Sonntag, November 24

Im Vordergrund steht der Konsum, das Religiöse ist in den Hintergrund gerückt: Der flämische Renaissance-Altmeister hat ein Bild von einer Marktszene gemalt, das wie für unsere Zeit geschaffen ist.

Im Musée des Beaux-Arts von Nancy kann man ein Gemälde des flämischen Malers Joachim Beuckelaer bewundern, der von 1533 bis 1574 in Antwerpen gewirkt hat. Auf den ersten Blick handelt es sich bei dem Bild aus dem Jahr 1561 um eine bunte Marktszene. Früchte und Gemüse werden an Ständen angeboten, Hühner, Eier und Brot, die Üppigkeiten der Schöpfung. Von Pferden werden sie auf Karren herangezogen. Bevölkert wird die Szene von Dutzenden von Männern und Frauen, Händlern und Käufern. Jung und alt sind sie, in allen Farben gekleidet, ein quirliges Durcheinander.

Das Wimmelbild aus der Renaissance trägt den Titel «Marktszene mit Ecce Homo» – und hat es in sich. Denn man sieht erst auf den zweiten oder dritten Blick, dass der flämische Künstler im Hintergrund, bedingt durch die Perspektive winzig gemalt, eine biblische Szene hineingeschmuggelt hat. Knapp erkennbar ist der gefesselte Jesus, der dem Volk gezeigt wird. Seht, der Mensch: «ecce homo». Ein paar Interessierte wenden sich dem Geschehen zu. Aber die meisten nehmen es nicht wahr. Sie sind damit beschäftigt, ihren Marktgeschäften nachzugehen.

Wenn man die Relevanz der christlichen Religion bedenkt, die ihr in der Gegenwart in Europa noch zukommt, könnte man sagen: Joachim Beuckelaer hat für das 21. Jahrhundert gemalt. Denn im Vordergrund steht heute buchstäblich der Markt. Es ist nicht der Wochenmarkt, sondern der Weltmarkt, der Aktienmarkt und der Arbeitsmarkt. Dass Gott nach christlicher Überzeugung in Jesus Christus der Welt sein Gesicht gezeigt hat – ecce homo –, ist in den Hintergrund gerutscht. Man muss es mit der Lupe suchen.

Man kann Beuckelaers Werk als frühneuzeitliche Religionskritik lesen, in dem Sinn, dass Religion am Verschwinden ist. Kunstgeschichtlich wird diese These gestützt durch das Argument, dass Nachfolger des flämischen Künstlers christliche Reminiszenzen ganz eliminiert haben. In der Tat hat Beuckelaer die Entstehung des Genres der reinen «nature morte» mitgeprägt. Man kann jedoch auch argumentieren, der Maler habe sagen wollen: Hinter dem Vordergründigen des vergnügten gesellschaftlichen Lebens und des Konsums stehe sowie bestehe die christliche Religion als tragende Grösse weiter, sosehr das auch der Mehrheit nicht mehr bewusst sein mag.

Freiheit und Gleichheit

Beuckelaers Motive werden wohl für immer im Dunkeln bleiben. Die beiden Interpretationen, die sein Bild zulässt, sind jedoch geeignet, um über das Verhältnis von christlicher Religion und westlichen Gesellschaften nachzudenken. Man kann es gerade mit dem Bild der von Beuckelaer immer wieder detailgetreu gemalten Früchte verdeutlichen: Sind die Freiheit der Individuen, auch die Freiheit des Marktes, der säkulare Rechtsstaat, der ihn ermöglicht und schützt, sowie die freie und offene Gesellschaft «Früchte» einer Religion, welche die unveräusserliche Würde des Individuums betont? Diese Religion unterscheidet Kaiser und Gott und lehrt die Freiheit und Gleichheit aller unter einem einzigen Gott. Wenn das so ist: Können diese Früchte weiterhin genossen werden, wenn die Wurzeln, die sie hervorgebracht haben, verdorrt sind?

Die gegenteilige Sichtweise könnte man ebenfalls mit einem Bild verdeutlichen. Es wird zwar gerne zugegeben, dass ohne die christliche Religion sowie die Ingredienzen aus Jerusalem, Athen und Rom die aufgeklärte westliche Zivilisation nicht entstanden wäre. Aber diese Wurzeln seien nun entbehrlich geworden. Oder technizistischer gesagt: Was dazu erforderlich gewesen sei, die freie aufgeklärte Welt in ihre Umlaufbahn zu schiessen – die erste Raketenstufe der jüdisch-christlichen Religion –, sei nun ausgebrannt. Sie könne abgekoppelt werden und in den Weiten des Weltalls verschwinden. Das Eigentliche fliege nun von alleine weiter.

Diese letztere These hat heute im Westen zweifellos mehr Anhänger, auch unter den Verfechtern des Liberalismus. Die Zukunft wird weisen, ob sie richtig ist. Denn dass die christliche Religion hinter den Segnungen des Marktes weit in den Hintergrund gerückt ist, kann niemand bestreiten.

Es bleibt freilich zu bedenken, dass es von Anfang an auch eine andere liberale Lesart gegeben hat, was die Rolle der (christlichen) Religion für den Bestand der freien, offenen Gesellschaften betrifft. Benjamin Constant, der lebenslang die Geschichte der Religionen erforscht hat, ohne dabei ein Apologet christlicher Orthodoxie zu sein, hat festgestellt, kein irreligiöses Volk sei je frei geblieben. Denn um die Freiheit zu verteidigen, müsse man bereit sein, sein Leben zu opfern. Was aber gebe es mehr als das Leben für denjenigen, der jenseits dieses Lebens nur das Nichts sehe? Wenn der Despotismus auf die Abwesenheit des religiösen Gefühls stosse, werfe sich das Menschengeschlecht in den Staub.

Alexis de Tocqueville hat ebenfalls die Gefahr betont, die mit dem Schwinden religiöser Überzeugungen verbunden sei. Da man nicht mehr hoffe, die Fragen über die letzte Bestimmung des Menschen lösen zu können, finde man sich damit ab, daran nicht zu denken. Ein solcher Zustand müsse jedoch unvermeidlich die Seelen zermürben. Wenn somit der geistig-spirituelle Bereich diffus werde, wolle man, dass zumindest in den materiellen Dingen alles gefestigt und dauerhaft sei. Und Tocqueville prophezeite solch existenziell verunsicherte Bürger betreffend: «Da sie sich ihrem früheren Glauben nicht wieder zuwenden können, schaffen sie sich einen Herrn an.»

Und im Sinne Constants folgerte er daraus: «Was mich betrifft, bezweifle ich, dass der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann. Ich bin geneigt zu denken, dass er, ist er nicht gläubig, hörig werden, und ist er frei, gläubig sein muss.»

Schicksalhafte Alternativen

In der Tat sind sowohl der Marxismus-Leninismus wie auch der Nationalsozialismus in einem politisch sowie religiös fragilen Umfeld gross geworden. Ein weltanschaulich-religiöses Vakuum hat nicht nur hier diesseitigen Heilsbringern und ihren Lehren einen fruchtbaren Boden bereitet. Diese Lehren haben die menschliche Sehnsucht nach dem Paradies verzeitlicht und verdiesseitigt. Und sie haben dadurch bekanntlich die Hölle auf Erden geboren.

Tocqueville hat ebenfalls bemerkt, dass Demokratien nur durch Erfahrung zu lernen vermögen. Die westlichen Demokratien werden angesichts ihrer Infragestellung durch russischen Imperialismus, chinesischen Expansionismus, gewaltbereiten Islamismus, links-grün-woken Kulturrelativismus, westlichen Selbsthass und unbewältigte Migration in nächster Zeit Erfahrungen machen. Es wird sich dann zeigen, ob sie im Sinne eines Perpetuum mobile aus sich heraus fähig sind, den Grundsätzen der Freiheit, der Menschenwürde und der offenen, freien Gesellschaft Bestand zu verleihen.

Judentum und Christentum als in den Hintergrund entschwindende Realitäten aus vergangenen Zeiten oder als tragender Grund des freien Marktes der Möglichkeiten: Das sind nicht nur die zwei Deutungsmöglichkeiten des Gemäldes von Joachim Beuckelaer. Es sind die Alternativen, vor denen der Westen heute schicksalshaft steht.

Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur. Er ist Autor von «Religion des Bürgers statt Zivilreligion. Zur Vereinbarkeit von Pluralismus und Glaube im Anschluss an Tocqueville» (Schwabe, 2024).

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