Begegnungen unter Gleichaltrigen sollen Vorurteile abbauen. Ein Schulbesuch in Zürich.
Jugendliche verstehen oft nicht, was sie anrichten können. Wenn sie zum Beispiel beim Skifahren in der Gondelbahn Nazi-Rock laufen lassen. Oder wenn sie auf dem verschneiten Sportplatz vor der Schule ein riesiges Hakenkreuz in den Schnee stapfen. Und sei es «nur aus Jux». Salvina und Aline haben beides erlebt. Aber die beiden jungen Frauen möchten eigentlich über etwas anderes sprechen, als sie an diesem Mittwochmorgen in einer vierten Klasse des Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasiums (MNG) Rämibühl in Zürich aus ihrem Leben erzählen.
Salvina, 18, und Aline, 19, sind Jüdinnen. Sie wollen den zwei bis drei Jahre jüngeren Schülerinnen und Schülern vor ihnen vermitteln, was es für sie bedeutet, jüdisch zu sein. Und dass sie deswegen nicht in einer anderen Welt leben. Es zeigt sich, dass die Teenager der Klasse viel gemeinsam haben mit ihren beiden Besucherinnen. Salvina hat vor kurzem Matur gemacht und studiert jetzt Medizin. Aline ist in der sechsten Klasse in der Kantonsschule Enge. Einer der Schüler sagt in der Vorstellungsrunde, er wisse nicht, ob er schon einmal eine jüdische Person getroffen habe.
Vielleicht ja doch, und er hat es gar nicht gemerkt? Wäre ihm aufgefallen, dass Salvina und Aline Jüdinnen sind?
«Ich fühlte mich angegriffen»
Wahrscheinlich nicht. Sie sind gewöhnliche junge Frauen, wie die anderen Schülerinnen in dem Raum. Mit dem Unterschied, dass Aline zum Schabbat in die Synagoge geht. Für sie ist das ein Ruhepol. Salvina fährt jeden Freitag zu ihren Eltern und zu ihrer Schwester nach Hause. Sie essen Challot (Schabbatbrot) und zünden Kerzen an. Und sie lernt Hebräisch. «Sonst unterscheidet sich mein Alltag wohl nicht gross von eurem», sagt sie zu den Gymnasiasten.
Aber Aline und Salvina tragen eine andere Geschichte in sich als die meisten Gleichaltrigen in der Schweiz. Ein Hakenkreuz im Schnee, das alle sehen können? Aline sagt: «Ich fühlte mich angegriffen.» Sie war eine von wenigen jüdischen Jugendlichen an ihrer Sekundarschule damals. «Es war nicht lustig.»
Musik einer Neonazi-Band laufen lassen in der Gondelbahn? Salvina muss zwar kurz lachen, als sie davon erzählt. Aber beim Skifahren war ihr nicht zum Lachen zumute. Sie hat ihre Mitpassagiere «zusammengeschissen», wie sie sagt. Danach war Ruhe in der Gondel. Betretenes Schweigen der anderen, die ihren Sound eben noch zum Grölen fanden.
Salvina hat mittlerweile ein Gefühl dafür entwickelt, was hinter solchen Aktionen stecken könnte: Ahnungslosigkeit, Herdentrieb, die Lust, anzuecken auf Kosten einer Minderheit. Hass auf Juden? Nicht unbedingt. Salvina sagt: «Ich glaube nicht, dass die Szene in der Gondel oder andere Dinge aus meiner Schulzeit ideologisch motiviert waren.» Aber das macht es nicht besser. Weh tun sie trotzdem.
Die Studentin sagt: «Ich glaube, die allermeisten jüdischen Personen haben schon einmal Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht.» Bei ihr sei es bisher einfach nicht so schlimm gewesen. Auch wenn sie es persönlich nehme.
Das sollen die anderen im Klassenzimmer hören, sehen, spüren. Deswegen sind Salvina und Aline hier an diesem Mittwochvormittag. Sie engagieren sich für Likrat, ein Projekt des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), das nichtjüdische und jüdische Jugendliche miteinander ins Gespräch bringen soll. Der Begriff ist hebräisch und bedeutet aufeinander zugehen. Nach Angaben des SIG finden pro Jahr über 150 solcher Begegnungen auf Primar- und Sekundarstufe statt.
Die Idee dahinter: Junge Menschen sollen sich direkt begegnen, ohne Scheuklappen, ohne Tabus. Und so klischierte Vorstellungen oder Vorurteile über Jüdinnen und Juden aus der Welt schaffen. Salvina sagt: «Wir sind nicht reich. Wir beherrschen die Banken nicht und auch nicht die Zeitungen.»
Die Schüler dürfen die beiden «Likratinas» alles fragen. Mit zwei Ausnahmen: Politische Themen oder der Nahostkonflikt sollen nicht im Zentrum stehen. Es gehe ums Hier und Jetzt von jüdischen Jugendlichen in der Schweiz. Das sei wichtig, teilt der SIG vor dem Treffen am Rämibühl mit.
Aline geht in Zürich Enge ins Gymnasium. Die Attacke auf einen orthodoxen Juden vor einem Jahr hat sie verunsichert.
Aber das Leben hält sich nicht an Pläne. Schulstunden unter Teenagern entwickeln eine eigene Dynamik. Die Deutschlehrerin der Klasse hält sich zurück, die Runde mit Salvina und Aline soll den Schülerinnen und Schülern gehören. Und so werden die beiden Frauen auch gefragt, ob ihre Familien von der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg betroffen waren.
Ein Trauma in vielen Familien
Schwierige Themen. Aber Salvina und Aline können damit umgehen. Die Geschichte ihrer Vorfahren ist lückenhaft. Die Familie der Mutter von Salvina stammt aus Frankreich, sie ist in der Zentralschweiz aufgewachsen. Aline hat französische, polnische und marokkanische Wurzeln. Sie wissen selber nicht genau, was mit ihren Verwandten passiert ist, die nicht überlebt haben. «Es ist ein Trauma», sagt Salvina. «Nicht alle Familien konnten darüber sprechen. So sind viele Geschichten verlorengegangen.» Alines Urgrossmutter musste sich vor der Gestapo verstecken. Sie schaffte es auf einen der letzten Züge, die Juden aus dem besetzten Frankreich in die Schweiz transportierten. In Polen landeten viele ihrer Vorfahren im Vernichtungslager Auschwitz.
Auch darüber spricht man in Alines Familie nicht. Aber vielleicht hätte es geholfen, wenn die Schüler, die damals ein Hakenkreuz in den Schnee gestapft haben, ebenfalls gewusst hätten, dass Verwandte einer Schulkollegin von ihnen dem Holocaust zum Opfer gefallen waren – und dass es auch in der Schweiz Menschen gibt, die die Verharmlosung des Nationalsozialismus auch aus sehr persönlichen Gründen als abstossend und verletzend empfinden.
Die Deutschklasse am MNG Rämibühl hatte sich mit diesem dunklen Kapitel bereits auseinandergesetzt. Sie hat «Jakob der Lügner» von Jurek Becker gelesen, einen der wichtigsten Romane der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler beschreibt darin die letzten Wochen in einem jüdischen Ghetto im von Nazideutschland besetzten Polen.
Salvina sagt: «Mein Alltag unterscheidet sich nicht gross von eurem.»
Aber eine Likrat-Begegnung ist lebendiger als 288 Seiten über einen «Lügner aus Barmherzigkeit», der seine Mitgefangenen im Ghetto glauben liess, dass die Befreiung durch die Rote Armee kurz bevorstehe. Andrea Weber sieht das ähnlich. «Das sind die Stunden, die den Schülerinnen und Schülern am längsten in Erinnerung bleiben», sagt die Deutschlehrerin der Klasse einen Tag später am Telefon. Sie hatte beim SIG angefragt und die beiden «Likratinas» für die Doppelstunde an diesem Mittwoch gebucht.
«So einen Angriff gab es seit Jahren nicht»
Besonders spannend fanden ihre Schüler die politisch-gesellschaftliche Komponente, die beim Miteinander mit der jüdischen Minderheit fast immer mitschwingt. Erst recht seit dem 7. Oktober 2023.
Ob Antisemitismus nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel zugenommen habe, möchte eine Schülerin von den beiden Jüdinnen wissen. Aline findet: ja. «Habt ihr von dem Mann gelesen, der von einem radikalen Jungen niedergestochen wurde?» Gemeint ist das Attentat eines 15-jährigen IS-Anhängers auf einen orthodoxen Juden in Zürich vom vergangenen Jahr. Die einen Schüler haben davon gehört, die anderen nicht.
Aline sagt: «So einen Angriff gab es seit Jahren nicht.» Salvina differenziert. In Frankreich sei die Stimmung ganz anders als in der Schweiz. «In Paris tragen einige Juden keine Kippa mehr», sagt sie und zeigt auf die traditionelle Kopfbedeckung, die sie für die Schüler mitgebracht haben. Salvina trägt eine Kette mit einem kleinen Davidstern. Ihre Mutter sage ihr immer, dass sie die Kette in Frankreich nicht unbedingt zeigen solle auf der Strasse. «In der Schweiz geht es bis jetzt.»
Aber auch hierzulande fühlen sich viele Jüdinnen und Juden exponiert wegen ihrer Religion. Eine Erhebung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften unter 1335 Personen jüdischen Glaubens hat kürzlich ergeben, dass knapp die Hälfte der Befragten im vergangenen Jahr antisemitische Belästigungen erlebt haben. 2020 waren es (mit deutlich weniger Befragten) etwas mehr als 30 Prozent. Diskriminierungen von Juden am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Studium haben ebenfalls zugenommen.
«Fühlt ihr euch von Pro-Palästina-Kundgebungen angegriffen?», möchte eine Schülerin von den beiden Besucherinnen wissen. Aline sagt: «Von der Parole ‹From the River to the Sea› schon.» Der Schlachtruf stellt das Existenzrecht Israels infrage. Aber sie könne nicht für alle jüdischen Menschen sprechen, betont die 19-Jährige. Die Antwort illustriert den Zwiespalt, in den Jüdinnen und Juden in der Schweiz immer wieder geraten. Sie werden auf den Nahostkonflikt angesprochen, sollen Position beziehen zu schwierigen Themen wie Israel, Palästina, Gaza, Krieg.
Themen, mit denen sie eigentlich wenig zu tun haben. Und an denen sie manchmal doch nicht vorbeikommen. So wie Salvina, die sich an ihrem ersten Tag an der Universität den Weg durch eine Pro-Palästina-Demo bahnen musste.
Aber das ist Monate her. Das Leben hat viel mehr zu bieten als gehässige Parolen an Hochschulen. Zum Beispiel Haribo-Goldbären. Die dürfen die Gymnasiasten probieren, bevor sich Salvina und Aline verabschieden. In der koscheren Variante, also mit Fisch- statt Schweine-Gelatine. Ein Unterschied ist kaum auszumachen.