Freitag, Oktober 4

Nach 51 Jahren hat John Neumeier die Leitung des Hamburg Ballett abgegeben. Der Umgang mit seinem künstlerischen Erbe wird für Demis Volpi zur Herausforderung. Neumeier selbst baut derweil Baden-Baden zur neuen Ballett-Hochburg aus.

John Neumeier ist in seinem Element. Der Choreograf redet über seine Ballette, erklärt, wie er zu seinen Geschichten und Figuren gefunden hat. Dann lässt er eine Szene tanzen. Und verzaubert allein mit dem Reden über Tanz rund 1500 Menschen. Viele sind von weit her angereist. Dieses Jahr spricht Neumeier über seine Tennessee-Williams-Ballette «Endstation Sehnsucht» und «Die Glasmenagerie». Er tut dies im Festspielhaus Baden-Baden, wo die beiden Tanzstücke derzeit zu sehen sind – seit Jahrzehnten hat er hier regelmässig mit dem Hamburg Ballett gastiert.

Das Besondere an der diesjährigen Ballett-Werkstatt: John Neumeier hat keine Kompanie mehr. Der dienstälteste Ballettdirektor der Welt hat seinen Posten nach 51 Jahren im Sommer aufgegeben und den Stab an den deutsch-argentinischen Choreografen Demis Volpi weitergereicht. Dieser zeigt zwei Tage später an Neumeiers ehemaliger Wirkungsstätte mit seinem Abend «The Times Are Racing», wohin das Hamburg Ballett nun tanzen wird: in eine Vielfalt von choreografischen Handschriften, auch jenseits der klassischen Neumeier-Ästhetik.

Neue Tanzsprachen

Volpis weltberühmter Vorgänger baut unterdessen Baden-Baden zu seiner neuen Hochburg aus. «The World of John Neumeier» prangt auf orangefarbenen Flaggen überall in der Bäderstadt. Was sich im Lauf der Jahre mit den Gastspielen des Hamburg Ballett und des Bundesjugendballetts zu einem kleinen Festival mit Rahmenveranstaltungen entwickelt hatte, ist nun zu einem Festspiel rund um Neumeier und seine Kunst gewachsen – jetzt auch offiziell mit ihm als Kurator. Dieses Jahr konnte er erstmals eine weitere Kompanie einladen. Das Joffrey Ballet aus Chicago zeigte am Wochenende unter anderen das Stück «Of Mice and Men» der Zürcher Ballettdirektorin Cathy Marston.

Es stellt auch Tänzer für Neumeiers beliebte Ballett-Werkstatt. Denn nur wenige seiner Ehemaligen hat er aus Hamburg wegpicken können. Der Rest probt an der Elbe für den ersten Abend unter Volpi. Der mutet ihnen viel zu. Einmal eingetaucht in die Welt des John Neumeier, tanzte die Hamburger Kompanie, anders als viele grosse Ensembles, fast ausschliesslich die Werke ihres Meisters. Nun aber müssen sie sich auf vier unterschiedliche Tanzsprachen einlassen: von Pina Bauschs Tanztheateranfängen bis zum rasanten Rockballett des Amerikaners Justin Peck. Und das innerhalb weniger Wochen. Sie leisten das mit Bravour, was wiederum Neumeier zu verdanken ist, der seine Hamburger Truppe zu jeder Zeit in Bestform präsentiert hat.

Nun führt er in Baden-Baden charmant und gewitzt durch die Ballett-Werkstatt, plaudert leicht und lässt tief blicken: wie viel Recherche hinter einem Tanzstück steht, wie viel Analyse hinter der Poesie. Das kann keiner besser als er. Neumeiers Ballett-Werkstätten geben einen Hinweis darauf, warum die Ehe zwischen dem amerikanischen Choreografen und der Stadt Hamburg so lange halten konnte: Der Künstler hat sich stets um die Zugänglichkeit zu seiner Kunst bemüht.

Flügge geworden

Im Juli war seine Choreografie «Epilog» sein vorerst letztes Wort in Hamburg. Es war bereits ein Nachspiel. Denn eigentlich wollte Neumeier die Intendanz an der Elbe schon zu seinem 50-Jahre-Jubiläum abgeben. Doch Demis Volpi war noch als Direktor beim Ballett am Rhein in Düsseldorf gebunden, und so gab Neumeier ein weiteres Jahr dazu. Sicherlich zur Freude seiner selbst, schwebt doch dieser «Epilog» mit einer so sanften Leichtigkeit über die Bühne, als hätte er die zwölf Monate Zugabe als eine Zeit des Loslassens gelebt. Und als wäre nun die wunderbare Kompanie, die er während eines halben Jahrhunderts aufgebaut und umhegt hat, sichtbar flügge geworden – frei für ein Leben ohne ihn.

«Epilog» führt zu Stationen eines Künstlerlebens und wird begleitet von Weggefährten wie dem Schweizer Modedesigner Albert Kriemler, dessen minimalistische Schnitte und Akris-Stoffe auch zum Markenzeichen des Hamburg Ballett geworden sind; von dem französischen Pianisten David Fray und von der Ausnahme-Ballerina Alina Cojocaru, die in Baden-Baden in der «Glasmenagerie» zu sehen ist. Es ist ein Abend ohne grosses Orchester, mit Kammermusik von Franz Schubert und Richard Strauss, dazu Songs von Simon & Garfunkel aus Neumeiers jungen Jahren. Dennoch ist «Epilog» keine Autobiografie, eher ein Bilderbuch eines erfüllten Künstlerlebens – und ein Gedicht von einem Ballett, leicht wie eine Feder, melancholisch wie der erste Herbstnebel.

Es soll im November auch wieder in Hamburg zu sehen sein. Denn das umfangreiche Erbe des Ehrenbürgers der Hansestadt soll auch hier weiterhin gepflegt werden – eine ästhetische Neuausrichtung stand nie zur Debatte. So hat Volpi allein acht Neumeier-Ballette in seine erste Spielzeit aufgenommen. Eröffnet aber wird sie mit vier Stücken, die fünfzig Jahre ausserhalb der Neumeier-Welt umfassen – ein dezenter Hinweis auf die angestrebte neue Vielfalt. Das jüngste hat Volpi aus Düsseldorf mitgebracht: «The thing with feathers» von 2023 zu den «Metamorphosen» von Richard Strauss gibt ein erschütterndes Bild unserer Zeit, es ist ein Tinder-Ballett von Suchenden. Menschen treffen sich nur kurz, klammern sich aneinander und gehen weiter. Sie tun dies rennend, schreitend, bodennah und auf Spitze, leidenschaftlich oder gleichgültig. Bis irgendwann so etwas wie Frohmut im Lindy Hop aufkommt.

Das Publikum jubelt

Die älteste Arbeit stammt aus der Zeit, als Pina Bausch in Wuppertal ihr legendäres Tanztheater aufbaute und Neumeier sein Hamburger Ballett-Universum. Josephine Ann Endicott, eine Bausch-Tänzerin der ersten Stunde, hat mit Kollegen ein sehr frühes Werk der Tanzpionierin rekonstruiert, «Adagio» von 1974. Das Stück zum ersten Satz aus Mahlers 10. Sinfonie entspricht eigentlich noch nicht dem, was man als Markenzeichen des Tanztheaters von Bausch kennt. Sehr schön aber ist zu sehen, wie das Material der Choreografin hier aus dem Modern Dance in eine neue Expressivität fliesst, wie spätere Themen, etwa die Auseinandersetzung von Mann und Frau, bereits aufscheinen. Ihre berühmte Arbeitsweise mit Fragen an die Tänzerinnen und Tänzer entwickelte sie erst wenige Jahre später.

Mit Hans van Manens «Variations for Two Couples» von 2012 steht ein wunderbares Stück des Grandseigneurs des späten neoklassischen Balletts auf dem Programm, und das liegt den Solisten des Hamburg Ballett sichtlich. Während das rasende Tempo von «The Times Are Racing», das Justin Peck 2017 mit dem New York City Ballet zu elektronischer Musik von Dan Deacon geschaffen hat, die Tänzer in ihren Turnschuhen an die Grenzen treibt. Doch sie bleiben Sieger, das Publikum jubelt – wie einst bei Neumeier. Demis Volpi ist sicht- und hörbar angekommen.

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