Dienstag, April 22

Islamisten sprechen gezielt Jugendliche an, um sie für ihre Zwecke einzuspannen. Dabei erfolgt die Radikalisierung anders als bei Erwachsenen, deren Persönlichkeit bereits ausgebildet ist.

Wie genau sich das Netzwerk jugendlicher IS-Anhänger gebildet hat, das Strafverfolgungsbehörden aus Deutschland und der Schweiz rund um die Ostertage aufgedeckt haben, ist nach wie vor nicht geklärt. In Chats sollen die Jugendlichen Anschläge in Deutschland und in der Schweiz geplant haben.

Noch immer wird gegen drei Teenager aus den Kantonen Schaffhausen und Thurgau sowie drei Jugendliche aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen ermittelt. Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften aus den beiden Ländern geben bisher keine weiteren Details über das Netzwerk bekannt.

Der Fall bestätigt einen Trend, vor dem Terrorexperten schon seit einiger Zeit warnen: Islamistische Täter werden immer jünger – und vermehrt fallen auch Täterinnen auf. Für Alexandra Ott Müller, Leitende Jugendanwältin der Jugendanwaltschaft Winterthur und Expertin für radikalisierte Jugendliche, kommt diese Erkenntnis allerdings nicht überraschend: «Wir beobachten diese Entwicklung schon seit über zehn Jahren.»

2014 wurde die Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich erstmals mit einem islamistischen Jugendlichen konfrontiert, seither ist das Phänomen laut Ott Müller nie mehr abgeflaut. Wie viele Fälle es derzeit im Kanton Zürich gibt, will sie gegenüber der NZZ nicht sagen. «Doch mir war von Anfang an klar, dass früher oder später auch in anderen Kantonen Fälle auftreten.»

Kritik von Bundesanwalt Blättler

Bundesanwalt Stefan Blättler hatte sich in der vergangenen Woche über die zunehmende Zahl radikalisierter Jugendlicher besorgt gezeigt und gesagt, das Jugendstrafrecht stelle dabei möglicherweise ein Handicap dar. Seine Aussagen macht er, noch bevor die Verhaftung der drei Teenager in der Ostschweiz bekanntwurde.

Beim Jugendstrafrecht stehe weniger der Sicherheitsaspekt als vielmehr die Resozialisierung straffällig gewordener Jugendlicher im Vordergrund, begründete Blättler seine Bedenken. Denn Jugendgerichte hätten «nicht unbedingt die Praxis, sich mit mutmasslich terroristischen Jugendlichen auseinanderzusetzen». Es könne deshalb allenfalls sinnvoll sein, alle Fälle von einer oder wenigen spezialisierten Stellen zu bearbeiten.

Ott Müller bestätigt zwar, dass vor allem in kleineren Kantonen beim Know-how im Umgang mit radikalisierten Jugendlichen teilweise Nachholbedarf bestehe. Erstaunt allerdings zeigt sie sich über Blättlers generelle Kritik, zumal sie gut mit der Bundesanwaltschaft zusammenarbeite. Sie warnt davor, das System zu schwächen, indem man das Jugendstrafrecht dem Erwachsenenstrafrecht anpasse. Dies schon deshalb, weil die Radikalisierung bei Jugendlichen aus ganz anderen Gründen erfolge als bei Erwachsenen.

Bei radikalisierten Erwachsenen sei die Persönlichkeit meist ausgebildet, und sie verfolgten ideologische Ziele. Bei Jugendlichen gehe es vielmehr darum, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, Grenzen auszuloten oder Vorbildern nachzueifern, beobachtet Jugendanwältin Ott Müller. Islamisten nützten diese pubertäre Selbstfindungsphase hemmungslos für ihre Zwecke aus: «Die Videos sind fancy gemacht und voll auf Jugendliche ausgerichtet.»

Jugendliche «ideologisch flexibel»

Die Radikalisierung geschieht in diesem Alter deshalb teilweise äusserst schnell. Gleichzeitig ist es schwierig, zu erkennen, ob von einer minderjährigen Person tatsächlich eine ernsthafte Bedrohung ausgeht, wie der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) feststellt: «Wegen der jugendlichen Identitätssuche kann die Ernsthaftigkeit von Aussagen oft nicht bewertet werden», erklärt eine Sprecherin des NDB auf Anfrage.

Minderjährige seien häufig «ideologisch flexibel». Die Faszination für Gewalt spiele dabei in der Regel eine grössere Rolle als die Ideologie. Soziale Netzwerke seien dabei für Minderjährige leicht und oft unkontrolliert zugänglich, ermöglichen den Austausch mit Gleichgesinnten und die Bildung virtueller Netzwerke über Landesgrenzen hinweg. Jihadismus betrifft nur selten eine Jugendanwaltschaft alleine.

Ott sieht Verbesserungspotenzial im Kampf gegen die Radikalisierung deshalb vor allem beim Personalbestand: «Unser Problem ist, dass die Ermittlungen und die Fallbegleitung in diesem Bereich enorm aufwendig sind. Wir stossen mit unseren Kapazitäten an Grenzen.» Normalerweise werden Jugendliche vor allem an ihrem Wohnort oder in der näheren Umgebung kriminell. «Der Jihadismus aber ist der erste Bereich, in dem Jugendkriminalität grenzüberschreitend und vernetzt stattfindet», erklärt Ott Müller.

Je nach Lage finden zwischen der Zürcher Jugendanwaltschaft und Behörden aus der ganzen Schweiz sowie dem Ausland tägliche Absprachen statt. Der aktuelle Fall zeigt, weshalb das notwendig ist: Die Bundesanwaltschaft und die Jugendanwaltschaft des Kantons Schaffhausen wurden von den deutschen Behörden informiert und stimmten das Vorgehen aufeinander ab. Das ist mit einem enormen Koordinationsbedarf und zusätzlicher Dynamik bei den Ermittlungen verbunden.

«Jugendliche haben uns jahrelang an der Backe»

Und wenn die Fälle einmal geklärt sind, geht die Arbeit erst richtig los. Solange die Täterinnen und Täter noch im jugendlichen Alter sind, sind die Chancen auf eine Resozialisierung am grössten. «Wir klären genau ab, was es braucht, um das Verhalten so zu verändern, dass eine minderjährige Person ohne Risiko wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden kann.» Das erfordert Untersuchungen über die Persönlichkeit, über das Umfeld und über den Werdegang.

Sanktionen werden gestützt darauf individuell abgestimmt. Die Jugendlichen werden so teilweise über Jahre dazu gezwungen, sich in Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und Psychologen mit ihrer Tat und ihrer Person auseinanderzusetzen – nicht selten in geschlossenen Institutionen, so Ott Müller: «Auch bei geringfügigeren Delikten haben sie uns manchmal jahrelang an ihrer Seite.»

Ott Müller bezweifelt deshalb, dass härtere Sanktionen zu mehr Sicherheit für die Allgemeinheit führten. Nach dem durch einen Jugendlichen begangenen Anschlag auf einen Juden in Zürich Anfang März hatten verschiedene Politiker eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes gefordert, zum Beispiel höhere Strafen. Ein Vorstoss der Zürcher SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel verlangt sogar, bei besonders schweren Straftaten das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden.

Für Ott Müller zielt das in die völlig falsche Richtung: Das Jugendstrafrecht funktioniere seit Jahren zuverlässig, die Rückfallquote sei deutlich tiefer als bei Erwachsenen, sagt sie. «Wenn wir eines wissen, dann ist es, dass das Wegsperren von Jugendlichen in Gefängnisse oder Bootcamps in vielen Fällen erst recht zu Radikalisierung und zu neuen Straftaten führt.»

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