Sonntag, Oktober 6

Das Genre der New-Adult-Literatur boomt unter jungen Leserinnen. In den Romanen suchen moderne, popfeministische und sensible Heldinnen die grosse Liebe.

Emma Bovary hätte nicht sterben müssen. Nicht, wenn es nach den derzeit ungeheuer erfolgreichen Liebesromanen geht, die mit ihren pastellfarben glitzernden Covers ins Auge stechen. Schon die Titel geben selbstbewusst zu verstehen, dass sich hier niemand für romantische Klischees schämt: «Save Me» (Mona Kasten), «Alles, was wir jemals waren» (Kyra Groh), «You Make My Dreams» (Gabriella Santos de Lima), ist da zu lesen.

Weil die Protagonistinnen schon volljährig, aber noch nicht richtig im Leben angekommen sind, figurieren die Romane unter dem Label «New Adult». Sie beziehen sich damit auf die Genre-Traditionen von Young Adult, Coming of Age und auf den populären Liebesroman. Die grossen Fragen des Erwachsenwerdens wie Ablösung von der Familie, Identitätsfindung, Liebe und Sexualität stehen im Zentrum – Letzteres gerne mit einer gehörigen Prise «spice», womit im Jargon explizite erotische Szenen gemeint sind.

Die Romane, die auf der Videoplattform Tiktok innerhalb einer aktiven jungen Leserinnen-Community empfohlen und diskutiert werden, schreiben die Geschichte von «Madame Bovary» kurzerhand um. Während Flauberts unglückliche Heldin vergebens versucht, den Graben zwischen dem langweiligen Provinzleben und den Romanen, die ihr eine «imaginäre Befriedigung ihrer eigenen Sehnsüchte» bieten, zu überbrücken, sind die Emmas in den populären Romanen von heute nach wie vor leidenschaftliche Leserinnen. Doch die Protagonistinnen schreiben und publizieren die romantischen Schmonzetten, die sie so gerne lesen, gleich selbst.

Fühlen wie Taylor Swift

Die Heldinnen in diesen Romanen sind Influencerinnen, Buchbloggerinnen oder Schauspielerinnen. Sie studieren kreatives Schreiben, arbeiten in einer Werbeagentur, in einem Verlag oder verfassen Dating-Ratgeber. Dabei sind sie hochsensibel – und alles andere als naiv. Sie sind urban, gut ausgebildet, kritisch und kreativ. Durch ihr populärpsychologisches und popfeministisches Wissen, durch ihr souveränes Navigieren auf Instagram und Tiktok sind sie auf der Höhe der Zeit. Vor allem aber wissen sie haargenau, dass Liebesgeschichten Märchen sind, die in einem komplexen Verhältnis zu realen Liebesbeziehungen stehen.

Dennoch, und das ist der Clou, geraten sie ins Taumeln, sobald ihnen ein verrucht-verführerischer Bad Boy etwas zu tief in die Augen schaut und seine Verführungskünste zum Einsatz bringt. Sie sehen die Red Flags, die Warnzeichen, sehr wohl und wissen, wie die Geschichte ausgehen wird. Schliesslich lesen sie ja Liebesromane. Dennoch stürzen sie sich ins vermeintliche Liebesglück. Als sei der Wahnsinn der Liebe die einzige Möglichkeit, den Anforderungen der Leistungsgesellschaft für einen Moment zu entfliehen.

«Don’t blame me, love made me crazy, if it doesn’t you ain’t doing it right», kommentiert Taylor Swift. Denn der Pop-Star ist ebenfalls Teil des Phänomens: als Stammgast auf den Playlists, die praktisch jeden deutschsprachigen New-Adult-Roman anführen und die Leserinnen in die richtige Atmosphäre versetzen.

Von Frauen für Frauen über Frauen

Auch wenn es häufig eine heterosexuelle Romanze ist, die den Plot vorantreibt, wäre es doch ein Missverständnis zu glauben, dass es sich im New-Adult-Trend um ein Backlash-Phänomen handle. Darin manifestiert sich keine weibliche Sehnsucht nach traditionellen Geschlechterrollen und Beziehungsmodellen. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, geht es in den Romanen ausschliesslich um Frauen, um weibliche Arbeitswelten, weibliche Erfahrungen, weibliche Sexualität. Männer sind interessant, weil sie von Frauen begehrt werden.

Während die fiktiven Liebhaber mit ihren scharfkantigen Gesichtszügen und definierten Bizepsen eher schematisch daherkommen und Nachhilfeunterricht in Sozialkompetenz brauchen, nehmen Frauenfreundschaften mindestens so viel Raum ein in den Texten. So entsteht der Entwurf einer utopisch anmutenden Gemeinschaft, basierend auf Solidarität und einer Ethik von Care, von Sorge füreinander. Nach dem Motto «Boyfriends come and go, but girlfriends are forever» finden die Figuren in weiblichen Netzwerken Unterstützung und Selbstvertrauen.

Die Antagonisten sind dabei nicht in erster Linie die unreifen Schönlinge. Die Kritik der Romane richtet sich gegen patriarchale Strukturen, aber vor allem auch gegen die von Tinder und anderen Online-Plattformen geprägte Dating-Kultur, die den Konkurrenzkampf der Arbeitswelt aufs Liebesleben ausweitet. Selbst wenn alle wissen, dass sich Menschen in Beziehungen nur weiterentwickeln können, wenn sie sich auf die andere Person einlassen und eine gemeinsame Welt gestalten, ist die Versuchung, sich vom übel beleumundeten sexy Bandleader verführen zu lassen, einfach zu gross.

Auch Frauen, da sind die New-Adult-Romane gnadenlos, unterliegen der Marktlogik. In «That Girl» (2024) von Gabriella Santos de Lima bringt die Ich-Erzählerin die Regeln der Machtverhältnisse auf dem Liebesmarkt auf den Punkt: «Mir ist das zwischen uns nicht egal, aber es ist mir immer egaler als dir.»

Der Roman der 1997 geborenen deutschen Autorin nimmt die Dating-Kultur kritisch auseinander. Er erzählt von Tess, einer Influencerin, die mit ihrem Sachbuch «Date Me» einen Bestseller gelandet hat. Sie berichtet darin von Dating-Erfahrungen und bietet Lebenshilfe an. Sie analysiert die Dynamik des toxischen Programms, das mit Vergötterung beginnt, um dann in Manipulation und schliesslich Kontaktabbruch überzugehen – Lovebombing, Gaslighting und Ghosting sind die einschlägigen populärpsychologischen Begriffe dafür. Auszüge aus «Date Me» werden dabei geschickt als Buch im Buch in den Roman hineinmontiert, so dass wir am Ende nicht nur eine Liebesgeschichte lesen, sondern auch einiges an soziologischer Analyse und psychologischem Wissen mit auf den Weg bekommen.

Der Unausstehliche wird zum Geliebten

Die Therapiekultur, die Social Media zurzeit prägt wie keine andere, mit Ratgebervideos und Beziehungspodcasts, fliesst stark in die New-Adult-Romane ein. Allein Frauenfreundschaften und psychologisches Wissen, so lernt man aus der Lektüre, böten einen sicheren Boden in einer markt- und leistungsorientierten Welt.

Trotz therapeutischer Ausrichtung muss die Lektüre, darauf legen die Booktokerinnen grossen Wert, spannend sein und Spass machen. Man findet deshalb leicht Romane, die präzise geplottet sind, auf exzessive Beschreibungen verzichten und ein gutes Gespür für Rhythmus haben. Ein wichtiges Element ist auch das Spiel mit den Konventionen des Liebesromans. Denn die sogenannten Tropes, mit denen die Romane vermarktet werden, sind Material für lustvolle Wiederholung und Variation. Forbidden Love, in der Tradition von Romeo und Julia, gibt es nach wie vor, ebenso Slow Burn, was eher an Stifter erinnert; der erste Kuss findet erst auf den letzten Seiten statt.

Am beliebtesten ist der Enemies-to-Lovers-Trope mit seiner Lust am Geschlechterkampf, was sicher auch mit dem dramaturgischen Potenzial zu tun hat. Denn die Spannung entsteht, weil man wissen möchte, wie die beiden, die sich nicht ausstehen können, schliesslich doch noch zusammenkommen. Die Matrix findet sich auch hier in einem der grossen Klassiker: Shakespeares «Viel Lärm um nichts», wo Benedikt und Beatrice die gegenseitige Anziehung durch einen virtuosen verbalen Schlagabtausch ausleben.

Wenn man das Phänomen New Adult nur über die stereotypen Liebesbeziehungen zu verstehen versucht, übersieht man gerade das, was sich darum herum, sozusagen im Ökosystem des Liebesromans, verändert hat. Der Witz von New Adult und New Romance besteht darin, dass die alten Liebesgeschichten aufgegriffen und neu erzählt, in einen neuen Zusammenhang gestellt und umgeschrieben werden – insofern müsste eigentlich von Meta-Liebesromanen die Rede sein.

Jane Austen ging voran

Wichtig für das Verständnis des gegenwärtigen Hypes ist auch die Genealogie des Genres. Aus Elementen der Chick-Lit- und Romantasy-Bestseller von damals – «Bridget Jones», «Twilight», «Fifty Shades of Grey» – entstand ein neues Genre, zusammengesetzt aus Elementen, die ihre jeweils eigene Geschichte mit sich tragen. Konsequent wird auf die Klassiker aus der Feder von Frauen zurückgegriffen, namentlich auf Jane Austen und die Brontë-Schwestern.

Die Stoffe wurden auf Fan-Fiction-Plattformen wie Wattpad weitergesponnen, kommentiert, überschrieben, und immer häufiger erschienen die Resultate als E-Books im Selbstverlag. So wurde Colleen Hoover, die Autorin von «It Ends with Us» (2016), dessen Kinoadaption im Moment für Schlagzeilen sorgt, zum Star. Und so entwickelte sich das Phänomen aus der Gemeinschaft von weiblichen Fans heraus, im Schatten des offiziellen Literaturbetriebs, welcher Genreliteratur allgemein als minderwertig betrachtet – wobei Liebesromanen immer schon eine besondere Geringschätzung galt.

Der New-Adult-Trend muss deshalb als vergnügt-aufmüpfiger Widerstand gegen diese Abwertung und als selbstbewusste Aneignung des Liebeskitsches, an dem die arme Emma Bovary noch zugrunde gehen musste, gelesen werden. Er steht im Kontext des populären Feminismus, der seit der #MeToo-Bewegung in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist. Man kann das Phänomen denn auch als Versuch einer feministischen Neuerzählung der Geschichte des weiblichen Lesens deuten.

Indem die neuen Romane das Spiel mit alten Erzählmustern herausstellen, holen sie den Liebesroman aus der Schmuddelecke heraus und betonen, dass Literatur viel mehr ist als Text. Gerade die Booktok-Videos mit ihrer Ansprache einer leidenschaftlichen Community und ihrer Inszenierung des Buches als ästhetisches Objekt zeigen, dass es letztlich vielleicht gar nicht so sehr um die Liebe zwischen den Geschlechtern in den Romanen selbst geht – sondern um die Liebe der Leserinnen zum Buch, zum Lesen und zueinander.

Christine Lötscher ist Professorin für populäre Literaturen an der Universität Zürich und Literaturkritikerin.

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