Viel Anlass zur Hoffnung sieht er nicht. Aber den Glauben an den Fortschritt der Vernunft will sich Jürgen Habermas nicht nehmen lassen. In einem Interview-Band äussert er sich über seine intellektuelle Biografie. Und erneut zur Ukraine.
Zweimal hat sich Jürgen Habermas zum Krieg in der Ukraine geäussert. Kurz nach dem Überfall Russlands und ein knappes Jahr später noch einmal. Beide Male kritisierte der heute 95-jährige Philosoph und Soziologe in ausführlichen Essays die Haltung Deutschlands und Europas. Der Westen, schrieb er, setze einseitig darauf, Waffen zu liefern, statt sich einzugestehen, dass am Ende nur Verhandlungen zu einer Lösung des Konflikts führen könnten. Der Positionsbezug stiess auf scharfen Widerspruch. Quer durch die politischen Lager warf man Habermas naiven Pazifismus vor. Von Weltfremdheit war die Rede, von Realitätsverweigerung.
Habermas selbst war von diesen Reaktionen überrascht. Seinem Biografen, dem Berliner Historiker Philipp Felsch, soll er gesagt haben, in den Debatten um den Ukraine-Krieg habe er die deutsche Öffentlichkeit zum ersten Mal nicht mehr verstanden. Er sei befremdet über die Kriegsbegeisterung, von der das politische Handeln geleitet werde. Revidiert hat er seine Position nie. Im soeben erschienenen Gesprächsbuch, das Stefan Müller-Doohm und Roman Yos herausgegeben haben, kommt Habermas allerdings noch einmal auf die Ukraine zu sprechen.
Von sich aus. Die beiden Gesprächspartner fragen ihn nicht danach. Müssen sie auch nicht. Eigentlich geht es in dem langen Gespräch um Habermas’ intellektuelle Biografie. Um die Wege seines Denkens. Um Einflüsse und Anregungen, Weggefährten und Freunde. Aber Habermas will offensichtlich über Politik reden. Und erlaubt sich dafür einen Exkurs.
«Kriegsschwangere Traumtänzerei»
Ausgehend von der Frage, inwiefern er seine Gesellschaftstheorie noch als marxistisch bezeichnen würde, kommt der Meister aus Starnberg in elegantem Soziologenslang auf das «evolutionär bestimmende Zusammenspiel von systemischen Anpassungs- und soziokulturellen Lernprozessen» zu reden. Dann schlägt er eine Volte und landet sicher, wenn auch nicht ganz zwanglos, bei seinen politischen Interventionen. Mit einer Bemerkung zur Notwendigkeit einer aktiven Klimapolitik leitet er über zur Feststellung, das Bewusstsein der politischen Eliten im Westen lasse sich mehr und mehr von der Logik des Krieges vereinnahmen.
Da bewegt man sich dann nicht mehr in den Höhen der Theorie, sondern auf dem Boden der Politik. Und wieder einmal in einer Welt, die den Theorien nicht standhält, die der Denker für sie entworfen hat. Er konstatiere eine «hektische Stimmung», die «fast schon Erinnerungen an die kriegsschwangere Traumtänzerei von 1914 aufkommen» lasse, sagt Habermas seinen Gesprächspartnern. Diese haken nicht nach. Sieben Seiten weiter zeigen sie sich sichtlich bemüht, die «politische Abschweifung» zu beenden.
Da dürfte nun die Öffentlichkeit den Philosophen nicht mehr ganz verstehen. Ein Taumel, wie er Europa vor dem Ersten Weltkrieg erfasst hatte, soll Europa ergriffen haben? Historische Parallelen sind immer schief, aber hier hat die Lust an der Provokation wohl endgültig über die Wahrnehmung gesiegt. Habermas setzt nach diesem Statement auch gleich neu an und räumt ein, der Westen sei mit guten Gründen entschlossen, der Ukraine gegen den «mörderischen und völkerrechtswidrigen russischen Angriff» beizustehen. Mit Geld, Logistik und Waffen.
An dieser Unterstützung sei grundsätzlich nichts auszusetzen, findet Habermas. Sie sei rechtlich erlaubt und politisch geboten. Was er kritisiere, sei die «Kurzsichtigkeit eines konzeptionslosen Westens». Und das Fehlen jeder eigenen und rechtzeitigen Initiative «angesichts der Barbarei eines Krieges, dessen festgefahrenes und perspektivloses Andauern der Westen mitverantwortet». Deswegen sei das längerfristige Schicksal der Ukraine ganz vom Ausgang der amerikanischen Wahl abhängig, setzt er hinzu.
Die erschütterten USA
Das war lange vor der Wende des amerikanischen Wahlkampfs, als die Gegner noch Trump und Biden hiessen. Was würde Habermas heute sagen? Vor allem aber: Wer den Westen für das Andauern des Kriegs mitverantwortlich macht, setzt anscheinend darauf, dass ein Krieg zu Ende ist, sobald sich eine Partei aus den Kampfhandlungen zurückzieht. Um welchen Preis das zu geschehen hätte, dazu äussert sich Habermas nicht. Allerdings wünscht er der Ukraine einen Satz weiter dann doch, dass sie «hoffentlich lange genug durchhält». Aber wie lange ist lange genug?
Auch dazu vernimmt man nichts. Aber im Lauf der Erörterungen, die Habermas anstellt, werden die Hintergründe seiner erratischen Haltung etwas deutlicher. Zum einen sein tiefes Erschrecken darüber, wie rasch die seit dem Zweiten Weltkrieg errungene Überzeugung, Krieg als Mittel der Beilegung von Konflikten sei obsolet, einer Haltung gewichen ist, die Gewalt als unausweichlich akzeptiert. Zum anderen die Resignation, mit ansehen zu müssen, wie das revanchistische Russland auf einen Westen treffe, der sich seiner eigenen Schwäche nicht bewusst sei.
Mit dem Ukraine-Krieg habe sich das durch innere Konflikte gelähmte Europa ganz in die Hände der Nato-Führungsmacht begeben, kritisiert Habermas. Und verdränge dabei aus Zweckopportunismus die Tatsache, dass die USA zutiefst erschüttert seien. Innenpolitisch durch den Zerfall der politischen Öffentlichkeit und des Parteiensystems, aussenpolitisch und wirtschaftlich durch den Aufstieg Chinas. Eine politisch kaum handlungsfähige EU verlasse sich also auf eine USA, die für ihre Bündnispartner unberechenbar geworden sei.
Der Fortschritt der Vernunft
Da spricht der Philosoph, der mit ansehen muss, wie sich Europa um die Ansprüche betrügt, die es selbst an sich gestellt hatte. Aber auch der Deutsche der Flakhelfer-Generation, der in den Debatten um die Ukraine «das Erschrecken vor den Folgen jedes Krieges» vermisst. Und es spricht der Aufklärer, der trotz dem «Alterspessimismus», den er sich selbst ironisch attestiert, seine «lebenslang verdichtete Intuition» nicht aufgeben will: den Glauben an den Fortschritt der Vernunft in der Geschichte.
Diesem Glauben mutet Habermas einiges zu, wenn er recht unvermittelt seiner Hoffnung Ausdruck gibt, «dass ein – hoffentlich ohne Krieg – weiter aufsteigendes China aus den Tiefen seiner langen, grossen und vielfältigen Kultur» eines Tages erkenne, «dass die von einem absteigenden Westen bestenfalls unvollendet liegen gelassene Menschenrechtsordnung» eine vernünftige politische Errungenschaft sei, die der Menschheit im Ganzen gehöre.
China als Hüter der Menschenrechte? Darauf deutet zurzeit wenig hin. Das weiss Habermas natürlich auch. Mit Blick auf die politischen Rückfälle falle es ihm heute schwerer denn je, sagt er an einer Stelle des Gesprächs, aber er bleibe philosophisch dabei: «Wir sind es, die uns zusammenrappeln müssen!»
Jürgen Habermas: «Es musste etwas besser werden . . .» Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 253 S., Fr. 41.90.