Sonntag, April 13

Seit er das Radteam Sky übernahm, prasselt Kritik auf Jim Ratcliffe und seinen Konzern Ineos ein. Bei Manchester United möchte er alles besser machen und sein Image korrigieren. Besonders gut läuft es nicht.

Wäre er nicht so vernarrt in den Sport, hätte Jim Ratcliffe ein wunderbares Leben. Der 72-Jährige könnte in aller Diskretion sein Dasein als Multimilliardär geniessen.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Ratcliffe erschuf sich dank raffinierter Übernahmen ein Petrochemie-Imperium, das mangels Privatkundengeschäft kaum in den Schlagzeilen war. Seine erste grosse Investition finanzierte sich der Sohn eines Schreiners und einer Buchhalterin mit einer Hypothek auf sein eigenes Haus. Während Ineos wuchs und wuchs, absolvierte er nebenbei das Ultra-Rennen Marathon des Sables, marschierte zum Nord- und Südpol, bestritt einen Ironman und kletterte auf das Matterhorn. 2018 schlug ihn Prinz William zum Ritter. Ratcliffes Leben glich einem Märchen.

Aber die Liebe zum Sport war zu gross. Anders lässt sich nicht erklären, warum er ausgerechnet im Mai 2019, zwei Monate nach seinem Umzug nach Monaco, das damals überaus erfolgreiche Radteam Sky übernahm. In einem besonders ungünstigen Moment stand Ratcliffe im Rampenlicht, und viele Briten wurden überhaupt erst auf seine privaten Widersprüchlichkeiten aufmerksam: Ausgerechnet er, der sich für den Brexit ausgesprochen hatte, war zum Steuerflüchtling geworden.

Womöglich glaubte Ratcliffe, die britischen Fans würden euphorisch auf seine Investition ins heimische Veloteam reagieren. Er hat sich schwer getäuscht. Am ersten Rennen im neuen Dress, der Tour de Yorkshire 2019, wurden die Fahrer ausgebuht. Umweltaktivisten geisselten das von Ineos betriebene Fracking. Binnen Tagen machte der Konzern eine bittere Metamorphose durch: aus der Anonymität ohne Umweg zum Feindbild. Eigentlich bedeutet Sportswashing, das eigene Image über Sponsorings zu verbessern. Im Fall von Ineos passierte das Gegenteil.

Der Seitenblick auf das Radsport-Experiment hilft einzuordnen, was derzeit bei Manchester United passiert, dem englischen Rekordmeister mit der grossen Geschichte, der vom einst erfolgreichsten Klub der Welt zum Sanierungsfall geworden ist. Ratcliffe versucht im Fussball mit enormer Energie, als Minderheitsaktionär einen Weltklub zu retten –und seine Reputation. Er will endlich geliebt werden.

Dafür greift er tief in die eigene Tasche. Bei seinem Einstieg an Weihnachten 2023 kaufte Ratcliffe der Glazer-Familie zunächst 27,7 Prozent der Aktien ab und verpflichtete sich darüber hinaus, 80 Millionen Pfund zur Sanierung der maroden Infrastruktur bereitzustellen. Die Glazers hatten den Klub vorher jahrelang finanziell ausgenommen. Es war ein ungewöhnlicher Deal: Für seinen möglichen Ruhm als Retter akzeptierte Ratcliffe, die Cashcow ManU zu füttern, obwohl diese mehrheitlich weiterhin den Glazers gehört und von der Familie unverändert gemolken werden kann.

Ums Geld gehe es ihm in Manchester definitiv nicht, versicherte Ratcliffe in einem Gespräch mit der Zeitung «Times». Er verdiene mit seinem Petrochemie-Konzern genug. Auch seine emotionale Verbundenheit zur Geburtsstadt und zum Klub, in dessen Stadionnähe er aufgewachsen ist, führte er nicht an. Ratcliffe kämpft um sein Vermächtnis. Dieses ist nun nicht mehr mit den vergleichsweise kleinen Engagements bei den Fussballklubs OGC Nice und FC Lausanne sowie anderen Sportarten verknüpft – sondern einzig und allein mit dem Schicksal des britischen Rekordmeisters.

Hierarchische Struktur passt nicht in den Radsport

Im Radsport ist die Hoffnung auf eine Kehrtwende kaum noch existent. Obwohl Ineos weiterhin mit einem der höchsten Budgets aller World-Tour-Mannschaften operiert, gelangen in der Saison 2024 nur noch 14 Siege, eine blamable Bilanz.

Es war auch Pech im Spiel. Erst stürzte der frühere Tour-de-France-Dominator Chris Froome lebensbedrohlich, dann dessen designierter Nachfolger Egan Bernal, und im gleichen Zeitraum stürmte bei einem Konkurrenten das Jahrhunderttalent Tadej Pogacar an die Spitze.

Als folgenreich erwiesen sich aber vor allem Ratcliffes Bestrebungen, das Radteam zu organisieren wie eine Tochterfirma seines Konzerns. Insider berichten von einer hierarchischen Struktur, in der viele Entscheide von der Zustimmung der Spitze abhängig seien. Alles kontrollieren zu wollen, mag in einer Firma leidlich funktionieren. Mit dem professionellen Radsport, einer Szene selbstbewusster Charakterköpfe, verträgt sich der Anspruch nicht.

Die Abgänge häuften sich. Rod Ellingworth, eine wichtige Bezugsperson vieler Fahrer, verabschiedete sich, kehrte kurz als stellvertretender Teamchef zurück, um im November 2023 erneut abrupt den Hut zu nehmen – mitten in der Kaderplanung fürs neue Jahr. Auch der Sportdirektor Steve Cummings trat zurück, nachdem er monatelang nicht mehr an Rennen präsent gewesen war. Laut eigener Aussage wurde an Anlässen wie der Tour de France plötzlich ohne ihn geplant, wofür er jede Begründung vermisste. In der Wirtschaft sorgt eine Hire-and-Fire-Mentalität eventuell für produktive Spannung. Im Sport zerstört sie notwendiges Vertrauen.

Fahrer verliessen das Team ebenfalls im Unfrieden, beispielsweise der Mountainbike-Olympiasieger Tom Pidcock. Obwohl seine Stärken in Eintagesrennen liegen, kämpfte der Brite im Ineos-Dress an der Tour de France zeitweise völlig aussichtslos um die Gesamtwertung. Er habe geglaubt, das sei von ihm erwartet worden, sagte Pidcock später. Spass habe es nicht gemacht. Athleten lassen sich nicht herumschieben wie Abteilungsleiter.

Den Mitarbeitern das freie Mittagessen gestrichen

Bei United will Ratcliffe nun den Eindruck korrigieren, ausgerechnet im Sport, seiner wahren Passion, überfordert zu sein – und die erste Zwischenbilanz fällt ausgesprochen schlecht aus. United stürzte in der Premier League zeitweise bis auf Rang 15 ab und dümpelt immer noch in der zweiten Tabellenhälfte. Ratcliffes Krisenmanagement ist das eines klassischen Managers: Im Zentrum steht drastisches Sparen. Er strich der Klublegende Alex Ferguson den Lohn für repräsentative Aufgaben, den Glazers die Dividenden und den Mitarbeitern das freie Mittagessen. Ratcliffe entliess das Management, Trainer Erik ten Hag sowie einige Spieler und baute Hunderte Stellen auf der Geschäftsstelle ab, wo er sogar das Druckerpapier rationierte. Sein Ziel sei eine «schlanke, effiziente Elite-Organisation», so Ratcliffe.

Dass all das wenig hilft, die Herzen der Fans zu gewinnen, ist ihm bewusst. Um gegenzusteuern, macht Ratcliffe etwas, das ihm keinerlei Freude zu bereiten scheint: Er gibt reihenweise Interviews. Seit seinem Amtsantritt bei United hat der Mann, der jahrzehntelang als öffentlichkeitsscheu galt, mit fast allen Leitmedien auf der Insel gesprochen.

Ratcliffe wirkt bei den Auftritten defensiv, vermeidet den Augenkontakt zu den Fragestellern, oft nuschelt er seine Antworten dahin. Doch er bemüht sich um Transparenz und spart nicht mit Selbstkritik. Ohne die krassen Sparmassnahmen stünde das hochverschuldete United am Jahresende ohne Cash da, beteuert Ratcliffe. Und immer wieder betont der Mann mit dem geschätzten Vermögen von 16,1 Milliarden Dollar, er glaube nicht, den Klub ohne Fehler führen zu können.

Ein paar hat er tatsächlich schon gemacht. Ratcliffe verlängerte im Sommer 2024 zunächst den Vertrag des bereits angezählten ten Hag, um ihn dann im Herbst doch freizustellen. Bei einem Besuch des Trainingszentrums offenbarte er zudem seine Ignoranz gegenüber dem Frauenteam. Er fragte die Frau, die ihn durchs Gebäude begleitete, nach ihrer Funktion im Klub. Es handelte sich um Katie Zelem, die Captain des Profiteams ist.

Es ist eine Herkulesarbeit, einen Verein mit grosser Vergangenheit in eine goldene Zukunft zu führen, nachdem dieser wichtige Trends verschlafen hat. Unter Ratcliffe hat United eine neue, datenbasierte Transferabteilung entwickelt, um die Erfolgsquote bei Neuzugängen zu erhöhen. Experten loben die Massnahme. Ob sie rentiert, wird sich aber erst längerfristig zeigen.

Einen noch längeren Atem braucht Ratcliffe beim Vorhaben, die nicht mehr zukunftstaugliche Heimspiel-Stätte Old Trafford durch ein neues, zwei Milliarden Pfund teures Stadion zu ersetzen. Es soll 100 000 Zuschauern Platz bieten. Der Neubau könnte Ratcliffe dereinst helfen, die Fans zu umgarnen. Es scheint denkbar, dass er dafür erneut persönliche Mittel aufwirft. Trotzdem ist keineswegs jeder begeistert. Ein Labour-Politiker schmähte die Idee auf der Internetseite «Confidentials Manchester» als «halbgares Projekt eines Steuerflüchtlings».

Sportlich hat sich die Situation unter dem neuen Trainer Rúben Amorim einigermassen stabilisiert. Es besteht sogar noch die Chance, die Europa League zu gewinnen und sich so einen Startplatz für die Champions League in der neuen Saison zu sichern. Die Fans stellt das freilich nicht zufrieden. Kürzlich brach sich die angestaute Wut Bahn, als der Verein trotz sportlicher Misere eine Erhöhung der Ticketpreise bekanntgab. Auch Ratcliffe wurde angegiftet. Ein Fan hielt in Anlehnung an den Klub-Spitznamen «Red Devils» einen Dreizack hoch, an dem Bilder der Glazers aufgespiesst waren – und eines des Minderheitsaktionärs. Manche Kritiker nennen ihn mittlerweile «the rat» – die Ratte.

Führt Ratcliffe den Klub zu alter Grösse zurück, könnte er dereinst ähnliche Bewunderung erfahren wie die Trainer-Ikone Ferguson, die den Verein von 1986 bis 2013 prägte. Aber die Fallhöhe ist enorm. Die Glazers lassen sich in der Stadt kaum noch blicken.

Bisher hat Ratcliffe der Versuchung widerstanden, sich mit Kritik an den Glazers einfachen Applaus abzuholen. Unlängst lobte er sie gar als «wirklich anständige Menschen». Er weiss, dass er auf die Gunst der Familie vielleicht nochmals angewiesen ist, falls diese erwägen sollte, weitere Anteile abzugeben. Den jüngsten Zorn der Fans erklärte er sich damit, dass sich die Glazers weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hätten und sich daher jetzt aller Ärger auf ihn fokussiere.

Ein bisschen Zorn könne er eine Zeitlang ertragen, sagt Ratcliffe. Und doch sind die Diffamierungen das Gegenteil von dem, was er bezwecken wollte. Im Interview mit der «Times» formulierte Ratcliffe nun eine Art Ultimatum. Sollten die Verwünschungen ein Ausmass erreichen wie bei den Glazers, müsse er sich sagen: «Genug ist genug, Leute, lasst das jemand anderen machen.» Aber er sei sich sicher, dass er nicht scheitern werde.

Andere Sport-Engagements von Ineos verlieren angesichts der wichtigsten Mission rasant an Bedeutung. Das Segelteam wird am nächsten America’s Cup nicht einmal mehr teilnehmen, wie diese Woche bekanntwurde. Und im Radsport kursieren Gerüchte über eine Fusion von Ineos mit der französischen Equipe Total Energies, das einst stolze Projekt wäre dann wohl Geschichte.

Entscheidend ist auf dem Platz: Bei United geht es für Ratcliffe um alles oder nichts. Als Sportler sollte ihm die Situation gefallen.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version