Vor 100 Jahren wurde in Vilnius das Jiddische Wissenschaftliche Institut als ein Zeichen des Aufbruchs gegründet. Später flohen die Mitarbeiter vor dem Totalitarismus nach New York, wo das Archiv noch heute existiert.

Jonathan Brent geht eine Episode aus seiner Kindheit nicht aus dem Kopf. Wie so oft unterhielten sich seine Grosseltern in den USA auf Jiddisch, als die Grossmutter ihn fragte: «Verstehst du unsere komische kleine Sprache?» Diese Formulierung, die ihm in Varianten immer wieder begegnen sollte, ärgert Brent bis heute. «Jiddisch ist nicht klein und komisch», betont er. «Mein Grossvater war nicht klein und komisch. Meine Grossmutter war aus Überzeugung jüdisch. Ihre Wohnung war voll jüdischer Erinnerung.» Später, als junger Mann, wollte Brent Jiddisch lernen: «Aber gefilte Fisch und Matzeknödel interessierten mich nicht. Ich wollte das jiddische Äquivalent zu Goethe und Tolstoi kennenlernen.» Er studierte dann erst einmal Russisch.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Heute, 67 Jahre später, ist Jonathan Brent Direktor des Yivo Institute for Jewish Research in New York, das Archiv, Bildungszentrum und Kulturinstitut in einem ist und gemeinsam mit anderen jüdischen Einrichtungen in einem Backsteingebäude in der 15th West 16th Street in Manhattan residiert. Vor 100 Jahren im polnischen Wilno als «Yidisher visnshaftlekher institut» schwerpunktmässig zur Erforschung der jiddischen Sprache und Kultur gegründet, wurde das Yivo vor 85 Jahren kriegsbedingt nach New York verlagert, wo es bereits einen Ableger gab. Dort wurde das Institut bald zur Anlaufstelle für jüdische Emigranten aus Osteuropa. «Das Yivo war ein Überlebensmittel. Ich fühlte mich dort zu Hause», sagt Brent, der in Chicago zur Welt kam. «Ein Ort, an dem unsere Sprache, unsere Erfahrung wichtig ist und nicht marginal.»

Als sich das Institut im März 1925 in den verwinkelten Gassen der Vielvölkerstadt Vilnius (Wilno, Wilna, Vilne) endgültig formierte, ging es um ein Nation-Building der anderen Art. «Die Juden sollten dort, wo sie lebten, eine Perspektive haben, jenseits von politischen Extremismen oder der Auswanderung nach Amerika», sagt Brent. Das Konzept, für das der Historiker Simon Dubnow mit seinem «Diaspora-Nationalismus» die geistigen Grundlagen gelegt hatte, stellte auch eine Alternative zum Zionismus dar.

Neues jüdisches Selbstbewusstsein

Nach den Pogromen im Zarenreich und während der Revolution sollten Minderheitenrechte die osteuropäischen Juden schützen, autonome Verwaltungen eine freie Entfaltung der Kultur ermöglichen. Das Institut, Ausdruck eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins, schlug auch in Berlin und Warschau, London, Paris und St. Petersburg, New York, Chicago und Buenos Aires Wellen. Albert Einstein und Sigmund Freud waren Ehrenvorsitzende.

Das Jiddische verband damals rund 11 Millionen Menschen in Ländern wie Litauen, Polen oder Russland. Die so lang geringgeschätzte Sprache und Kultur wurde zum Motor und Medium einer eher linksgerichteten Massenbewegung, die im Begriff «Jiddischismus» kulminierte. Den Historikern und Ethnografen, Schriftstellern und Linguisten des Yivo blieben in Europa allerdings nur noch knapp 15 Jahre, um zu sammeln, zu forschen und zu publizieren. Dann begann der Zweite Weltkrieg. Infolge des Hitler-Stalin-Pakts okkupierten die Sowjets Vilnius. Der Yivo-Leiter Salman Reisen wurde abgesetzt, verschleppt und später erschossen. Sein Co-Direktor Max Weinreich emigrierte in die USA.

Die Katastrophe steigerte sich, als im Juni 1941 die Wehrmacht das inzwischen sowjetlitauische Vilnius besetzte. Emissäre des Einsatzstabs von Reichsleiter Rosenberg begannen, in grossem Stil Judaica zu plündern. Ghetto-Häftlinge, unter ihnen zynischerweise auch frühere Experten des Yivo, mussten die Objekte in Sammelstellen nach Wert sortieren.

Das meiste sollte nach dem Willen der Nationalsozialisten zerstört werden. Mutige Angehörige der «Papierbrigade», wie die jiddischen Dichter Abraham Sutzkever und Shmerke Kaczerginski, schmuggelten abends Dokumente ins Ghetto und versteckten sie, auch mithilfe christlicher Litauer. Der 81-jährige Simon Dubnow, der bereits 1891 gefordert hatte, das jüdische Kulturerbe zu retten und der eigenen Geschichte «einen Tempel» zu bauen, wurde Ende 1941 von deutschen Einsatzgruppen in der Nähe von Riga massakriert.

Als der Krieg in Vilnius im Juli 1944 mit der Rückeroberung durch die Rote Armee endete, machten sich Sutzkever und Kaczerginski noch Hoffnung auf eine jüdische Zukunft in der Sowjetunion. Doch als sie erfuhren, dass das Regime Tonnen von geretteten jüdischen Materialien zerstören liess, angeblich, weil man keine Nationalkulturen fördern wollte, beauftragten sie heimlich zahllose Sendungen nach New York, wo Max Weinreich seit 1940 das Yivo weiter aufbaute.

«Das Herz und die Seele des Yivo sind noch immer in Vilnius», betont Jonathan Brent. «Aber wir sind seit 85 Jahren in den USA.» Mit der zunehmenden Integration der Juden in die amerikanische Gesellschaft nahm die Bedeutung des Jiddischen langsam ab. Das Institut wurde zum Forschungszentrum für amerikanisch-jüdische Geschichte. Weinreich, die treibende Kraft der ersten Jahrzehnte, postulierte auch für die USA: «Wir werden dafür sorgen, dass jeder junge Jude in diesem Land physisch gesünder und psychisch stärker wird.»

Gegen Kriegsende brachte das Yivo als erste Institution die Nachricht vom Holocaust in die USA und zeigte entsprechende Dokumente. Später legte man gemeinsam mit der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem eine 15-bändige Bibliografie der Holocaust-Forschung auf. Auch bei der Standardisierung des Jiddischen setzte das Yivo Massstäbe. Auf viele weitere Projekte, Jiddisch-Kurse, Buchpublikationen und wissenschaftliche Konferenzen folgte 2008 die «Enzyklopädie der Juden in Osteuropa», an der 400 internationale Fachleute mitarbeiteten.

1991 und noch einmal 2017 gab es überraschende Nachrichten vom alten Kontinent. Im Keller der St.-Georg-Kirche in Vilnius wurden Hunderttausende jüdische Manuskripte, Tagebücher und andere Objekte, Altbestände des Yivo, aus ganz Europa gefunden, die Krieg und Stalinismus überdauert hatten, dort versteckt von einem längst verstorbenen litauischen Bibliothekar. Darunter waren ein astronomischer Atlas aus dem 18. Jahrhundert, Briefe von Scholem Alejchem, Postkarten von Marc Chagall und unbekannte Gedichte des jiddischen Schriftstellers Chaim Grade.

Längst sind auch diese Vorkriegsbestände digitalisiert. Fortlaufend werden Dokumente aus dem Jiddischen, Hebräischen, Russischen oder Polnischen, aber auch aus dem Persischen, Chinesischen oder Ladino ins Englische übersetzt, um die Recherche zu vereinfachen. Denn der Fokus der Arbeit hat sich von der Forschung auf öffentliche Programme verlagert. «2024 hatten wir 750 000 Zugriffe auf unsere Website», sagt Jonathan Brent. «Juden aus Argentinien und Australien, Israel und Südafrika forschen nach ihrer Genealogie und wollen aus der Geschichte lernen.»

Tiefe Gräben tun sich auf

Dennoch macht Brent sich Sorgen. Nicht nur wegen eines – aus seiner Sicht – oft mangelhaften jüdischen Selbstbewusstseins, das unkritisch an die nächste Generation weitergegeben werde: «Von unseren eigenen Leuten, nicht von irgendwelchen Antisemiten!» Sondern noch mehr, weil sich nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 unter Juden in aller Welt tiefe Gräben aufgetan haben, «zwischen denen, die Israel unterstützen, und denen, die das nicht tun».

Natürlich hätten sich auch Zionisten und Jiddischisten erbittert bekämpft, betont Brent. Doch selbstverständlich habe Max Weinreich 1948 Israel offiziell zur Staatsgründung gratuliert, dessen erste Politikergeneration übrigens überwiegend aus Jiddisch sprechenden Osteuropäern bestanden habe. «Man war immer noch Jude. Aber heute kämpfen die Juden gegen sich selbst.» Brent findet es «tragisch», dass junge Leute, die historisch nicht unbedingt gut informiert seien, Klischees und Halbwahrheiten ideologisch aufgriffen. Trotzdem hält er die Hoffnung hoch. Schliesslich habe das Yivo seit seiner Gründung einen universalen Anspruch vertreten: «Wir sind ein Volk, mit diesem Gedanken wurde das Institut gegründet. Ich bin zuversichtlich, dass die Existenz des Yivo heilend wirken kann.»

Exit mobile version