Mittwoch, Oktober 9

Wie es wirklich ist, als Nesthäkchen aufzuwachsen. Teil 4 der Serie «Geschwister».

Ich bin das jüngste von neun Kindern. Und die ersten Diskussionen über meine Rolle als Nesthäkchen in dieser Familie haben rund sieben Monate vor meiner Geburt begonnen. Als meine Mutter mit mir zum zehnten Mal schwanger wurde – ein Geschwisterchen starb noch als Säugling –, fand das mein ältester Bruder, damals 21 Jahre alt, gar nicht lustig.

Nach dem Grossziehen so vieler Kinder, in einer Zeit, als es bei uns zu Hause noch keine Waschmaschine gab und jede Stoffwindel von Hand gewaschen werden musste, war meine Mutter 43 – und erschöpft.

«Musste das wirklich sein?», warf mein Bruder, der später auch mein Götti werden sollte, meinem Vater vor. «Hättest du dich nicht zurückhalten können?» Als es so weit war und die Niederkunft anstand, fuhr der älteste Bruder meine Mutter in seinem klapprigen Lada dann doch ins Spital – durch meterhohe Schneemassen, wie sie selbst Ende der 1960er Jahre in den Bergen im Oberwallis höchst ungewöhnlich waren.

Bei meiner Geburt verlor meine Mutter ziemlich viel Blut, und der Arzt und die Hebamme waren schockiert, dass niemand – nicht einmal sie selbst – ihre Blutgruppe kannte.

Trotz diesem etwas harzigen Start ins Leben haben meine Eltern und meine vielen Geschwister mich vorbehaltlos und tief in ihre Herzen eingeschlossen. Und ich darf ruhigen Gewissens sagen, dass sich das bis heute, 56 Jahre später, nicht geändert hat.

Wie ist es, in einer Familie als jüngstes Kind mit fünf Brüdern und drei Schwestern aufzuwachsen – mit einem Abstand von sieben Jahren zum zweitjüngsten Geschwister?

Zunächst einmal: Vergessen Sie alles, was Sie jemals in populärpsychologischen Abhandlungen darüber gelesen haben, was die Geburtsfolge über Geschwister verrate.

Der Kampf ums beste Stück vom Braten

Das jüngste Kind wird nach Strich und Faden verwöhnt?

Natürlich haben meine Geschwister mit meinen Eltern Konflikte ausgetragen, während diese bei mir einiges entspannter waren. Zum Thema Ausgang etwa oder beim Sackgeld. Mutter und Vater hatten schon alles erlebt und waren kaum mehr zu erschüttern. Ich musste mir dafür andere Wege freikämpfen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind der Jüngste und Sie müssen sich an einem Tisch mit einem Dutzend Erwachsener, die kreuz und quer sehr laut debattieren, Gehör verschaffen. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Ebenso schwierig war die Essensverteilung. Niemand in meiner Familie wäre auf die Idee gekommen, dem Jüngsten das zarteste Stück vom Sonntagsbraten freiwillig zu überlassen.

Nesthäkchen suchen sich eher kreative Berufe als ihre älteren Geschwister?

Anstatt Priester oder Offizier zu werden, wie sich das mein Vater von mindestens einem seiner Söhne gewünscht hätte, konnte ich dank einem Stipendium Biologie studieren. Zuerst wurde ich Spinnenexperte, später Termitenforscher in Westafrika. Von wegen Ideen frei aus dem Bauch heraus entwickeln: Monatelang krabbelte ich den staatenbildenden Insekten in der Savanne von Côte d’Ivoire nach. Das war zwar ein Abenteuer, aber in erster Linie verdammt anstrengend.

Und als ich dann um die 30 als Spätberufener auch noch in den Wissenschaftsjournalismus wechselte, fand ein Bruder, der Schreinermeister im Dorf, ob ich nicht etwas Gescheiteres mit meinem Leben anfangen könne. Oder zumindest etwas Einträglicheres. Dazu muss man wissen, dass Journalisten in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, keinen besonders guten Ruf hatten und schon gar nicht als kreativ galten.

Trotzdem überliessen meine Eltern mir aus ihrem bescheidenen Vermögen eine beträchtliche Summe als Erbvorbezug, mit der ich die Gebühren für die Journalistenschule bezahlen konnte. Die meisten meiner Geschwister verliessen für ihre Ausbildung früh die Familie und standen bald einmal auf eigenen Füssen. Dadurch hatten meine Eltern Spielraum und konnten es sich eher leisten, meine Träume wahr werden zu lassen. Das war vielleicht das grösste Privileg, das ich als Nachzügler genoss.

Der verlockende Duft der Moderne

Auch meinen Geschwistern habe ich einiges zu verdanken – wie viel, ist mir erst nach und nach klargeworden. Mein zweitjüngster Bruder zum Beispiel machte eine Lehre als Briefträger in der Stadt Zürich, kam aber jedes Wochenende nach Hause zurück ins Goms, wo wir lebten. Er brachte mir stets die neuesten Ausgaben der Comic-Hefte von Asterix und Obelix sowie von Lucky Luke mit.

Ich weiss nicht, ob er sich dessen bewusst war, aber mit diesen wertvollen Gütern versetzte er mich im dorfinternen Tauschhandel in die beste aller Positionen. So konnte ich etwa einen neuen Comic-Band hergeben und bekam dafür ein besonders schönes Modellflugzeug – denn damals wollte ich noch Pilot werden.

Ausserdem hatte mein Bruder jeweils ein halbes Kilo frischen Aufschnitts vom Metzger aus Zürich im Gepäck, den er mit mir teilte. Man mag die Nase rümpfen ob dieser kulinarischen Vorliebe – auf mich wirkte der Aufschnitt wie der verlockende Duft der Moderne, denn solche Schlemmereien waren in unserem Dorf nicht zu haben.

Ein Klischee kann ich allerdings teilweise bestätigen: Nesthäkchen werden oft belächelt.

Manchmal machten sich meine Geschwister tatsächlich lustig über mich, den überaus neugierigen, aber in vielen Dingen ahnungslosen Jungen. Als sich eine meiner Schwestern und ihr Freund einmal in unserer Küche küssten, fragte ich die beiden: «Habt ihr jetzt gerade ein Kind gemacht?»

Sie schauten mich verdattert an und wollten von mir wissen, wie Kinder meiner Meinung nach denn entstünden. Ich erklärte ihnen – und allen anderen Anwesenden: Wenn man sich küsse, dann gehe das so runter in den Bauch und irgendwann komme dann ein Bébé raus. Alle lachten. Ich stand in der Mitte, war verunsichert und wusste nicht, wie mir geschah. Wie das mit dem Kindermachen wirklich geht, erklärte mir niemand.

Das schwere Amt des Totenredners

Trotz eklatanten Unterschieden in Reife und Entwicklung etablierten sich zwischen uns Geschwistern immer wieder erstaunliche Allianzen. Mein ältester Bruder war, als damals fast Dreissigjähriger, ein grosser Fan der Trickfilmserie «Scacciapensieri», die jeweils am Samstag um 18 Uhr im Tessiner Fernsehen lief. Und weil ich mit meinen acht Jahren Comics ebenfalls liebte, trafen wir uns immer zu dieser Zeit. Mein Bruder wohnte oberhalb unserer Eltern, und er hatte schon eine eigene Familie mit einem kleinen Sohn.

Wir schauten uns die neuesten Episoden von Tom und Jerry sowie jene des notorisch schlecht gelaunten Strichmännchens La Linea an – obwohl wir beide kein Wort Italienisch verstanden. Später nahmen wir Abenteuerserien wie «Sandokan – Der Tiger von Malaysia» oder «Michael Strogoff – Der Kurier des Zaren» in unser TV-Repertoire auf.

Eine besondere Beziehung entwickelte ich zu meiner 13 Jahre älteren Schwester. Um meine Mutter zu unterstützen, sprang sie oft in der Nacht ein und nahm mich zu sich ins Bett, als ich als Kleinkind laut schrie und getröstet werden wollte. Sie war aber nicht nur eine Art Ersatzmutter für mich, sondern später auch eine Ersatzgrossmutter für meine eigenen Kinder. Weil meine Mutter im hohen Alter meine Söhne nicht mehr hätte hüten können, verbrachten diese regelmässig Wochenenden oder Schulferien bei meiner Schwester – was für mich und meine Frau eine grosse Entlastung war.

Damit sind wir bei der schwierigsten Aufgabe, die ich in dieser grossen Familie je zu bewältigen hatte – jene des Totenredners. Ob Hochzeiten oder Geburtstage: Mein Vater legte stets Wert darauf, bei solchen Anlässen eine gepflegte Ansprache zu halten. Weil sich sieben der neun Kinder weigerten, dieses Amt von ihm zu übernehmen – mit durchwegs fadenscheinigen Begründungen –, fiel es mir und meiner 13 Jahre älteren Schwester zu.

Wir schilderten an der Beerdigung unseres Vaters, wie er am Morgen seines Todestages, gesundheitlich schwer angeschlagen, aber keineswegs in desolatem Zustand, seiner Schwiegertochter erklärte, er könne sich jetzt nicht hinlegen und ein wenig schlafen – weil er heute sterben müsse. An der Abdankung unserer Mutter sprachen wir über ihr grosses Herz, das sogar im anatomischen Sinne ungewöhnliche Masse hatte. Und wir rangen um Worte beim Abschied von zweien unserer Brüder, die zu früh gehen mussten. Einer von ihnen war der Älteste.

Heute tragen 19 Enkelkinder das Erbe dieser eigenwilligen, manchmal anstrengenden, aber immer verbindlichen Familie weiter, in der ich im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal Onkel wurde. Meine beiden Söhne sind die jüngsten dieser Enkelkinder. Der ältere hat die komplizierten Familienverhältnisse einigermassen im Griff, der jüngere ist völlig überfordert. Aber das ist halb so wild und wird sich ergeben.

Ich habe ja damals die Küsserei meiner Schwester und ihres Freundes auch nicht begriffen – und eines Tages dann doch noch herausgefunden, wie man wirklich Kinder macht.

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