Mittwoch, Juni 18

Schon die frühen Zionisten forderten ein «kriegshartes, waffenfrohes Judentum». Im Alleingang gestaltet Netanyahu nun den Nahen Osten neu. Stehen wir am Anfang einer israelischen Weltordnung?

Vor gut 125 Jahren schickte der Zionist Max Nordau die Juden ins Krafttraining. «Muskeljuden» müsst ihr wieder werden, sagte er. Es war 1898, der zweite Zionistenkongress in Basel: Nordau, ein Freund von Theodor Herzl, hatte die Schaffung eines neuen Juden im Sinn.

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Vorbild waren ihm jüdische Gladiatoren, die in der Antike gegen hellenische Krieger und nordische Barbaren angetreten sein sollen. Nach tausendjähriger Ghettohaft glaubte der Mediziner und Darwinist seine Glaubensgenossen ausser Form. Nordau sprach davon, dem «schlaffen jüdischen Leib die verlorene Spannkraft wiederzugeben». Denn die Juden müssten sich abhärten für die Rückkehr ins Heilige Land. Fit machen für Zion als Motivation fürs Work-out.

Wenn Israel heute über eine der schlagkräftigsten Armeen der Welt verfügt, dann auch, weil sich die frühen Zionisten keinen Illusionen hingaben: Neben dem «Nervenjuden», der die geistige Arbeit leistete, brauchte es den «Muskeljuden», der Felder beackerte. Und zu kämpfen bereit war.

Deshalb steckt die Wehrbereitschaft dem Land bereits in den Genen. Zuerst kam die Verteidigung, dann der Staat: Schon 1920 wurde die Untergrundorganisation Hagana gegründet, ein Vorläufer der israelischen Armee IDF. Angriffe auf Juden gab es in der Region schliesslich nicht erst seit der Staatsgründung 1948.

Und während in Nazideutschland viele Juden gedacht hatten, dass es so schlimm schon nicht werden würde, versprachen sich die Israeli, nie mehr blauäugig zu sein. «Wir hätten uns anders gewehrt», sagten die Zionisten.

«Nie wieder» ist in Israel keine Floskel wie in Deutschland, in dessen Hauptstadt man sich als erkennbarer Jude noch heute nicht frei bewegen kann. «Nie wieder» ist der Grundstein, auf dem das Haus Israel steht.

Der «Muskeljude» Netanyahu

Der Zionist Max Nordau sprach von einem «kriegsharten, waffenfrohen Judentum». Er schwärmte vom Rebellenführer Simon Bar Kochba, der zusammen mit seinen «tiefbrüstigen, strammgliedrigen, kühnblickenden Männern» den jüdischen Aufstand gegen die Römer wagte.

Benjamin Netanyahu sieht eher etwas eingefallen aus. Aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Der israelische Ministerpräsident ist der oberste «Muskeljude» – ein Simon Bar Kochba des 21. Jahrhunderts.

Während Netanyahu wegen der Tausende Toten im Gazakrieg in weiten Teilen der Welt als Kriegsverbrecher gilt, sehen ein nicht unerheblicher Teil der Israeli in ihm den starken Mann, den es braucht, um das jüdische Volk vor seinen Feinden zu beschützen. Bei dem Schlag gegen Iran am vergangenen Freitag liess er erneut die Muskeln spielen.

Der israelische Diplomat Michael Oren hat zehn Jahre lang unter Netanyahu gearbeitet. Am Morgen nach dem israelischen Angriff auf Iran sagt er zur Journalistin Bari Weiss: «Das ist der Moment, für den Netanyahu geboren wurde. Der Moment, in dem er den jüdischen Staat rettet und die jüdische Geschichte vor dem Ende bewahrt. So sieht er sich.»

Und so sehen ihn nicht wenige: Die politischen Lager sind hoffnungslos zerstritten, aber in der Stunde des Krieges stehen die Israeli hinter Netanyahu. Naftali Bennett, der ehemalige israelische Ministerpräsident, äussert sich im gleichen Gespräch mit Bari Weiss deutlich: «Alle, linke, rechte, auch ich selber, der sich in der Opposition zur Regierung befindet, befürworten den Schlag» gegen Iran. Der «Krake des Terrors» müsse der Schädel eingeschlagen werden.

Wiederholt drohte Iran Israel mit der Auslöschung. Seit der Islamischen Revolution 1979 bekämpfen die Mullahs den jüdischen Staat, der gut tausend Kilometer entfernt ist und keinerlei Bedrohung darstellen würde. An allen Fronten förderten sie den Terror: Im Süden schickten sie ihre Henkershelfer von der Hamas vor, im Norden den Hizbullah.

Auf sich allein gestellt

Israel ist etwas mehr als halb so gross wie die Schweiz. Stellt man sich hierzulande einen Feind vor, der vom Bodensee bis zum Juragebirge hinter jeder Grenze lauert, mag man sich denken, was das mit den Menschen macht. Die Bedrohung ist existenziell. Den Luxus einer schöngeistigen Peacenik-Politik kann man sich nicht leisten. Deshalb der ewige Netanyahu: Was den einen Populismus, ist den anderen Pragmatismus.

Erst recht nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023, das den schlimmsten Albtraum Wirklichkeit werden liess. Die Unfähigkeit, dem Überfall der Hamas Einhalt zu gebieten, hat das Land aufs Schmerzlichste daran erinnert, dass es sich keine Schwäche leisten kann.

Die schon unmittelbar nach dem Blutbad der Islamisten international einsetzende Verurteilung von Israel machte klar, dass auf den antiisraelischen Reflex nach wie vor Verlass ist. In der jüdischen Gemeinschaft ist das Gefühl zurück, dass man sich auf niemanden verlassen kann. Also tut man es auch nicht länger.

Um das Urteil in der Welt schert man sich entsprechend wenig im jüdischen Staat. Die eigene Sicherheit hat Vorrang. «Israel first». Ob Netanyahu das Go der USA hatte, als er den Befehl zur Operation «Aufstrebender Löwe» gegen Iran gab, ist unklar. Womöglich liess er es darauf ankommen. Trump gab den Iranern 60 Tage Zeit, um zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Am 61. Tag schickte Netanyahu die Israeli Air Force.

Der amerikanische Aussenminister Marco Rubio erklärte schnellstens, dass die Vereinigten Staaten am Angriff nicht beteiligt gewesen seien. Loyalität sieht anders aus. Letztlich ist es aber nicht entscheidend, ob die USA über die Pläne Bescheid wussten. Worauf es ankommt, ist, dass die Israeli im Alleingang angriffen.

Aus ihrem unilateralen Vorgehen spricht auch schiere Desillusionierung. Die Wut über eine Welt, die den jüdischen Staat nach dem grössten Massenmord an Juden seit der Shoah im Stich gelassen hat. Statt die genozidale Ideologie des Islamismus zu bekämpfen, wird der Genozidvorwurf gegen Israel gerichtet.

Das «Genozid»-Etikett

Die Zustände in Gaza sind katastrophal, Kritik an der israelischen Kriegsführung drängt sich auf. Der Genozidvorwurf geht aber weit darüber hinaus. Er ist der «Goldstandard des Bösen». Wer «Genozid» sagt, unterstellt das absolute Verbrechen. Und legt gleichzeitig eine Kollektivschuld nahe: Einen Völkermord verübt kein irrer Herrscher allein, dafür braucht es die ganze Gesellschaft. Die Sprache verrät es auch: Während gerne von «Putins Angriffskrieg» gegen die Ukraine gesprochen wird, ist es «Israels Genozid».

Das Etikett bleibt haften: Laut einer Berechnung von «Tablet Magazine» wird in Zeitungsartikeln kein anderes Land so oft mit einem Völkermord in Verbindung gebracht wie das jüdische. In der «New York Times» sah sich Israel neunmal so oft mit dem Begriff «Genozid» assoziiert wie Rwanda. Sechsmal so oft wie Darfur.

Dabei waren in diesen Fällen die völkermörderischen Absichten glasklar. Gegen Israels Kriegsführung lässt sich vieles anführen. Aber von Völkermord zu sprechen, während Israel – wie unzureichend auch immer – Hilfsgüter nach Gaza schickt, ist nicht schlüssig. Ganz zu schweigen davon, dass die palästinensische Bevölkerung seit 1990 von knapp zwei Millionen auf fünfeinhalb Millionen angewachsen ist.

Wie so oft wird bei Israel ein anderer Massstab angelegt. Aus dem alleinigen Vorpreschen gegen Iran spricht daher auch Trotz. Und Selbstbewusstsein. Das Meisterstück des Mossad, in Libanon Tausende Pager explodieren zu lassen, war die Generalprobe für die Operation in Iran.

Israel muss präventiv handeln

Viele Experten glaubten nicht, dass Israel einen Militärschlag wagen würde. Doch Netanyahu ging «all in». Denn das Massaker der Hamas hatte die Nation in ihrem Innersten erschüttert: Zuvor war es im Land vergleichsweise friedlich gewesen, man hatte sich in falscher Sicherheit gewiegt.

Der zionistische Kampfgeist aus der israelischen Gründerzeit ging im gentrifizierten Hightech-Israel verloren. Wenn einer dafür ein Sensorium hat, dann Benjamin Netanyahu. Sein Vater, der zionistische Aktivist Benzion Netanyahu, war ein Verehrer von Max Nordau. Nun verordnet Israels am längsten amtierender Ministerpräsident seinem Land wieder Muskelaufbau.

Wenn der jüdische Staat überleben will, kann er sich nicht unter dem Iron Dome verschanzen. Er muss präventiv handeln. So wie auch schon im Sechstagekrieg 1967 und so wie bei früheren Angriffen auf einen irakischen Kernreaktor (1981) und einen syrischen (2007).

Israel unterbindet nicht zuletzt ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten. Dafür sollte der Westen dankbar sein. Darüber hinaus hilft Netanyahu der Ukraine. Vor einer Woche erst übergab er Patriot-Flugabwehrsysteme an Kiew. Und die Achse Moskau–Teheran wird durch den israelischen Angriff auf Iran gleichsam geschwächt. Während sich die USA als Ordnungsmacht zurückziehen, gestaltet Israel zunehmend proaktiv die Weltpolitik mit. Der Schlag gegen Iran ist ein Vabanquespiel. Aber wenn es aufgeht, könnte nicht weniger als eine israelische Weltordnung entstehen. Die Juden zeigen jedenfalls ihre Muskeln.

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