Besuch bei einem Teenager, der den Sprung ans Langzeitgymnasium versucht hat – ohne privaten Vorbereitungskurs.
Joris Karch springt die Treppe herunter und streckt dem Besucher die Hand entgegen. «Hallo, ich bin Joris!» Der 13-Jährige freut sich auf den Termin an diesem Dienstagabend, nach der Schule bei ihm zu Hause in Glattfelden. Noch besser wäre Montag gewesen, als die Lehrerin an der Kantonsschule Zürcher Unterland in Bülach seine Klasse gefragt hatte, ob jemand mit der NZZ über die Gymiprüfung sprechen wolle. Joris hatte sofort aufgestreckt – er dachte, das Gespräch würde gleich anschliessend stattfinden. «Dann hätte ich kein BG gehabt!», sagt der Teenager, also kein Bildnerisches Gestalten.
Pech. Da musste er durch. Genauso wie durch die Aufnahmeprüfung ins Langzeitgymnasium vor einem Jahr.
Ruhig bleiben, die Aufgaben genau durchlesen
Schlimm war für Joris damals vor allem der Aufsatz, die dritte Teilprüfung nach «Sprachbetrachtung und Textverständnis» und Mathematik. Sein Thema lautete:
Versprochen! Erzähle eine Geschichte, in der ein Versprechen gebrochen wird. Es muss im Text deutlich werden, wie es zum Versprechen kam und warum es nicht eingehalten wurde. Erzähle im Präteritum.
Mit dem Präteritum hatte der Prüfling keine Probleme. Schliesslich hatte er den Vorbereitungskurs an seiner Primarschule in Glattfelden besucht: jeden Donnerstagmorgen vor der ersten Schulstunde, von 7 Uhr 15 bis 8 Uhr 15, nach den Herbstferien bis zu den Sportferien. Dort wurden auch Aufsätze geübt, und natürlich auch die Vergangenheitsform. Und im normalen Unterricht schrieben er und seine Mitschüler ebenfalls eigene Texte.
Aber an der Gymiprüfung ist ihm ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Obwohl ihm seine Mutter vorher noch gesagt hatte: «Lies die Aufgaben genau durch.»
Ruhig bleiben, bloss nicht in Hektik verfallen. Man kann es nicht oft genug betonen, bevor am Montag erneut etwa 4500 Buben und Mädchen im ganzen Kanton ihr Glück bei der Aufnahmeprüfung ins Langzeitgymnasium probieren.
Bei Joris nützten diese Ratschläge wenig: Er schaute nicht genau hin und schrieb prompt am Thema vorbei.
Die Hauptfigur seiner Geschichte – ein Fussballspieler – hatte einem Freund versprochen, im Halbfinalrückspiel das entscheidende Tor zu schiessen. Dummerweise traf er tatsächlich: Versprechen eingehalten, den Final des Turniers zwar erreicht, aber am Thema des Aufsatzes vorbeigeschossen.
Joris war untröstlich, als ihm sein Versehen bewusst wurde. Und das geschah schnell, denn manche Dinge ändern sich nie: Gymikandidaten reden nach der Prüfung miteinander. Sie wollen wissen, wie es den anderen ergangen ist. Welche Aufgaben sie lösen konnten und welche nicht. Was sie im Aufsatz geschrieben haben, zu welchem Thema . . .
Oje, das Thema. Das Versprechen hätte gebrochen werden sollen. Gebrochen – und nicht etwa eingehalten! Joris’ Traum vom Gymnasium drohte zu platzen.
Dabei hatte alles so schön angefangen. In den ersten Jahren besuchte der Knabe die Begabtenförderung an seiner Primarschule in Glattfelden. Joris langweilte sich manchmal im Unterricht. Also durften er und die anderen unterforderten Kinder weitere Stunden besuchen.
Für Joris gab es damals Spezialprojekte, zum Beispiel über die Römer in der Schweiz. Er sagt: «Das fand ich cool.» Und ab der Fünften bemühte sich der Klassenlehrer auch um die starken Schüler, zum Beispiel mit Zusatzaufgaben. Joris langweilte sich nicht mehr. Und irgendwann wusste er: Er will die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium probieren.
Mutter, Vater und der ältere Bruder haben alle die Sek besucht
Es wäre eine Premiere in der Familie. Joris’ Vater hatte eine Ausbildung als Elektromonteur gemacht und leitet heute den Aussendienst einer Firma, die Notbeleuchtungen herstellt. Seine Mutter war Pharma-Assistentin, sein älterer Bruder geht in die dritte Sekundarklasse und wird im Sommer eine KV-Lehre auf einer Bank beginnen.
Das ist nicht untypisch in Glattfelden. Hier wollen wenige Primarschüler ins Gymnasium. Vergangenes Jahr traten elf Buben und Mädchen zur Prüfung an, zwei fielen durch. Die Quote der Übertritte ins Langzeitgymnasium lag bei knapp 12 Prozent und damit tiefer als im Kanton Zürich insgesamt (15,5 Prozent). In wohlhabenden Gemeinden wie Zumikon (39,6 Prozent), Erlenbach (37,2 Prozent), Zollikon (32,1 Prozent) oder am Zürichberg (35,8 Prozent) schafften viel mehr Kinder den Sprung ins Gymnasium.
An der Goldküste und anderswo haben auch private Kursanbieter Hochkonjunktur. Je besser situiert, desto eher schicken Eltern ihre Kinder in kostenpflichtige Intensivprogramme für die Gymiprüfung. So scheint es zumindest.
Für diese Klientel werden sogar Vorkurse für Fünftklässler angeboten, von Mai bis Juni, mit ausgetüftelten «Trainings» in Deutsch und Mathematik. Kostenpunkt: fast 1500 Franken. Intensivkurse für Sechstklässler beginnen bereits nach den Sommerferien und kosten schnell einmal 3000 Franken. Und nach der bestandenen Gymiprüfung kann man sein Kind umgehend in einen Probezeitkurs schicken. Und in den Sommerferien in einen Lateinkurs: eine Woche Vokabeln und Grammatik büffeln für 840 Franken. Damit Sohn oder Tochter noch vor dem ersten Tag im Gymnasium bereit sind für die Sprache Cäsars.
In Glattfelden setzen Eltern ebenfalls auf private Vorbereitungskurse. Joris kennt mehrere Kollegen, die zusätzlich zu den kostenlosen Übungen an der Primarschule auch einen solchen Kurs besucht haben.
Gute Vornoten . . .
Doch für Joris’ Eltern war klar: Wenn ihr Sohn ins Gymi will, dann muss er es ohne schaffen. «Im Gymnasium muss er schliesslich auch ohne Nachhilfe auskommen», sagt seine Mutter Nadine Karch. Und: «Wir wussten, dass er fleissig ist.»
Joris betont: «Ich habe die Gymiprüfung für mich gemacht.» Ob er sich ohne Zusatzkurs benachteiligt gefühlt habe damals? «Nein, überhaupt nicht.» Die Antwort sitzt, denn: «Die Lehrerin der Gymivorbereitung war super! Sie hat uns alles gut erklärt, und sie war immer erreichbar, wenn wir Fragen hatten.» Die Gruppe schaute sich auch Aufgaben an, die neu waren für ihn, zum Beispiel in Geometrie. «Aber das war nicht schwierig, man musste nur logisch denken.»
Das letzte Semester vor der Gymiprüfung verlief reibungslos. Joris besuchte die Übungsstunde, machte seine Aufgaben von Woche zu Woche, bereitete sich mit alten Prüfungen auf die Aufnahmeprüfung vor. Zu Hause machte er das weitgehend selbständig. Fragen an die Eltern hatte er selten. (Und wenn doch, mussten sie manchmal zuerst selbst nachschauen auf Youtube. Oder Chat-GPT fragen.) Und er erreichte gute Vornoten. In den beiden Prüfungsfächern Mathematik und Deutsch hatte Joris zwei Fünfeinhalber in der Tasche.
. . . und dann wurde es trotzdem knapp
Dann kam der grosse Tag der Gymiprüfung, am 4. März 2024. Der Primarschüler war sehr nervös. «Ich war etwas neben mir», sagt er. Die Deutschprüfung hätte besser laufen können. Eine Aufgabe ging so: «Der Balkon bedeutete für die Mutter mehr Stress als Erholung.» Welcher der folgenden Begriffe ist kein Synonym für Stress – Zeitdruck, Belastung, Anspannung, Mühsal oder Strapaze? Solche Fragen wurden Joris fast zum Verhängnis: Note 4,5.
In Mathematik hätte er aufholen können, denn eigentlich ist das sein starkes Fach. Zum Beispiel hier: (6,2×2024)+(4,2×1107)−(3,1×4048) = ? «Wenn du geschickt rechnest, kannst du den Rechenaufwand stark verringern», stand auf dem Prüfungsbogen. Das ist leichter gesagt als getan, vor allem, wenn man derart unruhig ist wie Joris damals. Und das war erst die erste Aufgabe von neun: Note 4.
Und dann kam die vermaledeite Sache mit dem Versprechen, das gebrochen werden sollte statt eingehalten. Joris schrieb zwar am Thema vorbei, aber formal lieferte er offenbar einen ordentlichen Text ab: Note 3,5.
Macht in der Endabrechnung mit den Vornoten eine 4,75 – und damit haargenau die Mindestnote, die Gymikandidaten bei der Zürcher Aufnahmeprüfung erreichen müssen. Joris hatte bestanden. Obwohl er nach dem Aufsatz sicher war, dass es nicht reichen würde.
Seit den Sommerferien besucht der Teenager also die Kantonsschule Zürich Unterland in Bülach. Er macht einen glücklichen Eindruck, als er davon erzählt. Prüfungen bringen ihn nicht mehr aus der Ruhe. Er hat gelernt, wie man sich konzentriert darauf vorbereitet. Und er hat neue Freunde gefunden, mit denen er auch diskutieren kann. Sein Lieblingsfach: Sport. Und sonst: Mathematik, Latein. Sicher nicht Bildnerisches Gestalten.
Seine Lehrer beschreiben Joris als interessiert und wissbegierig. Er stelle viele Fragen im Unterricht, sagt Nadine Karch. «Und das wird geschätzt. In der Primarschule war das nicht immer willkommen.» Und wenn er durchgefallen wäre damals? Joris sagt: «Das wäre zwar traurig, aber das wäre nicht schlimm gewesen. Ich nehme es immer so, wie’s kommt.»