Freitag, Oktober 11

Die nationalen Wahlen 2023 haben die Parteien verändert. Nur die GLP blieb ihrem unscharfen Profil lange treu. Doch nun teilt der Parteipräsident gegen «die Marktschreier links und rechts» aus. Gefragt seien pragmatische Lösungen: «Für uns Politbüezer gilt: lifere statt lafere.»

Herr Grossen, bei Ihrem letzten Interview mit der NZZ stand die GLP mit 7,8 Wählerprozenten kurz vor den Wahlen, und Sie sagten: «Das Ziel sind 10 Prozent.» Ihre Partei hat dann 0,2 Prozentpunkte und 6 von 16 Sitzen im Nationalrat verloren. Wo stehen die Grünliberalen heute?

Die Analyse der bisherigen Gemeinde- und Kantonswahlen zeigt ein stabiles Gesamtergebnis. In Basel wollen wir am 20. Oktober mit Esther Keller den Regierungsratssitz verteidigen, und im Kanton Aargau stehen die Chancen erfreulich gut, dass Beat Flach den Sprung in die Regierung schaffen könnte.

Stabil bedeutet immer auch stagnierend.

Als ich 2017 das Präsidium übernahm, lag der Wähleranteil bei 4,6 Prozent, heute sind wir bei 7,6. Die GLP hat heute doppelt so viele Sitze in den kantonalen Parlamenten, doppelt so viele Mitglieder und ein doppelt so grosses Budget. Wir sind letztes Jahr in den Ständerat eingezogen, und wir stellen den Bundeskanzler. Bei den nationalen Wahlen 2023 hatten wir vor allem Proporzpech.

Vor einem Jahr sagten Sie: «Unser Ziel muss der Bundesrat sein.» Gilt das auch für die Wahlen 2027?

Wir haben nach wie vor das Ziel, in den Bundesrat zu kommen. Ob wir es schon 2027 erreichen oder später, wird sich weisen. Wir Grünliberalen wollen die Schweizer Politik aktiv mitgestalten. Als Partei sind wir nur nicht so laut wie die politischen Marktschreier links und rechts von uns. Für uns Politbüezer gilt: lifere statt lafere.

Je nach Blickwinkel gilt die GLP als zu links oder als zu rechts. Was antworten Sie, wenn man Sie nach dem Parteiprofil fragt?

Wir sind weder links noch rechts, sondern gehen vorwärts und sind fortschrittlich.

Sie weichen aus. Die GLP positioniert sich überall anders. In Emmen politisiert der einzige GLP-Einwohnerrat in der Fraktion der Grünen, in Bern bilden die Grünliberalen zum Entsetzen einiger Mitglieder eine Liste mit der SVP.

In einigen Landgemeinden hat die SVP eine absolute Mehrheit, da bietet sich eine Zusammenarbeit mit Mitte-links an. In der Stadt Bern ist es umgekehrt. Hier ist Rot-Grün dominant. Die Bürgerlichen und die Zentrumsparteien haben deshalb ein breites Zweckbündnis beschlossen. SVP, FDP, Mitte, EVP und GLP kandidieren auf einer gemeinsamen Liste für die Stadtregierung. Deswegen machen wir noch lange keine SVP-Politik.

Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister würde seine Mitte gerne mit den Grünliberalen fusionieren. Sie haben ihm einen Korb gegeben. Weshalb eigentlich?

Wir haben den Anspruch, unseren eigenen Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen und nicht nur Ja oder Nein zu den Ideen anderer sagen zu müssen.

Das gelingt Ihnen auf Bundesebene nicht allzu oft.

Es gelingt immer öfter. Das Stromgesetz, das im Juni deutlich vom Volk angenommen wurde, haben wir wesentlich mitgeprägt.

Gemeinsam könnten Mitte und Grünliberale eine Zentrumspartei mit 21,7 Prozent Wähleranteil bilden. Sie wäre grösser als die FDP und auch grösser als die SP. Die Aussicht auf eine solche Macht lockt Sie nicht?

Nein, wir wollen, wie gesagt, unabhängig bleiben. In den Kommissionen arbeiten wir gut mit der Mitte zusammen. Aber wir haben auch substanzielle Differenzen, zum Beispiel in der Landwirtschafts- oder in der Verkehrspolitik. Auch bei gesellschaftsliberalen Fragen unterscheiden sich unsere Positionen stark. Das zeigt sich etwa bei der Individualbesteuerung. Die GLP ist dafür, die Mitte dagegen. Vom Stil her politisieren wir ähnlich und sind lösungsorientiert, aber in den politischen Sachfragen sind die Unterschiede zu gross.

Und ein Zusammenschluss mit der FDP kommt auch nicht infrage?

Nein. Zwar arbeiten wir auch mit der FDP in den Kommissionen gut zusammen. Aber der Freisinn zeigt derzeit eine ausgeprägte Tendenz, der SVP nachzuhöselen. Das hat sich im September bei der ausserordentlichen Asyl-Session ausgeprägt gezeigt. FDPler unterstützen auch die Kompass-Initiative, die sich klar gegen die Bilateralen richtet.

In Finanzfragen zeigen GLP und FDP doch ein sehr ähnliches Profil.

Es gibt aber auch wesentliche Unterschiede, etwa in der Landwirtschaftspolitik. Ich sehe es ja in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben. Mithilfe der FDP werden derzeit munter rückwärtsgerichtete Motionen und parlamentarische Initiativen zugunsten der Landwirtschaft überwiesen. Man könnte meinen, wir wären noch in den siebziger Jahren.

Die Expertengruppe um Serge Gaillard, die den Bundesrat bei seinen Budgetentlastungsplänen berät, schlägt vor, die Bundesbeiträge an die Kantone für die Landwirtschaft zu streichen. Auch die FDP hat sich bisher nicht dafür ausgesprochen. Weshalb?

Die trauen sich genauso wenig wie die SVP und die Mitte. Natürlich sollen die Landwirte für gemeinwirtschaftliche Leistungen ausreichend Subventionen erhalten. Deshalb setzen wir auch nicht dort an, sondern wollen die umweltschädlichen Subventionen sowie die versteckten und direkten Zahlungen für Marketing der nachgelagerten Lebensmittelbranche streichen.

FDP und SVP haben die GLP und die Mitte per Brief aufgefordert, die bewährte bürgerliche Sparallianz wieder herzustellen. Sie und Gerhard Pfister haben abgewinkt, weshalb?

Wir hatten den Brief im Rat gerade erst zur Kenntnis genommen, da machten die ersten Medien den Brief schon publik. Es funktioniert nicht, wenn Parteien über die Medien miteinander sprechen, statt im Rat gemeinsam Lösungen zu suchen.

Die GLP versteht sich als progressiv, gleichzeitig lehnt sie den Neubau von Atomkraftwerken und den Ausbau der Nationalstrassen ab. Wie war das mit «vorwärts und fortschrittlich»?

An neuralgischen Stellen kommt es immer wieder zu Verkehrsüberlastung und Staus. Wir können noch so viele weitere Milliarden in Asphaltprojekte stecken, daran wird sich nichts ändern. Die Schweiz kann dieses Problem nur mit Intelligenz lösen.

Wie genau?

Wir müssen über neue Lösungen nachdenken, die das Verkehrsaufkommen reduzieren und besser steuern lassen. Ideen wären: Verkehrsspitzen mit flexiblen Arbeitszeiten dämpfen, Mobility-Pricing, digitale Leitsysteme oder eine bessere Planung der Siedlungsentwicklung. Der Entscheid zum Ausbau der Nationalstrassen ist uns aber nicht leichtgefallen.

Inwiefern?

Einzelne Projekte wie die Tunnels können durchaus Sinn ergeben. Wenn der Verkehr unter der Erde verschwindet, entsteht darüber mehr Platz für anderes. Aber das Parlament hat die stark beladene Vorlage noch überladen. Weshalb genau soll die Autobahn beim Grauholz von sechs auf acht Spuren ausgebaut werden? Wozu genau braucht es die zusätzlichen Projekte in der Westschweiz? Es geht uns dabei weniger ums Klima. Der Verkehr wird sowieso elektrifiziert. Aber ein Strassenausbau in die Breite, der erst noch bis 2040 dauert, ist einfach nicht nachhaltig.

Auch weil der Verkehr elektrifiziert wird, braucht es künftig mehr Strom. Sie sind aber strikt gegen den Bau neuer AKW. Weshalb?

Auch hier sind wir nicht dogmatisch. Die Diskussion um die Aufhebung des Technologieverbots ist aber unnötig und gefährdet den Ausbau der Erneuerbaren. Um das vom Volk beschlossene Nein zu neuen Atomkraftwerken aufzuheben, müsste man auch tatsächlich neue Anlagen bauen wollen. Sonst ergibt das keinen Sinn, und man kann sich die Übung sparen. Die Stimmberechtigten haben im Sommer deutlich Ja zum Stromgesetz und zu einem starken Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2050 gesagt. Atomstrom passt längerfristig nicht mehr in diese Strategie.

Weshalb nicht?

Atomstrom liefert Sommer, Winter, Tag und Nacht nicht regelbare Bandenergie. In Europa und der Schweiz kommt es immer häufiger zu Stromüberschüssen mit Negativpreisen. Kernkraftwerke produzieren aber dauerhaft Strom, weil das Abschalten der Anlage viel zu teuer wäre. Sie passen deshalb schlecht zum Strommix, den wir haben. Wasser-, Sonnen- und Windstrom brauchen eine flexibel steuerbare Ergänzungsenergie. Derzeit ist das die Wasserkraft, in Zukunft könnte die Produktion aus biologischem oder synthetischem Treibstoff die perfekte, erneuerbare Ergänzung dazu sein.

Das reicht, um die Winterlücke zu überbrücken?

Langfristig ja. Die bestehenden Kernkraftwerke laufen ja weiter, solange sie sicher sind. Zudem hat die Schweiz letztes Jahr einen grossen Stromüberschuss produziert, es ist momentan keine Lücke in Sicht. Dieses Jahr wird wohl das absolute Rekordjahr der schweizerischen Stromproduktion schlechthin.

Der milde Winter hat geholfen.

Auch, aber nicht nur. 2024 stammen bereits 10 Prozent des Verbrauches aus Photovoltaik, immerhin ein Drittel fällt im Winterhalbjahr an. Gleichzeitig werden wir immer effizienter. Der Gesamtverbrauch von Strom bleibt trotz Zuwanderung, Wärmepumpen, Elektroautos und Rechenzentren seit 20 Jahren stabil.

Noch ist die Schweiz von französischem Atomstrom abhängig. Wie soll sich die Schweiz versorgen, wenn Frankreich oder die EU den Strom in Mangellagen für sich selbst beanspruchen?

Es ist eine Illusion, zu glauben, dass die Schweiz in der Stromversorgung je autark sein kann. Das Ziel muss sein, dass unser Land resilient ist. Um die Versorgung mit Strom zumindest für eine gewisse Zeit zu sichern, muss zum einen das Angebot an erneuerbaren Energien erweitert werden. Zum andern muss die Schweiz eine ausreichende Inlandreserve mit der Speicherwasserkraft anlegen, wie man das bei Getreide, Medikamenten oder Treibstoff ja auch macht. Und trotzdem brauchen wir ein Stromabkommen.

Diesbezüglich sind die Differenzen zwischen der EU und der Schweiz aber gross. Macht die Schweiz einen Rückzieher?

Ich hoffe sehr, dass uns der Bundesrat bald ein gutes Verhandlungsergebnis zu den Bilateralen III präsentiert und dass ein Stromabkommen Bestandteil des Verhandlungspakets ist. Ein Stromabkommen mit der EU wäre der klügste und verlässlichste Weg zu einer sicheren Stromversorgung. Die Schweiz ist physikalisch sehr stark in das europäische Stromnetz integriert.

Die GLP ist die letzte Partei, die noch klar hinter einem institutionellen Abkommen mit der EU steht. Was überzeugt Sie an diesem Konzept?

Wir sind überzeugt, dass kein Weg daran vorbeiführt, mit den engsten Nachbarn ein stabiles Verhältnis zu haben. Es geht auch hier um Pragmatismus, nicht um EU-Euphorie. Insbesondere die produzierende Industrie hat ein handfestes Interesse an einem funktionierenden Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Die bisherigen bilateralen Abkommen haben das lange garantiert, aber sie erodieren, weil es keine Updates mehr gibt. Die Schweiz braucht die EU, aber die EU braucht auch die Schweiz. Die Märkte in den USA und China können das nicht wettmachen.

Sie spielen auf die neue Initiative der Organisation Kompass Europa an, die wichtige internationale Abkommen zwingend dem Volks- und dem Ständemehr unterstellen will.

Ja. Die Initianten um die Partners-Group-Milliardäre tun so, als sei das Verhältnis der Schweiz zur EU wirtschaftlich zweitrangig. Das ist es nicht.

Nicht nur die Parteien sind gespalten, die Wirtschaft ist es offenbar auch. Glauben Sie, dass ein neues institutionelles Abkommen mit der EU mehrheitsfähig ist?

Ich bin zuversichtlich, dass die Mehrheit des Parlaments und des Bundesrats zu der Einsicht kommt, dass ein geregeltes Verhältnis mit der EU im Interesse der Schweiz liegt. Wenn sich die SP, die FDP und die Mitte nicht in Detailkritik verrennen, sondern sich klar hinter das geplante Abkommen stellen, ist eine Volksabstimmung zu gewinnen.

Mit Detailkritik meinen Sie Bedenken wegen der Personenfreizügigkeit oder einer Schwächung des Lohnschutzes?

In der Schweiz werden immer weniger Kinder geboren. Bleibt die Geburtenrate auf dem heutigen Stand, wird sich die Bevölkerung in zwei Generationen halbiert haben. Die demografischen Probleme, die auf uns zukommen, sind enorm. Die Schweiz profitiert stark von der Fachkräftezuwanderung, und sie wird in Zukunft noch stärker darauf angewiesen sein. Wichtig ist auch, dass die Schweiz eine pragmatische Umsetzung macht.

Soll die Schweiz eine Ventilklausel zum Schutz vor zu starker Zuwanderung einfach in der Verfassung oder im Ausländergesetz verankern, wenn ihr die EU nicht entgegenkommen will?

Zur Diskussion um eine Ventilklausel möchte ich mich noch nicht äussern. Wir warten das Resultat ab. Aber bei den Lohnschutzmassnahmen zum Beispiel könnte es durchaus in Richtung einer nationalen Lösung gehen. Die Schweiz ist nicht das einzige Land, dem das EU-Spesenreglement Kopfzerbrechen bereitet. Deshalb gibt es EU-weit etwa 20 nationale Umsetzungsreglemente. Es gibt immer Spielraum.

Aufmerksamkeit erregte Ihre Partei dieses Jahr mit der Ankündigung, ein Parteiausschlussverfahren gegen Sanija Ameti zu prüfen. Wo steht der Prozess?

Sanija Ameti hat dem Ansehen der GLP mit ihrer Inszenierung Schaden zugefügt. Um weiteren Schaden abzuwenden, haben wir der Zürcher Kantonalpartei ein Parteiausschlussverfahren beantragt. Der Ball liegt nun dort. Hass, Hetze und Drohungen gegenüber Frau Ameti verurteilen wir aufs Schärfste.

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