Freitag, November 22

Nicht nur Schweizer Behörden bekunden Probleme mit gewalttätigen Fussballfans. Doch es gibt zwei Ligen, in denen es ruhig zugeht.

Kaum jemand würde bestreiten, dass der Schweizer Fussball ein Problem mit gewalttätigen Fans hat. Doch hat die Szene dieses Gewaltproblem exklusiv im Vergleich zu den europäischen Spitzenligen?

Grösser als in der deutschen Fussball-Bundesliga ist das Gewaltproblem in der Schweiz auf jeden Fall, wenn es um schwere Ausschreitungen geht und man dazu in Rechnung stellt, dass das Zuschaueraufkommen in Deutschland enorm hoch ist – allein Spiele in der 1. Bundesliga wurden in der letzten Saison von zwölf Millionen Zuschauern besucht.

Zwar würden deutsche Einsatzkräfte widersprechen, wenn man behaupten würde, dass ein gewöhnlicher Spieltag ruhig ablaufe. Die Anzahl von Körperverletzungen, die im Umfeld von Fussballspielen registriert wurden, hat sich in den ersten drei Ligen lange auf rund 1100 Vorfälle pro Saison eingependelt – jüngst waren es mehr als 1300 bei insgesamt 1150 Begegnungen.

Deutsche Stadien sind sicherer als vor 20 Jahren

Die Polizei beklagte eine Verschlechterung der Situation; ein Treffen der Innenminister unter bayrischer Leitung forderte härtere Sanktionen. Der Fanforscher Harald Lange von der Universität Würzburg sagt allerdings, im Verhältnis sei die Zahl immer noch bemerkenswert niedrig. Mit den Gewaltexzessen der 1980er Jahre habe die Lage wenig zu tun, auch sei die stark gestiegene Zahl der Zuschauer zu beachten. Ein Besuch in einem deutschen Bundesliga-Stadion sei weniger gefährlich als der auf einem Volksfest, sagt Lange.

Als Gründe nennt Lange vor allem die Fan-Projekte – «sozialpädagogische Projekte, die gemeinsam von der Deutschen Fussball-Liga (DFL), dem Deutschen Fussball-Bund (DFB) und den jeweiligen Kommunen und den Bundesländern finanziert werden». Im Grunde gehe es um «handfeste Jugendsozialarbeit mit den vorwiegend jugendlichen Fans, die bekannt sind dafür, dass sie auch zu Gewalt neigen», so Lange. Diese Projekte seien nicht augenblicklich wirksam, sie zeigten auf lange Sicht aber Erfolge. Ebenso wichtig sei das Selbstverständnis der Fans, die in der Kurve selbst Konflikte durchaus erfolgreich lösten – und teilweise sogar gewaltbereite Anhänger aus den eigenen Reihen ausschlössen.

Nur, so schränkt Lange ein, lasse sich die Situation in Deutschland nicht eins zu eins auf die anderer Länder übertragen. Zu verschieden seien die Ligen in ihren Eigenheiten, zu wichtig seien oft regionale Phänomene. Und in vielen Dingen spiegelt die Entwicklung von Gewalt in den Stadien auch problematische gesellschaftliche Phänomene wider – weniger in Deutschland und Grossbritannien, sicher aber in Italien, Frankreich und zum Teil auch in Spanien.

In England wurden die Stadien gentrifiziert

In England ist ein Stadionbesuch ähnlich ungefährlich wie in Deutschland. Jüngst schrieb die BBC auf ihrer Homepage, dass Fans heute wohl kaum nachvollziehen können, dass es früher einmal potenziell lebensgefährlich war, ein Fussballspiel zu besuchen. Englische Hooligans waren 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion beim Europacup-Final zwischen Liverpool und Juventus verantwortlich dafür, dass 39 Menschen ihr Leben verloren. Der Ausschluss der Engländer aus dem Europacup war die Folge.

Schlechte Sicherheitsvorkehrungen in den Stadien trugen immer wieder zur Eskalation bei, ein Umstand, aus dem vor allem deutsche Stadionarchitekten gelernt hätten, sagt Harald Lange: Anlässlich der Modernisierung der Arenen für die WM 2006 seien Sicherheitsaspekte berücksichtigt und gewissermassen in Beton gegossen worden.

Die Politik reagierte in England mit einem Alkoholverbot rund um das Stadion sowie Einlassverboten für Randalierer. Ein wichtiger Faktor ist zudem die Preispolitik: Mit der Gründung der Premier League 1992 ging ein Publikumswandel einher. Mittlerweile kosten die günstigsten Dauerkarten bei Spitzenklubs einen vierstelligen Betrag pro Saison. Dies, so Lange, sorge auch dafür, dass junge Menschen oft aussen vor bleiben würden, da sich diese ein Ticket nicht leisten könnten. Und Gewalt geht oft von jüngeren Leuten aus.

Insofern entfalteten die Preise eine prohibitive Wirkung. Sie forcierten aber auch eine Gentrifizierung des englischen Fussballs. Diese Massnahmen bewirkten allerdings auch, dass die Atmosphäre in den Stadien gedämpfter wurde. Auf der Insel gilt Deutschland mittlerweile als Vorbild: Seit 2022 läuft ein Pilotprojekt zu Stehplätzen in englischen Stadien. Gerade angesichts des grossen Stehplatzangebotes in der Bundesliga hält der Fanforscher Lange die entspannte Situation in Deutschland für umso bemerkenswerter.

In Spanien ist Randale oft politisch motiviert

Spaniens «Fankultur» ist insofern kaum mit der in anderen europäischen Ländern vergleichbar, als nur wenige Anhänger ihre Teams organisiert auf Auswärtsreisen begleiten. Massive Polizeiaufgebote sind daher meist nur bei Europacup-Spielen nötig; die allermeisten Zuschauer gehen in kleinen Gruppen ins Stadion. Auch die Zahl der Ultras ist mit 10 000 im ganzen Land wesentlich geringer als in den anderen Ligen.

Harmlos sind diese allerdings nicht. Wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen Fans kommt – oft entlang ideologischer Fronten –, resultierten bisweilen Todesfälle. Aus den Reihen der rechtsradikalen Frente Atlético kamen die Mörder eines baskischen Fans von Real Sociedad 1998 und eines galicischen Fans von Deportivo La Coruña 2014. Noch immer hat Atlético die Gruppe nicht aus dem Stadion geworfen.

Die Gewalt hat in Spaniens Stadien nach Angaben der Polizei in den letzten Jahren wieder zugenommen. 2023 lag ein unbeteiligter Mann zwei Monate lang im Koma, nachdem Fans des katalanischen Drittligisten Cornellà vor einem Auswärtsspiel bei Numancia von einer Koalition rechtsradikaler Ultras diverser Klubs überfallen worden waren. Die Konfrontationen entlang politischer und regional-nationaler Unterschiede bleiben weiterhin die häufigste Ursache für Fangewalt in Spanien.

Der Fan-Anführer von Inter tötete kürzlich einen Mitstreiter

In Italien zieht sich die Gewalt durch alle Ligen. Von der Serie A beim Match der Grossstadtklubs bis hin in die siebente Liga, in der jüngst in der Nähe von Ravenna Fans mit Stöcken und Steinen aufeinander losgingen. In der Saison 2022/23 wurden 3748 Stadionverbote ausgesprochen – das sind mehr als doppelt so viele wie in der Vorsaison.

Auch 230 000 eingesetzte Polizisten in den obersten drei Ligen wirkten ebenso wenig abschreckend wie Stadionverbote, die in Teilen der Fanszene eher als Statussymbol gelten. Verbindungen zum organisierten Verbrechen sind nicht selten. Andrea Beretta, Fan-Anführer vom FC Internazionale und seit 2017 mit Stadionverbot belegt, tötete im September dieses Jahres den Inter-Fan Antonio Bellocco. Motiv könnte ein Streit um die Geschäfte mit Fanutensilien gewesen sein.

Bellocco hatte zuvor eine Haftstrafe von neun Jahren wegen Mitgliedschaft in der ’Ndrangheta abgesessen. Der Juve-Fanboss Gerardo «Dino» Mocciola sass zwanzig Jahre wegen Raub und Polizistenmord ein und wurde jüngst wegen Erpressung von Juve-Mitarbeitern zu weiteren acht Jahren Haft verurteilt.

Anfang dieser Woche wurde mit Luca Lucci ein Fan-Boss der AC Milan festgenommen. Vorwurf: Beteiligung am Vertrieb von mehr als zwei Tonnen Drogen, inklusive Geschäftsbeziehungen zur ’Ndrangheta. Dieses Milieus wird die Polizei nur punktuell Herr, und die Klubs selbst scheinen sich mit den Kriminellen eher arrangieren zu wollen.

Frankreich hat Probleme mit der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen

Keine grosse europäische Liga war in den letzten Jahren so von Gewalt überschattet wie die Ligue 1. Match-Abbrüche und tätliche Angriffe sind nicht selten. Vergangene Saison wurde Lyons Trainer Fabio Grosso durch eine Steinattacke auf den Teambus vor dem Auswärtsspiel in Marseille unter dem Auge schwer verletzt.

Einen guten Monat später verstarb ein Fan von Nantes nach Auseinandersetzungen vor dem Heimspiel gegen Nizza. Den Fanforscher Lange überrascht diese Entwicklung nicht: «Frankreich hat, anders als Deutschland, ein massives Gewaltproblem in der Jugendkultur im Allgemeinen. Denken Sie an Jugendproteste in den Vororten von Paris, wo vor allem auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, die abgehängt wurden, scharenweise Protestaktionen machen, auch gewalttätig sind.» Und diese Haltung werde eben nicht «am Stadiontor abgegeben».

Die Behörden reagieren mit dem Verbot von Auswärtsreisen. Doch allein schon durch das verbreitete Werfen von Bengalos kann es bei jedem beliebigen Spiel zu Zwischenfällen kommen. Und die Klubs sind traditionell wenig willens, die buchstäblich feurige Stimmung in den Stadien Restriktionen zu opfern.

In Marseille allein wird die Zahl der in verschiedenen Gruppen organisierten Ultras mit bis zu 30 000 angegeben. Beim Serienmeister Paris Saint-Germain blieben sie nach dem Tod eines Fans in Auseinandersetzungen verfeindeter Fraktionen 2010 einige Jahre aussen vor, wurden wegen der plötzlich sterilen Atmosphäre aber sukzessive wieder willkommen geheissen. Eine Lösung für dieses Problem ist wie in Italien in weiter Ferne: Mit Ursachen, die über den Fussball hinausweisen, sind Klubs und Verbände meistenorts überfordert.

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