, dass auch günstige Autos immer häufiger grimmig blicken.

Manchmal, sagt Lina Hess, mache es ihr Spass, sich auf der Strasse durchzusetzen. Sie erobere so die Freiheit zurück, die ihr der Verkehr oft nehme. Aber eigentlich mag sie die velofahrende Version ihrer selbst nicht. Während es ihr sonst im Leben wichtig sei, sich in andere Leute hineinzuversetzen, verliere sie im Verkehr plötzlich jede Empathie, «und ein solcher Mensch will ich nicht sein».

Auch die Texterin Annina Widmer hatte sich während der Fahrt im Zürcher Oberland gewünscht, gelassener zu werden. Ein paar Tage danach schickt sie eine E-Mail. Die Frage sei ihr nachgegangen, schreibt sie. Inzwischen glaube sie, sie nutze den geschützten Raum ihres Autos als eine Art Ventil für ihre allgemeine Wut: die Wut auf Menschen, die Kriege führen, Tiere quälen, Frauen und Kinder schlecht behandeln. «Ich denke, das wirkt therapeutisch. Und darum sage ich: Nein, ich möchte die Wut im Auto nicht loswerden. Sie hilft mir und schadet niemandem.»

Aber stimmt das? Wirkt Wut therapeutisch, ist sie ein Ventil?

Der Irrtum mit dem Dampfkochtopf

«Die Wut rauslassen», «sich abreagieren» oder «Dampf ablassen»: Die Redensarten versprechen, man könne den Ärger mindern, wenn man ihm nur Luft verschaffe. Der amerikanische Psychologe Brad Bushman hat diese Theorie der Katharsis überprüft und untersucht, was passiert, wenn er Probanden zuerst wütend macht und sie dann zum Beispiel auf Boxsäcke einschlagen lässt. Die Erkenntnis: Der Mensch ist leider kein Dampfkochtopf, im Gegenteil. Die boxenden Versuchsteilnehmer waren danach nicht nur wütender als die Kontrollgruppe, die nicht versucht hatte, Dampf abzulassen. Sie waren sogar noch wütender als zuvor. Ob man nun brüllt, auf Dinge eindrischt oder in brutalen Videospielen rumballert: Die Wut rauslassen sei, schreibt Bushman, als versuche man, ein Feuer mit Benzin zu löschen.

Genauso befeuert es den Ärger, andere Leute als «kompletten Idioten» oder «dumme Kuh» zu betiteln, auch wenn sie das nicht hören. Stempeln wir jemanden kurzerhand als Idioten ab, nehmen wir uns die Möglichkeit, eine Situation neu oder differenziert zu beurteilen. Einem Idioten gegenüber verhalten wir uns anders und schätzen jede seiner Handlungen als idiotisch ein. Aber wer Menschen entmenschlicht, führt sich dadurch unmenschlicher auf.

Wenn Dampf ablassen schadet – was bleibt dann übrig, um nicht vor Wut zu platzen? «Den Ärger einfach in uns hineinfressen ist jedenfalls auch nicht gut», sagt Bernhard Schlag. Sich zu ärgern, sei ja normal, und ein bisschen zu schimpfen, noch kein Problem. «Auch ein Verkehrspsychologe flucht hin und wieder auf der Strasse.»

Ärger führt nicht automatisch zu aggressivem Verhalten, genauso wenig wie jeder aggressive Akt auf Ärger beruht. Ob wir losbrüllen oder zuschlagen, sobald uns etwas nervt, hat damit zu tun, wie gut wir Impulse kontrollieren können. Geben wir ihnen sofort nach wie ein dreijähriges Kind? Oder können wir sie ausbremsen und nachdenken, welche Reaktion jetzt sinnvoll wäre? Die Fähigkeit zur Impulskontrolle ist zu einem Teil genetisch festgelegt und zum anderen erlernt.

Wut ist kein Schicksal. Der Mensch sei fähig, seine Gefühle zu regulieren, sowohl intellektuell als auch emotional, sagt Schlag. Intellektuell regulieren bedeutet: Wir könnten zum Beispiel im Kopf das Ärger-Modell durchspielen, statt sofort aggressiv zu reagieren. Uns fragen, was der Auslöser für unseren Ärger ist, wie stark uns unser Vor-Ärger-Status beeinflusst und ob wir die Situation richtig bewerten. «Und dann sagen wir uns vielleicht: Das ist jetzt alles nicht so schlimm.»

Sich emotional zu regulieren, ist ebenfalls keine Hexerei. Wer wütend wird, ist stark angespannt, also sollte man es mit dem Gegenteil versuchen: entspannen, auf welche Art auch immer. Nur schon tief durchatmen und auf zehn zählen könne helfen, sagt Schlag.

Zu Beginn muss man sich vielleicht zu solchen Techniken zwingen. Aber mit der Zeit laufen sie automatisch ab. Die gute Nachricht: Die meisten Leute beherrschen die Emotionsregulierung bereits. Wenn der Auslöser des Ärgers der Chef ist, der sich dem Feierabend in den Weg stellt, indem er uns noch eine Aufgabe überträgt, brüllt ja auch kaum jemand «Arschloch» oder reckt den Mittelfinger. Die Menschen, die sich auf der Strasse in die schlechteste Version ihrer selbst verwandeln, sind ihrer Wut nicht ausgeliefert. Sie haben sich einfach angewöhnt, der Wut das Steuer zu überlassen.

Exit mobile version