Der amerikanische Politologe John Mearsheimer sieht die Schuld am Krieg in der Ukraine beim Westen. An eine friedliche Lösung glaubt er nicht. Trump verachte die Europäer, und der Kontinent stehe womöglich vor neuen Kriegen.

Herr Mearsheimer, haben Sie Wladimir Putin jemals getroffen?

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Nein, ich habe ihn nie getroffen.

Aber Sie legen grossen Wert darauf, dass Putin ein rationaler Akteur sei. Warum?

Es ist ganz klar, dass Putin ein erstklassiger Stratege ist und sich rational verhält. Das bedeutet nicht, dass man mit seinem Handeln einverstanden sein oder es gut finden muss. Putin hat seit April 2008, als die Nato erklärte, dass die Ukraine Mitglied werden würde, eines sehr deutlich gemacht: Er und seine russischen Eliten betrachten die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als existenzielle Bedrohung für Russland. Seitdem hat er nach dieser Überzeugung gehandelt. Dazu gehört auch die Entscheidung, im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren. Aus Sicht der russischen Interessen hat er sich also strategisch klug verhalten.

Jeder Krieg hat eine komplizierte Vorgeschichte. Aber Sie scheinen hier eine klassische Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Den Krieg hat ja ganz offensichtlich Putin begonnen.

Es steht ausser Frage, dass Russland in die Ukraine eingefallen ist, aber die entscheidende Frage ist, warum Putin so handelte. Der Grund war, dass er eine Nato-Erweiterung in die Ukraine als existenzielle Bedrohung ansah. Dies ist ein klassischer Präventivkrieg. Er wollte verhindern, dass die Nato Militärstützpunkte auf ukrainischem Boden errichtet. Das war für die Russen inakzeptabel. Genauso wie es für die Vereinigten Staaten inakzeptabel war, dass die Sowjetunion Raketen auf Kuba stationierte. John F. Kennedy machte den Sowjets während des Kalten Krieges klar, dass die Vereinigten Staaten militärische Gewalt anwenden würden, wenn sie die Raketen nicht entfernen würden. Und Putin machte klar, dass er militärische Gewalt anwenden würde, wenn wir die Nato-Erweiterung in die Ukraine nicht stoppen würden. Die beiden Situationen sind bemerkenswert ähnlich.

Halten wir fest: Die USA lehnten den Nato-Beitritt der Ukraine ab, und das Land ist bis heute kein Mitglied der Nato. Ist Putin also in seiner eigenen Realität gefangen?

Seine Sichtweise ist richtig. Und ich glaube, wenn Sie im Februar 2022 an der Spitze Russlands gestanden hätten, hätten Sie die Ukraine überfallen. Ich hätte sicherlich dasselbe getan wie Putin. Ich hätte die Ukraine sogar noch früher überfallen. Das Problem ist, dass die meisten Menschen im Westen die Nato-Erweiterung in die Ukraine nicht als existenzielle Bedrohung ansehen, aber das ist leicht gesagt, wenn man in der Schweiz sitzt. Wenn man jedoch Russland ist und eine Geschichte von Invasionen aus dem Westen hat, wird man nervös, man bekommt Angst. Und genau das ist passiert.

Um Ihre These zu untermauern, dass der Westen den Krieg provoziert habe, zitieren Sie Putin selbst. Er hat indirekt auf die Osterweiterung der Nato als Grund für den Krieg verwiesen und gesagt, dass eine rote Linie überschritten worden sei. Warum trauen Sie Putins Worten einfach?

Seine Worte waren sehr klar. Er hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied werden kann. Und er sagte, er würde die Ukraine zerstören, bevor er das zulassen würde. Die Europäer und die Amerikaner haben ihm nicht geglaubt, ebenso wenig wie die Ukrainer. Wir haben Putin provoziert, und er ist einmarschiert. Das Endergebnis dieser Politik ist, dass die Ukraine zerstört wird. Wir hätten Putin ernst nehmen sollen. Er hat nicht gelogen. Im Februar 2022 war die Ukraine de facto Mitglied der Nato, und deshalb ist er zu diesem Zeitpunkt einmarschiert.

2014, um die russische Annexion der Krim, sagte Putin, er habe nicht die Absicht, die gesamte Ukraine anzugreifen. Kurz, seine Worte sind oft nicht viel wert.

Im Februar 2014, als die Krise ausbrach, war die Ukraine noch nicht nennenswert in die Nato integriert. Aber bis zum Februar 2022 hatte sich die Lage erheblich verändert. Die Vereinigten Staaten und die Europäer haben nach dem Februar 2014 die Ukrainer bewaffnet und ausgebildet. Der Grund, warum sich die Ukrainer nach Ausbruch des Krieges so gut geschlagen haben, ist, dass sie gut bewaffnet und gut ausgebildet waren. Und genau das hat Putin provoziert. Er hat verstanden, was vor sich ging. Die Russen haben im Vorfeld des Krieges versucht zu verhandeln, aber wir haben Verhandlungen abgelehnt.

Putin hat immer wieder imperialistische Äusserungen gemacht, zum Beispiel in seinem Pamphlet «Eine Nation» aus dem Jahr 2021, in dem er den Ukrainern die Souveränität abspricht. Warum halten Sie Putins imperialistisches Motiv für einen Mythos?

Es gibt keine Beweise für diese Ansicht. Das ist eine Ansicht, die sich die Europäer ausgedacht haben, um Putin die Schuld zu geben. Die Europäer wollen sich nicht der Tatsache stellen, dass sie – zusammen mit den USA – für diese Katastrophe verantwortlich sind. Also haben sie diese Geschichte erfunden, dass er ein Imperialist sei und dass er darauf aus sei, die gesamte Ukraine zu erobern, um dann Gebiete in Osteuropa zu erobern und schliesslich Westeuropa zu bedrohen. So ist er in den Köpfen der grossen Mehrheit der Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten der Bösewicht. Aber wenn man meiner Argumentation folgt, dann ist der Westen der Bösewicht. Und das wollen die Vereinigten Staaten und die Europäer natürlich nicht hören.

Die Europäer wollen sich bis 2030 verteidigungsfähig machen. Laut Medienberichten gehen die deutschen und litauischen Geheimdienste davon aus, dass Russland plant, den Krieg in Europa auszuweiten. Halten Sie die Europäer für paranoid?

Ja, das ist die strategische Dummheit, die wir von den Europäern und Amerikanern gewohnt sind. Hätte es im April 2008 oder danach keine Bestrebungen gegeben, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, wäre die Ukraine heute innerhalb ihrer Grenzen von vor 2014 intakt. Die Krim wäre heute Teil der Ukraine.

Gehen wir einmal davon aus, Sie hätten recht und Putin hätte kein imperialistisches Motiv: Warum hat er nicht schon längst eine friedliche Einigung mit Trump erzielt?

Das Problem ist, dass es zwischen der Ukraine und Russland keine Grundlage für ein sinnvolles Friedensabkommen gibt. Die russischen Forderungen sind für die Ukrainer inakzeptabel. Und natürlich sind die Forderungen Russlands auch für die Europäer inakzeptabel, da sie die Ukrainer unterstützen. Mit Ausnahme von Trump und einer Handvoll anderer in seiner Regierung stehen auch in den USA alle auf der Seite der Ukrainer. Wie lässt sich die Quadratur des Kreises lösen?

Sagen Sie es mir.

Die Antwort lautet: gar nicht. Und deshalb ist es Trump nicht gelungen, eine Einigung zu erzielen. Trump müsste den russischen Forderungen zustimmen. Das kann er nicht.

Was sind die wichtigsten Forderungen Russlands?

Es gibt drei. Erstens muss die Ukraine neutral sein. Das bedeutet, dass sie nicht der Nato beitreten darf und dass es keine Sicherheitsgarantien seitens des Westens geben darf. Zweitens muss die Ukraine akzeptieren, dass sie die Krim und die vier östlichen Oblaste verloren hat, die derzeit grösstenteils von Russland kontrolliert werden. Mit anderen Worten: Die Ukraine und der Westen müssen akzeptieren, dass dieses Gebiet jetzt und für immer russisches Territorium ist. Drittens bestehen die Russen auf einer erheblichen Entmilitarisierung der ukrainischen Armee, damit die Ukraine keine offensive Bedrohung für Russland darstellt. Selbst wenn Sie eine Einigung über diese Fragen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten erzielen, werden Sie die Ukraine und die Europäer nicht zur Einigung bringen.

Sie denken tatsächlich, dass Trump diesen Forderungen der Russen vollständig zustimmen sollte?

Das ist der einzige Weg, um den Krieg zu beenden, und das ist das Richtige. Die Europäer wollen, dass der Krieg weitergeht, mit der Folge, dass mehr Ukrainer sterben und die Ukraine mehr Territorium verliert. Wenn Sie meine Sichtweise akzeptieren, wird der Krieg jetzt beendet. In Zukunft werden weniger Ukrainer sterben, und sie werden weniger Territorium verlieren.

Frieden ohne Sicherheitsgarantien ist für die Ukraine völlig inakzeptabel.

Ich verstehe, dass das inakzeptabel ist, das möchte ich klarstellen. Aber es ist eine Forderung, auf der die Russen beharren. Der Grund dafür ist, dass die Ukraine mit Sicherheitsgarantien de facto Mitglied der Nato wäre. Nehmen wir an, die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten geben der Ukraine Sicherheitsgarantien, dann geben sie der Ukraine im Grunde genommen eine Garantie nach Artikel 5. Sie sehen also, das ist Putins Argument. Und er hat recht.

Wenn Putin nicht vorhat, die Ukraine erneut anzugreifen, dann müsste ihn die Sicherheitsgarantie nicht stören. Sie glauben also, dass es in diesem Krieg keine friedliche Lösung gibt?

Ich hoffe, dass ich mich irre, aber ich halte es für fast unmöglich, dass wir ein sinnvolles Friedensabkommen erreichen werden. Ich glaube, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden wird und dass wir am Ende einen eingefrorenen Konflikt haben werden.

Die Verhandlungsstrategie der Amerikaner gegenüber Russland erscheint von Anfang an fragwürdig: maximaler Druck auf Kiew, während Moskau geradezu hofiert wird. Trumps Emissär Witkoff betont sogar seine freundschaftlichen Beziehungen zu Putin.

Was soll er denn tun? Witkoffs Aufgabe ist es, mit den Russen zu sprechen, Aussenminister Rubio und Präsident Trump sind für die Verhandlungen mit beiden Seiten zuständig. Es ist nichts Falsches daran, dass Witkoff nur mit den Russen spricht, und es ist auch nichts Falsches daran, dass er freundschaftliche Beziehungen zu Putin unterhält. Die entscheidende Frage ist, ob Witkoff eine Einigung mit Putin erzielen kann, die er dann Trump vorlegen kann, die dann an die Ukrainer weitergeleitet werden kann und zu einem Friedensabkommen führt.

Dann sind wir uns vermutlich in diesem Punkt einig: Es scheint eine wunderbare Freundschaft zu sein, aber keine besonders produktive.

Es gibt keine Lösung. Auf einer sehr allgemeinen Ebene versteht die Trump-Regierung die Ursachen des Ukraine-Krieges und was getan werden muss, um den Krieg zu beenden. Aber Trump ist nicht der einzige Akteur in den Verhandlungen.

Im März gab es einen heftigen Streit zwischen Selenski und Trump im Oval Office. Anlässlich der Beerdigung des Papstes in Rom wurde dann im Petersdom eine Versöhnung zwischen den beiden inszeniert. Wie interpretieren Sie das?

Ich glaube nicht, dass es eine Änderung in Trumps Politik gibt. Die westlichen Medien blasen die Bedeutung dieses Treffens völlig auf. Die Vorstellung, dass ein 15-minütiges Gespräch zwischen Selenski und Trump ihre Beziehung grundlegend verändern wird, ist kein ernstzunehmendes Argument. Tatsache ist, dass Trump kein Interesse an der Ukraine hat. Ja, dass er aus Europa raus will. Trump verachtet die Europäer. Er möchte, dass die Vereinigten Staaten sich Asien zuwenden. Trumps Wut auf die Europäer wird mit der Zeit noch wachsen. Und die Wut der Europäer auf Trump wird auch wachsen. Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa werden sich während seiner restlichen Amtszeit verschlechtern.

Warum sagt die Trump-Regierung dann nicht klar, dass sie das amerikanische Militär aus Europa abziehen will?

Sie haben das angedeutet. Sie haben deutlich gemacht, dass wir viele amerikanische Truppen aus Europa abziehen werden und dass wir in Zukunft viel weniger Geld für Europa ausgeben werden. Das wurde in der Rede von J. D. Vance vom 14. Februar an der Münchner Sicherheitskonferenz klar. Die Regierung wird nicht sagen, dass sie sich vollständig aus Europa zurückziehen und die Nato plötzlich auflösen wird. Stattdessen werden wir eine allmähliche Erosion des amerikanischen Engagements in Europa und eine Schwächung von Artikel 5 erleben.

Sie glauben also, die Beistandspflicht der Nato ist im Zweifel bald nicht mehr viel wert. Gibt es die transatlantischen Beziehungen – oder das, was wir den Westen nennen – überhaupt noch?

Es gibt immer noch transatlantische Beziehungen, und es ist immer noch sinnvoll, vom Westen zu sprechen. Aber es gibt ernsthafte Brüche im Westen.

Wo genau?

Wenn die AfD eines Tages die Wahlen in Deutschland gewinnen sollte oder andere rechte Parteien in Europa an die Macht kämen, wäre es wahrscheinlich, dass diese Länder Russland viel mehr Sympathie entgegenbringen. Tatsache ist, dass Trump, unabhängig davon, ob er alle amerikanischen Truppen aus Europa abzieht oder nicht, kein Interesse daran hat, für die Sicherheit Europas zu sorgen. Er will die europäische Sicherheit den Europäern überlassen.

Was ist die Konsequenz für Europa?

Die zentrifugalen Kräfte werden sich verschärfen, und es wird zu mehr Unruhen zwischen den europäischen Ländern kommen. Sobald die Amerikaner nicht mehr die dominierende Kraft in der europäischen Sicherheitspolitik sind, werden die Europäer erhebliche Probleme haben, eine gemeinsame Handlungsfähigkeit zu entwickeln.

Die oberste Priorität der amerikanischen Aussenpolitik ist China. Wird Trump künftig noch stärker versuchen, die Europäer zu einer antichinesischen Politik zu verpflichten?

Das steht ausser Frage. Die Vereinigten Staaten betrachten China zu Recht als die grösste Bedrohung. Daher ist es sinnvoll, dass die USA sich aus Europa zurückziehen und sich Asien zuwenden, um China in Schach zu halten. Um diese Politik umzusetzen, wollen die Vereinigten Staaten, dass die Europäer so viel wie möglich helfen. Sie werden fordern, dass die Europäer China keine Spitzentechnologien zur Verfügung stellen, die Peking bei der Produktion hochentwickelter Technologien helfen könnten.

Das wiederum kollidiert mit den Interessen der Europäer, die mit China ungehindert weiter handeln wollen. Wie kann Trump sie unter Druck setzen?

Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten nicht über viele Druckmittel verfügen. Die unterschiedlichen Interessen bezüglich China werden die Beziehungen zwischen den USA und Europa weiter vergiften. Ein Hebel der Vereinigten Staaten wäre dieser: Sie könnten den Europäern sagen, dass sie Truppen in Europa stationieren und Mitglied der Nato bleiben, solange die Europäer keine Spitzentechnologien mit China handeln. Der Handel im Allgemeinen stellt keine Bedrohung dar. Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass die Europäer Technologien verkaufen, die es China ermöglichen, die USA im Wettrüsten zu überholen. Halte ich es für wahrscheinlich, dass die USA diesen Hebel einsetzen? Eher nicht.

Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Angriff Chinas auf Taiwan in naher Zukunft?

Unwahrscheinlich, vor allem, weil dies für die Chinesen militärisch äusserst schwierig zu bewerkstelligen wäre. Ich glaube, dass die Chinesen wissen, dass die Amerikaner, Japaner und Australier Taiwan verteidigen würden.

Lesen Sie europäische Medien?

Ja, ich lese ziemlich viel. Ich habe ein gutes Gespür dafür, was die Europäer denken.

Was ist Ihr Eindruck, wenn Sie die aussenpolitischen Debatten in Europa verfolgen?

Den meisten Europäern fehlt es an strategischem Sachverstand. Die europäische Sicht auf den Krieg in der Ukraine heute ist einfach falsch. Sie ist strategisch unklug. Die Europäer verschlimmern die Lage der Ukraine.

Was ist der Grund für diesen Mangel an strategischem Gespür?

Als der Kalte Krieg endete, glaubten die meisten Europäer und Amerikaner, dass die Machtpolitik oder die Realpolitik in den Mülleimer der Geschichte gehörten. Die Vorstellung, dass man auf das Gleichgewicht der Mächte achten muss, war vorbei. Man glaubte, dass wir in einer liberalen Welt lebten, in der wirtschaftliche Verflechtung, internationale Institutionen und die Verbreitung der Demokratie eine friedliche Welt schaffen würden. Das war ein Irrtum. Die Idee, die Nato nach Osten auszudehnen, war aus russischer Sicht unannehmbar. Die meisten Europäer verstanden das nicht, weil sie nicht in Begriffen der Machtpolitik dachten. Sie betrachteten die internationale Politik aus einer liberalen Perspektive, was ein Rezept für grosse Probleme ist.

In einem 2022 veröffentlichten Essay haben Sie drei Szenarien für den Einsatz von Atomwaffen durch Russland skizziert. Warum sind Sie überzeugt, dass Putin so schnell zur Atombombe greifen würde? Ist das noch Realismus oder schon Panikmache?

Ich habe nicht gesagt, dass Russland so schnell handeln würde. Wenn die Russen aber kurz davor stehen, den Krieg in der Ukraine zu verlieren, werden sie den Einsatz von Atomwaffen ernsthaft in Betracht ziehen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch davon Gebrauch machen. Der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine wird noch wahrscheinlicher dadurch, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, Vergeltungsmassnahmen zu ergreifen. Und die USA werden sicherlich nicht atomar zurückschlagen. In gewisser Weise können die Russen also Atomwaffen einsetzen, ohne Vergeltungsmassnahmen in Form von Atomwaffen befürchten zu müssen.

Wie sollten kleine Staaten wie die Schweiz mit Grossmächten umgehen?

Wenn man die Schweiz ist, muss man sich keine grossen Sorgen machen. Aufgrund der geografischen Lage ist man sicher. Wenn man hingegen die Ukraine oder Litauen oder Finnland ist, ist es absolut unerlässlich, dass man sehr genau darauf achtet, was die strategischen Interessen des grossen Nachbarn sind. Denn wenn man etwas tut, das den vitalen Interessen Russlands zuwiderläuft, werden die Russen alles tun, um einen zu vernichten. Das Problem der Ukraine ist, dass sie dabei nicht besonders vorsichtig war.

Was halten Sie von der Aussenpolitik der baltischen Staaten? Sind sie in Ihren Augen vorsichtig genug?

Nein. Sie provozieren gern die Russen. Es gibt sechs potenzielle Konfliktzonen, die sich mit dem Krieg in der Ukraine überschneiden. Erstens die Arktis, zweitens die Ostsee, drittens Kaliningrad, viertens Weissrussland, fünftens die Moldau und sechstens das Schwarze Meer. Man kann sich leicht vorstellen, dass in Zukunft an diesen Brennpunkten Konflikte ausbrechen. Als Folge des Ukraine-Krieges haben wir eine vergiftete Politik in Europa. Diese wird so schnell nicht verschwinden. Insbesondere die Beziehungen zwischen Russland und Europa werden noch lange Zeit sehr schlecht sein. Im besten Fall wird es zwischen der Ukraine und Russland zu einem eingefrorenen Konflikt kommen, der jederzeit wieder als heisser Krieg ausbrechen kann.

Auf Ihrer Website stellen Sie sich auf einem Bild als Niccolò Machiavelli dar. Entspricht das Ihrer Selbstwahrnehmung, oder ist das ironisch gemeint?

Ich bin Realist – ein realistischer Theoretiker der internationalen Beziehungen. Es gibt eine ganze Reihe realistischer Denker, die bis auf Thukydides zurückgeht und Machiavelli, Thomas Hobbes, Hans Morgenthau und Kenneth Waltz einschliesst. Ich sehe mich selbst als Teil dieser realistischen Tradition. Als ich vor einigen Jahren an der University of Pennsylvania einen Vortrag hielt, haben Studenten dieses Porträt von mir erstellt, auf dem ich wie Machiavelli gekleidet bin. Ich fand das Bild interessant und clever, also habe ich es auf meine Website gestellt, um zu vermitteln, dass ich ein Realist bin.

Der eiskalte Macht-Analytiker

ben. · John Joseph Mearsheimer, 77, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Chicago. Er bezeichnet sich selbst als Realist. Demnach dominieren Grossmächte das geopolitische Geschehen. Staaten kämpfen primär um ihr Überleben. Um mehr Macht zu erlangen und sich abzusichern, tun sie gemäss Mearsheimer fast alles. Entsprechend unvermeidlich sind Kriege. Anfang der neunziger Jahre warnte er die Ukraine davor, ihre Atomwaffen angesichts eines potenziellen russischen Angriffs aufzugeben.
Immer wieder bringt sich Mearsheimer mit streitbaren Thesen in die öffentliche Debatte ein: Israel wirft er einen Genozid an den Palästinensern vor, im Falle der russischen Invasion in die Ukraine zeigt er grosses Verständnis für Putin. Letzteres führt zu heftiger öffentlicher Kritik bis hin zu Vorwürfen, er betreibe Desinformation für den Kreml. Im Vorfeld der amerikanischen Wahlen von 2016 und 2020 erklärte Mearsheimer, den linken Kandidaten Bernie Sanders zu unterstützen.

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