Mittwoch, Oktober 9

Am Bogensee nordöstlich von Berlin baute Joseph Goebbels 1939 seine Privatvilla. Nach dem Krieg passte die DDR die Anlage für die eigenen Zwecke an.

Zwei, drei Mal am Tag fährt ein Bus zur Station «Bildungsstätte Bogensee», vierzig Kilometer nordöstlich von Berlin. Das hölzerne Haltestellenhäuschen knackt in der Sonne. An einem Schild kleben Neonazi-Aufkleber mit Frakturschrift. Vor den mächtigen Gebäuden sind die Treppen mit Gras überwachsen. Die Stämme hoher Bäume schaben an den Dachkanten, und Büsche wuchern vor den Fassaden.

Seit fünfundzwanzig Jahren holt sich hier die Natur ein Stück Land zurück, das die Stadt Berlin ohnehin loswerden will. Der Berliner Finanzsenator Stefan Evers hat vor ein paar Wochen im Abgeordnetenhaus eher nebenbei den Satz gesagt: «Jedem, der das Gelände übernehmen möchte, biete ich an, es geschenkt vom Land Berlin zu übernehmen.»

Seither kommen Interessensbekundungen aus aller Welt. Spirituelle Zentren, private amerikanische Deutschland-Fans und Menschen, die in der geschichtsträchtigen Waldeinsamkeit einen Abenteuer-Campingplatz einrichten wollen, melden sich. Der Haken: Allein um das Gebäude-Ensemble mit den über 40 000 Quadratmetern Nutzfläche vor weiterem Verfall zu bewahren, müssen jährlich mehrere hunderttausend Euro aufgewendet werden.

Es steht unter Denkmalschutz und muss saniert werden. Die Kosten dafür werden auf 350 Millionen Euro geschätzt. Geld, das die Stadt Berlin nicht hat. Geld, das nicht in die Gegenwart investiert werden würde, sondern in die Vergangenheit. So etwas kann Stefan Evers, CDU-Stadtpolitiker und stellvertretender Bürgermeister, den Wählern nicht gut verkaufen.

Die DDR übernimmt

Was da am beschaulichen Bogensee verrottet, ist ein Monument der Erinnerung an zwei Diktaturen. Der 1939 fertiggestellte «Waldhof» von Joseph Goebbels, in dem der NS-Propagandaminister seine volksverhetzenden Reden schrieb und der während des Krieges zur Kommandozentrale ausgebaut wurde, steht neben einem der grössten Prestigeprojekte der DDR: der Jugendhochschule der FDJ. Hier wurde Personal für die künftigen Führungskader von SED und Staatssicherheit ausgebildet.

Am Bogensee gaben sich zu Kriegsende zwei Ideologien auf sprichwörtliche Weise die Klinken in die Hand. Bald nachdem die Russen die Goebbels-Villa konfisziert und geplündert hatten, wurden im weitläufigen Haus Seminare zum ideologischen Aufbau einer neuen politischen Ordnung abgehalten. Mit der Gründung der DDR im Jahr 1949 entwickelte sich die Schule auch offiziell zur Kaderschmiede der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Die Zukunft des neuen Staates im Blick, wurde gross gedacht und bald noch grösser gebaut. Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei, machte die Angelegenheit zur Chefsache. Er wollte nichts Billiges, sondern etwas Repräsentatives, ein «Denkmal des Sozialismus». Eigenhändig zeichnete er nach dem Vorbild griechischer Tempel Säulen auf die Entwurfszeichnungen der Architekten. Mitten im Wald bei Wandlitz sollte es aussehen wie auf der ebenfalls im Bau befindlichen Berliner Stalinallee.

Als die riesigen, drei Stockwerke hohen und jeden Kostenrahmen sprengenden Gebäude gespenstisch zwischen den Bäumen stehen, fühlen sich nicht wenige an das nationalsozialistische Reichsparteitagsgelände von Nürnberg erinnert.

In den dreissiger Jahren, als Joseph Goebbels den Bogensee für sich entdeckt, kommt man über die neu erbaute Reichsautobahn, die einmal nach Stettin führen soll, zügig voran. Dann winden sich kleine Strassen an Seen entlang, bis man nur noch über Forstwege weiterkommt. Für den Minister für Volksaufklärung und Propaganda ein idealer Rückzugsort.

Die Hauptstadt Berlin schenkt Goebbels 1936 ein Blockhaus am Bogensee. Praktischerweise gehört ihr das Stück Land seit 1913. Im November 1936 schreibt der Minister in sein Tagebuch: «Hier bin ich Mensch, hier kann ich’s sein. Der Wald duftet, und es klirrt vor Kälte.» Ebenfalls am Bogensee, allerdings schon zwei Wochen zuvor, notiert Goebbels: «Diese Judenpest muss ausradiert werden. Ganz und gar. Davon darf nichts übrig bleiben.»

Dreissig Räume und ein Kinosaal

Das Blockhaus im Wald wird zur Kreativzone politischer Hassreden, aber auch zum Liebesnest. Mit der Schauspielerin Lida Baarova lebt der Minister hier seine Affäre aus, bis es im Herbst 1938 selbst Hitler zu viel wird. Goebbels wird auf den Obersalzberg zitiert. Gemeinsam mit seiner Frau Magda und den damals vier Kindern muss er wieder die deutsche Vorzeigefamilie spielen.

Das soll auch in einem Haus am anderen Ufer des Bogensees gelingen, das Goebbels in Analogie zu Hitlers Berghof «Waldhof» nennt. Grossflächig wird bis 1939 die Landschaft für ein Projekt umgegraben, dessen infrastrukturelle Notwendigkeiten in der Gegend neu sind. Strassen müssen neu angelegt und gepflastert werden. Leitungen sind zu verlegen. Neun Kilometer Zaun umgeben schliesslich das Waldgrundstück.

Die stattliche Villa ist im Heimatstil, der architektonisch-ästhetischen Signatur der Zeit, gebaut und hat neben dreissig Räumen auch noch einen Kinosaal. Ausserdem gibt es nebenan ein Dienstgebäude mit vierzig Zimmern und grosszügige Garagen. Im Inneren der Villa war alles nationalsozialistisch standesgemäss. Der Minister liess sechzig Telefone installieren. Zum See hin gab es elektrisch versenkbare Fenster. Ein Spielzeug damaliger Führungskräfte. Hitler hatte das am Obersalzberg und Reichswirtschaftsminister Hermann Göring in seinem nur ein paar Kilometer vom Bogensee entfernten Refugium Carinhall.

Unter «Zurückstellung wichtigster militärischer Aufträge» musste die Firma Linde Geräte für den Weinkeller und einen eigenen Bierkühlraum liefern. Eine Maschine zur Speiseeisbereitung und ein eigener Blätterteig-Kühltisch wurden auch angeschafft, wie Stefan Berkholz in seinem minuziös recherchierten Buch «Goebbels’ Waldhof am Bogensee» festhält. Das Finanzielle ging weit über die Möglichkeiten des Ministers hinaus, aber seine Sekretäre fanden Wege, die explodierenden Kosten zu verschleiern und in staatlichen Budgets unterzubringen.

Dem Untergang entgegen

Goebbels war auch ein Propagandist seiner selbst. Als Präsident der Reichskulturkammer konnte er Karrieren machen oder zerstören. Der Waldhof wurde zum vibrierenden Zentrum dieser Macht. Schauspielerische Grössen der NS-Filmindustrie nahmen die Fahrt ins vogelumzwitscherte Nirgendwo auf sich, um bei den Partys und Filmvorführungen des Ministers dabei zu sein.

Die Deutsche Wochenschau wurde hier zwischen 1940 und 1944 vom PR-Profi Goebbels zusammengestellt. Zwischendrin liefen die fünf Kinder durchs Haus, die wegen der Bombenalarme über Berlin immer häufiger im Waldhof waren. Die Villa wurde zur Kommandozentrale. Wieder wurde am Bogensee technisch aufgerüstet. Zwischen Dekadenz und Depression taumelte das Villen-Idyll schliesslich dem Untergang entgegen.

Hermann Göring räumte sein Gut Carinhall am 30. Januar 1945 und zog mit einem Lastwagentross voller Mobiliar und wertvoller Teppiche Richtung Berlin. Einen Tag später folgte ihm der Propagandaminister mit seiner Familie. Das Ende war schrecklich. Am 1. Mai 1945 lässt Goebbels seine Kinder mit Zyankali ermorden. Dann begehen er und seine Frau Magda auf gleiche Weise Suizid.

Sieht man den Waldhof heute, dann sieht man auch, wie Geschichte verblasst. Durch die Ritzen der Betonplatten vor der Villa drängt das Gras. Die haushohen Büsche rundum scheinen nur drauf zu warten, alles in Besitz zu nehmen. Das Innere des Waldhofs trägt noch die Spuren der DDR, die sich 1946 ganz zwanglos des Hauses bemächtigt hat.

Die Bruchlosigkeit des Übergangs von einem autoritären System ins andere steht wie ein Denkmal zwischen den Bäumen. Hier kann man in einer Vergangenheit herumstreifen, die man nicht begreifen kann. Die dogmatische Selbstradikalisierung des ostdeutschen Kommunismus hat auf einem Grundstück stattgefunden, das Warnung hätte sein müssen. Aber gewarnt war hier niemand.

Brutstätte für Terror

In der protzigen FDJ-Hochschule wurden die künftigen Kadermitglieder selbst wie in einem Lager gehalten. Es gab Stacheldrahtzäune rundum. Besuche waren verboten. Besondere Geheimhaltung verlangte auch der Umstand, dass hier Freiheitskämpfer aus aller Welt geschult wurden. Von der palästinensischen PLO über die namibische Swapo bis zu Nelson Mandelas ANC. Bis zum Ende der DDR-Mächtigen wurden die Schüler als loyale Jubelkolonnen nach Berlin gekarrt.

1981 hatte sich die düstere Ausbildungsmaschine am Bogensee kurz einmal aufgehellt. Da war der westdeutsche Kanzler Helmut Schmidt nach einem Staatsbesuch für eine Pressekonferenz in den FDJ-Lektionssaal angereist. Alles war frisch getüncht. Später fand man im Keller eine eigens für die Veranstaltung eingerichtete Stasi-Abhörzentrale. Die für Verschlüsselung ausgerüsteten Leitungen sollen noch bis in die neunziger Jahre funktioniert haben.

Es könnte sein, dass das Ensemble am Bogensee noch lange ein Lost Place der Geschichte bleibt. Niemand will das Grundstück mit den seit 1999 denkmalgeschützten Gebäuden ernsthaft haben. Wenn man vielleicht von einem Reichsbürger-Trüppchen namens «Königreich Deutschland» absieht. Um die wahre Identität zu bemänteln, gab man sich als Kulturverein aus.

Der Berliner Finanzsenator stellt selbst einen Abriss und eine Renaturierung des Gebiets in den Raum. Das würde 50 Millionen Euro kosten, noch lieber allerdings würde der Eigentümer das Goebbels-FDJ-Areal der nahe gelegenen 25 000-Einwohner-Stadt Wandlitz vermachen.

Dafür hat der dortige und auf Erhalt drängende Bürgermeister nur ein müdes Lächeln übrig. Wenn die Hauptstadt die Kosten schon nicht stemmen kann, wie dann Wandlitz?

Was bleibt also? Als Trainingsstätte für den Häuserkampf der Bundespolizei stand das unerfreuliche Erbe schon im Gespräch. Einige fordern die Schaffung einer Gedenkstätte, andere träumen von einem High-End-Ferienparadies am Bogensee. Eine wirkliche Auszeit von der Geschichte wird es hier wohl niemals geben.

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