Es sei kein Wunder, dass die Schweizer derzeit so viele Erfolge einfahren würden, sagt Aksel Svindal im Gespräch. Er traut Marco Odermatt am Samstag den Abfahrtssieg in Kitzbühel zu.
Aksel Svindal, schon vor der Saison hat Marco Odermatt gesagt, für ihn zähle eigentlich nur noch der Sieg in Kitzbühel. Was sagen Sie dazu?
Das ist mutig. Ich empfinde grossen Respekt für Odermatt. Was er für das Schweizer Team macht, ist unglaublich. Er hat so viel erreicht und ist trotzdem für seine Teamkollegen da. So ein Typ ist Gold wert.
Ist er das Geheimnis hinter den vielen Schweizer Erfolgen?
Jetzt sehen wir den Odermatt-Effekt. Und die Trainer nutzen ihn richtig gut. Wäre in Österreich einer so gut wie Marco, gäbe es längst eine spezielle Gruppe nur für ihn. Dann kriegst du es nicht hin, dass die anderen sich bei ihm anhängen. Das schaffst du nur, wenn er ins Team integriert ist und die anderen seine Freunde sind.
Früher sagte man immer, das sei das Geheimnis der Norweger.
Wir haben das auch versucht, aber ich habe nie jemanden gesehen, der es so gut macht wie Odermatt. Letztes Jahr stand ich in Kvitfjell neben ihm, als er wartete, bis ein Kollege mit hoher Nummer startete. Er hätte längst im Hotel sein können, aber er wollte sich das ansehen. Das ist aussergewöhnlich. Wenn man ein Team so aufbauen kann, ist es kein Wunder, wenn es Doppelerfolge gibt. Odermatt ist unbezahlbar.
Er wollte 2023 schon in Kitzbühel gewinnen, riskierte viel und verhinderte knapp einen schweren Sturz. Aleksander Kilde wäre in jenem Rennen auch fast ins Netz gerast. Kann es gefährlich werden, wenn zwei herausragende Athleten sich gegenseitig derart antreiben?
Für den Sport ist das brutal gut, denn es gibt spektakuläre Bilder. Wenn zwei oder drei solche Athleten den Sieg wollen, wird das Limit immer mehr gepusht. Aber irgendwo ist eben doch eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte. Wenn Odermatt fährt, habe ich allerdings nie Angst. Er ist klug und technisch sehr gut. Der Kopf ist immer dabei, auch wenn es einmal etwas wild ausschaut.
Dass Odermatt hier gewinnen kann, ist keine Frage, oder?
Wie alt ist er?
27-jährig.
Dann kann er nicht nur dieses Jahr gewinnen, sondern die nächsten fünf Jahre. Ich wette mit Ihnen, dass er sein letztes Ziel erreichen wird.
Wie fühlt man sich als Rennfahrer, wenn man sich mit der Streif auseinandersetzt?
Ich war noch sehr jung, als ich auf dem Weg an ein FIS-Rennen durch Kitzbühel fuhr. Ich sah zur Piste rüber und dachte: «Hoffentlich muss ich da nie runter!»
Sie mussten dann doch . . .
. . . und das ging sehr schnell. Ich fuhr noch im Europacup und wurde für den Weltcup-Riesenslalom von Alta Badia aufgeboten. Weil unser Team so klein war, hat man mich gleich auch im Super-G von Val Gardena eingesetzt. Es war mein erstes Speed-Rennen auf diesem Niveau, und ich wurde Sechster. Also hiess es: «Du fährst auch den nächsten Super-G.»
Und der wurde in Kitzbühel ausgetragen?
Genau. Die Trainer sagten, es sei ein Riesenvorteil, wenn man auch die Abfahrt absolviere. Ich dachte: «Ai, ai, ai!» Ein paar Nächte lang habe ich kaum geschlafen. Als ich in Kitzbühel ankam, ging ich zu Fuss in Richtung Zielschuss hoch. Danach ging es mir ein bisschen besser. Auch die erste Besichtigung auf Ski hat geholfen. Es ist gut, wenn du weisst, worauf du dich einlässt. Aber 2003 war auch ein normales Jahr.
Wie meinen Sie das?
Ein Jahr später war es richtig brutal, die Piste war eisig, die Sprünge gingen weit. Nach der Besichtigung hatte ich echt Angst. Ich habe auf einigen Strecken mehrmals gewonnen, die Abfahrt in Kitzbühel aber nie. Wenn man immer auf der Suche nach dem Schlüssel zum Erfolg ist, wird alles noch schwieriger. Deshalb habe ich Didier Cuche bewundert: Er fuhr auf der Streif einfach perfekt.
Aber er hat Ihnen wohl keine Tipps gegeben.
Als ich auf anderen Pisten schon Abfahrten gewonnen hatte, war ich in Kitzbühel so nervös, dass ich dachte, es würde mir helfen, mit Arrivierten zu reden. Ich ging zu Michael Walchhofer, dann zu Didier, und beide sagten: «Heute kann ich nicht reden, ich habe selber Angst.» Sogar Marco Büchel, der immer quasselt, sagte, er müsse sich auf sich selbst konzentrieren. Da habe ich begriffen, dass das nicht nur mein Problem ist. Egal, wie die Bedingungen sind – in Kitzbühel hat jeder zu kämpfen.
Ein norwegisches Ski-Monument
reg. Aksel Svindal, 42, hat den Skirennsport über Jahre geprägt. Er war mehrfacher Olympiasieger und Weltmeister; die Gesamtwertung im Weltcup gewann er zweimal. In Kitzbühel verletzte er sich 2016 so schwer, dass er bis zum Rücktritt 2019 ständig mit Schmerzen kämpfte. 2022 erkrankte Svindal an Hodenkrebs, genas aber vollständig.
Abfahrer bewegen sich doch ständig am Limit, was macht die Streif so speziell?
Auf fast allen anderen Strecken gibt es Tage, da kannst du das Tempo einfach geniessen. Aber Kitzbühel kann man mit dem Rally von Monte Carlo vergleichen. Man fährt Vollgas, auf der einen Seite die Felswand, auf der anderen der Abgrund. Auf der Streif ist das Netz immer so nahe, dass der kleinste Fehler fatal sein kann. Egal, ob du da mit 130 oder mit 90 km/h reinfliegst – es ist eine Frage des Glücks, ob das gut endet.
Erinnern Sie sich noch, wie es war, als Sie zum ersten Mal oben an der Streif im Starthaus standen?
Kjetil André Aamodt hat einmal gesagt, wenn dieser kleine Stab, den man wegdrücken muss, um die Zeit auszulösen, ein wenig härter eingestellt wäre, kämen viele Athleten gar nicht aus dem Starthaus von Kitzbühel raus. Das war bei mir ein bisschen so. Ich bin kein Mensch, der grosse Risiken eingeht, deshalb musste ich über die Jahre Mut aufbauen. Ich sagte mir: «Das ist gefährlich, aber ich habe einen guten Plan.» Wenn du an dir zweifelst, ist es mental extrem schwierig, Abfahrer zu sein.
Es geht also um Selbstvertrauen?
Deshalb ist es auch schwierig, nach einer Verletzung zurückzukommen. Du hast im Kopf, was dir passiert ist. Ich glaube, die Abfahrt gehört zu den mental anspruchsvollsten Sportarten. Denn es gibt nur eine kleine Marge zwischen Erfolg und Spital.
Sie jagten den Abfahrtssieg in Kitzbühel vergeblich. Wie sehr hatte es sich in Ihrem Kopf festgesetzt, dass dieses Monument noch fehlte?
Jemand hat mich gefragt, ob ich glaube, dass Odermatt nervös sei, weil er hier noch nie gewonnen hat. Meine Antwort war: «Ich glaube, er schläft auch sehr gut, wenn er Kitzbühel nicht gewinnt, weil er sonst schon sehr viel erreicht hat.» Bei mir war es ähnlich. Ich denke nicht zu viel über Dinge nach, die nicht geklappt haben.
War das wirklich so? 2016 sind Sie bei mieser Sicht mit so viel Risiko über die Hausbergkante gerast, dass man den Eindruck hatte, Sie fahren nach dem Prinzip Sieg oder Spital.
Da haben Sie nicht ganz unrecht. Alle wussten, dass wir mit den etwas höheren Startnummern schlechtere Bedingungen hatten. Wir mussten noch besser fahren, noch mehr riskieren. In dem Moment, in dem du aus dem Starthaus fährst, hast du das akzeptiert, und du gibst alles. Diese Einstellung ist wichtig, denn wenn du zu zögern beginnst, kommt es nicht gut.
Bei Ihnen kam es trotz dieser Einstellung nicht gut.
Ich hatte in meiner Karriere zwei schwere Stürze: 2007 in Beaver Creek und 2016 in Kitzbühel. Beide Male war ich nach Siegen mit sehr viel Selbstvertrauen angereist. Ich war in absoluter Topform, da fällt es dir leichter, voll anzugreifen. Erstens weisst du, dass du gut fährst. Und ausserdem riskierst du zweitens eher alles, wenn du Siegchancen hast. Aber damit steigt halt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es schiefgeht.
Heute sehen Sie die Rennen von aussen. Begreifen Sie, dass die Athleten so grosse Risiken eingehen?
Dieses Jahr ist es nicht so schlimm, aber letztes Jahr war es richtig eisig. Da bin ich hier runtergerutscht, und ich hatte keinen schlechten Ski am Fuss. Es war so glatt und das Netz so nahe, dass ich dachte: «Eigentlich ist das unvernünftig.» Ich vermisse seit meinem Rücktritt extrem viele Sachen, aber Kitzbühel auf Eis mit vielen Schlägen – das ist Extremsport. Das fehlt mir überhaupt nicht. Aber wenn du drin bist und jeden Tag trainierst, hast du ein komplett anderes Mindset.
Muss es denn so eisig sein?
Das ist ein Thema. Auch Fahrer sagen: «Es ist zu viel.» Von aussen wird zudem kritisiert, das Material sei zu aggressiv. Aber wenn es auf der ganzen Strecke nur eine einzige Kurve gibt, wo du über blankes Eis fährst, musst du aggressives Material haben. Das ist, wie wenn du mit dem Auto über eine trockene Strasse rollst, und plötzlich kommen zwei eisige Kurven. Dann bist du froh, wenn du Winterreifen hast.
Könnte der Weltverband nicht einfach verlangen, dass man die Pisten ohne Eis präpariert?
Das ist sehr schwierig. Skifahren ist ein Freiluftsport, wir sind in den Bergen, wo Wind und Wetter schnell wechseln können. Es ist sehr anspruchsvoll, eine mehrere Kilometer lange Piste zu präparieren. Aber wenn es möglich wäre, mit etwas weniger Eis zu arbeiten, wäre das Material weniger aggressiv, und dann hätte man auch weniger Verletzungen. Oft braucht es ja nicht einmal einen Sturz, damit das Kreuzband reisst.
Es gab speziell in den letzten zwei Jahren viele Verletzungen, und einige Athleten wie Aleksander Kilde und Cyprien Sarrazin hätten sogar sterben können. Ist der Sport krank?
Er ist am Limit. Für Kreuzbänder ist der Sport sogar sehr ungesund. Aber für die mentale Verfassung ist er gesund. Ich lag 2016 mit zwei Österreichern im Spital, und wir hatten eine super Stimmung. Die Abfahrt macht dich mental robust.
Trotzdem könnte man doch die Sicherheit erhöhen, oder?
Wir sprechen seit Jahren über schnittfeste Unterwäsche. Ich erlitt schon 2007 eine schwere Schnittwunde, letztes Jahr Kilde, nun Shiffrin. Man hat eine Lösung, aber man schafft kein Obligatorium. Das verstehe ich nicht.
Den Airbag hat man auf diese Saison hin für obligatorisch erklärt, und dann haben mehr als 30 Fahrerinnen und Fahrer eine Ausnahmebewilligung erhalten und starten nun ohne diesen Schutz. Ist das nicht absurd?
Ich habe keine einzige Dokumentation gesehen, die zeigt, dass der Airbag im Skirennsport wirklich etwas bringt. Er kommt aus dem Motorradsport, wo die Stürze völlig anders sind. Der Rücken und die Schultern werden sicher gut geschützt, aber das sind nicht die wichtigsten Problemzonen im Skisport. Müsste ich wählen zwischen Airbag und schnittfester Unterwäsche, ich nähme nicht den Airbag.
Reden wir noch über Ihr Privatleben. 2019 traten Sie zurück, 2022 machten Sie öffentlich, dass Sie an Hodenkrebs erkrankt waren. 2023 wurden Sie Vater. Das Leben nach dem Sport scheint auch eine Achterbahn zu sein.
Wissen Sie, was der grosse Unterschied ist? Im Sport hast du immer ein klares Ziel, und der Weg dorthin ist auch ziemlich klar. Im normalen Leben musst du ein Multitasker sein, du kannst dich nicht einfach auf etwas konzentrieren. Die Krebsdiagnose war ein Schock, aber ich hatte eine gute Prognose und musste tun, was man mir sagte. Kaum war ich gesund, hat mir meine Freundin Amalie gesagt, dass sie schwanger sei. Ich weiss, es ist ein Klischee: Aber man muss einmal erleben, was es bedeutet, ein Kind zu kriegen. Das ist unglaublich.
Jetzt sind Sie ein braver Familienvater, oder jagen Sie immer noch dem Adrenalin hinterher?
Ich liebe das Skifahren immer noch, aber ich liebe es vor allem, in den Bergen zu sein. Das hatte ich beim Rücktritt unterschätzt. Ab und zu brauche ich die Natur, die frische Luft, das Panorama. Wenn mir das fehlt, bin ich nicht glücklich. Aber meine Freundin ist Leichtathletin, und ich bin als Vater präsent, damit sie trainieren kann. Jetzt ist sie im Trainingslager, nach den Rennen in Kitzbühel fliege ich zu ihr und kümmere mich um unseren Sohn.