«Ich habe gar nie darüber nachgedacht, nicht mehr zu arbeiten», sagt Squibb. Für die Rolle als Seniorin Thelma, die auf einen Enkeltrick hereinfällt, hat sie sich sogar Stunts zugetraut.
Sie ist 94 Jahre alt, Anfang November wird sie 95. Womöglich ist June Squibb die älteste aktive Hollywoodschauspielerin. «Ich warte immer auf den nächsten Job», sagt sie. «Ich habe gar nie darüber nachgedacht, nicht mehr zu arbeiten.»
Die Arbeit geht ihr nicht aus. Sie hat sogar immer mehr zu tun. Obwohl sie es auf fast hundert Film- und Fernsehauftritte bringt, spielt Squibb in ihrem neuen Film «Thelma» zum ersten Mal überhaupt eine Hauptrolle. Die Kinokomödie über eine Seniorin, die Opfer eines Enkeltrickbetrugs wird, ist einer der Überraschungshits des Jahres. June Squibb, Jahrgang 1929, ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.
Debüt mit Woody Allen
Schauspielerin ist sie schon ihr Leben lang. Aber erst spät, mit Anfang 60, hat Squibb den Sprung vom Theater zum Film gemacht. In «Alice» von Woody Allen gab sie 1990 ihr Leinwanddebüt. Im Zoom-Gespräch darauf angesprochen, erinnert sie sich daran, wie sie zum Vorsprechen ging. «Ich betrat einen Raum, sagte ein paar Zeilen, und dann fragten sie mich, ob ich in dem Film mitmachen könne.» Ja, so war das halt, scheint Squibb zu sagen. Eins führte zum andern. Langsam, aber stetig.
Sie blieb beim Film, kam etwa in «The Age of Innocence» von Martin Scorsese zu einem Auftritt. Gesehen hat man sie in «Scent of a Woman», auch in «About Schmidt» neben Jack Nicholson. Über die Jahre spielte die einen Meter fünfundfünfzig kleine Squibb zahlreiche Ehefrauen, Mütter, zuletzt vermehrt Grossmütter. Vor zehn Jahren erhielt June Squibb für die Nebenrolle im Film «Nebraska» eine Oscar-Nomination.
Wie das war? «Schön», sagt sie über die Preisverleihung. «Vielleicht ein bisschen lang.» Auch kein grosses Ding also. Gefragt nach ihrem Geheimnis, bricht sie in Lachen aus. Als wäre es die absonderlichste Frage. Sie arbeite eben gern, und sie mache, was sie machen möchte.
Squibb lebt in Sherman Oaks, einem familienfreundlichen, vorstädtischen Teil von Los Angeles. Den Apartmentkomplex, in dem sie seit zwanzig Jahren wohnt, beschreibt ein Reporter von «Vulture», der sie neulich besucht hat, als «so bezaubernd, dass es fast weh tut – ein kitschiger Fiebertraum im Stil der 1950er Jahre, der Hawaii mit Old Hollywood verbindet.» Zu unserem Zoom-Gespräch erscheint Squibb im kräftig roten Tageskleid, hinter ihr ist ein typisches amerikanisches Wohnzimmer mit grossen Möbeln auszumachen.
«Ich habe eine Assistentin, die den Videoanruf aufgesetzt hat», sagt Squibb und lacht. «Ich selber hätte das nie vermocht.» Nein, technisch versiert sei sie nicht. «Aber ich liebe mein iPhone. Ich habe Flipboard drauf.» Die Nachrichten-App benutze sie sehr gern.
Eine Golden Lady
Squibb wirkt vif, unternehmungslustig. Ursprünglich zwar aus Illinois im Mittleren Western, hat sie etwas sehr Kalifornisches. Sie strahlt so ein westküstentypisches Glücksversprechen aus. Eine Golden Lady im Golden State. «Für mein Alter habe ich immer noch viel Energie», sagt sie.
«Thelma» wurde ihr von einer jungen Kollegin, Beanie Feldstein (die Schwester von Jonah Hill), vermittelt. «Beanie schrieb mir eine SMS, sie würde mir gern ein Drehbuch schicken, das ein Freund von ihr geschrieben habe. Ich schrieb ihr eine SMS zurück: ‹Okay.›» Nachdem sie das Drehbuch gelesen habe, sei sie sofort überzeugt gewesen, sagt Squibb. «Ich habe gleich verstanden, wie Thelma tickt.»
Damit meint sie weniger die Thelma, die auf einen Betrüger hereingefallen ist. Squibb mag vielmehr die unerschrockene Thelma, die es nicht auf sich sitzen lässt, dass sie betrogen wurde. Ein Gauner hatte sich am Telefon als ihr Enkel ausgegeben. Er sei verhaftet worden, brauche dringend Hilfe. Thelma schickte 10 000 Dollar per Post an einen vermeintlichen Anwalt.
Als ihr klar wird, dass es sich um einen Enkeltrick gehandelt hat, macht sie sich auf die Socken. Sie will sich das Geld zurückholen. In einem Seniorenheim schnappt sich Thelma ein Elektromobil und fährt damit ans andere Ende von Los Angeles, wo sie ihr gestohlenes Erspartes vermutet.
Beste Rezensionen
Squibb liess es sich nicht nehmen, das Elektromobil selber zu fahren. «Man hatte eine Stuntfrau engagiert, aber ich habe insistiert.» Am Ende sei die Stuntfrau neben ihr hergelaufen, während sie durch die Gegend kurvte. Squibb muss lachen, wenn sie daran denkt: «Mit dem Mobil war ich wirklich gut.»
Der Film wurde in Amerika so einhellig positiv besprochen wie noch kaum einer in diesem Jahr. Auf der Website «Rotten Tomatoes», wo Filmkritiken gesammelt werden, findet sich praktisch kein schlechtes Wort. Was könnte man an dem Film auch auszusetzen haben?
Es ist leichte, einwandfreie Unterhaltung. Der Regisseur Josh Margolin macht keinen altersdiskriminierenden Klamauk daraus. Dass die Seniorin auf den Enkeltrick hereinfällt, ist nicht Anlass für Spott. Sondern die Frau beweist sich – und dem Gauner –, dass sie nicht von gestern ist. Um sich ihr Geld zurückzuholen, zeigt sie im Showdown sogar, dass sie E-Banking beherrscht. June Squibb, die ihr iPhone mag, aber nach eigener Aussage noch nie einen Computer bedient hat, ist auch in dieser Szene sehr überzeugend.