Montag, September 30

Die Justiz kann nicht Problemlöserin für Petitessen und jede Geschmacklosigkeit sein. Sie soll sich auf die wichtigen Verfahren fokussieren können.

Es ist bezeichnend für einen Fall, wenn der Richter am Ende einer Verhandlung fragt: «Wo bleibt der gesunde Menschenverstand? Was erreicht man, wenn man diese Frau juristisch verfolgt?»

In der vergangenen Woche ist genau dies vor einem Zürcher Gericht geschehen. Eine junge Frau, die als Kleinkinderbetreuerin arbeitet, musste vor dem Richter in Horgen erscheinen. Der Grund: Die Staatsanwaltschaft klagte sie an, weil sie die Ehre eines Zweijährigen mit einer Bemerkung verletzt haben soll.

In der Anklage hiess es, die Kinderbetreuerin habe ihrem Ärger Luft verschafft, indem sie zu zwei Arbeitskolleginnen sagte, dass der Knabe dumm sei. Und sie soll gefragt haben, was mit diesem Kind falsch laufe. Diese Aussage soll sie gemacht haben, weil der Zweijährige trotz hohen Temperaturen seine Jacke anziehen wollte. Die Eltern des Knaben, die von der Kita-Leitung über die Aussagen informiert wurden, zeigten die Frau daraufhin an.

Justiz für Rolle eingespannt, für die sie nicht vorgesehen ist

Es ist keine gänzlich neue Entwicklung. Aber eine, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat: Staatsanwältinnen und Richter müssen über Unbedeutendes, Geschmackloses und manchmal gänzlich Absurdes befinden.

Die Justiz wird damit für eine Rolle eingespannt, für die sie gar nicht vorgesehen ist. Und für die sie auch keine Kapazitäten hat: für persönliche Animositäten und Konflikte, die ein Fall für ein ernsthaftes Gespräch oder eine politische Debatte, aber sicher nicht für die Richter sind.

Beispiele dafür gibt es viele – und es gibt sie in allen Bereichen der Gesellschaft: Es kam schon vor, dass nach einem Foul in einem Drittliga-Spiel Strafanzeige gestellt wurde, obwohl der Schiedsrichter im Spielrapport ein normales und faires Tackling notierte.

Die junge SVP kündigte kürzlich an, Sanija Ameti anzuzeigen, weil die GLP-Politikerin mit einer Sportpistole auf ein Abbild von Maria und Jesuskind aus einem Auktionskatalog schoss und ein Foto des durchlöcherten Bildes auf Instagram postete. Die Partei will von der Justiz geklärt haben, ob die Geschmacklosigkeit gegen die Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit verstösst.

Der ehemalige Zürcher SVP-Kantonsrat Claudio Schmid wiederum wurde vor Gericht gezerrt, weil er einen geschmacklosen Tweet über einen Anschlag absetzte – und bald wieder löschte.

Mit Verlaub: Das sind keine Angelegenheiten, über welche die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht entscheiden müssen. Die Justiz ist dazu da, Taten zu klären, bei denen anderen Menschen körperliches Leid zugefügt oder Personen finanziell geschädigt wurden. Und nicht für die Bewertung von Bagatellen und Geschmacklosigkeiten.

Vor allem dann, wenn man bedenkt, dass die Staatsanwaltschaften und Gerichte hierzulande immer mehr an ihre Belastungsgrenzen kommen. Die Zürcher Staatsanwältinnen und Staatsanwälte beispielsweise versinken in Arbeit. Über 32 000 Geschäfte sind im vergangenen Jahr laut Angaben der Staatsanwaltschaft eingegangen. Gegenüber 2021 entspricht dies einer Steigerung von 15 Prozent.

Mit mehr Personal ist es der Staatsanwaltschaft zwar gelungen, mehr Fälle abzuarbeiten, aber mit dem Wachstum der Fallzahlen kommt sie derzeit trotzdem nicht nach. Die einzelnen Staatsanwälte im Kanton sitzen deshalb auf einem Pendenzenberg von bis zu 100 Fällen. Es ist eine landesweite Entwicklung, die die Justiz ergriffen hat.

Um gesunden Menschenverstand kommt man nicht herum

Bagatellfälle sind nur einer von mehreren Gründen dafür, dass die Justiz ächzt. Zur Überlastung tragen auch die vielen Beschwerdemöglichkeiten, höhere Anforderungen an die Begründung einzelner Verfahrensschritte oder von der Politik und Bevölkerung geforderte Anpassungen im Gesetz bei.

Das muss diese aber nicht davon abhalten, selbst ihre Hausaufgaben zu machen. Man könnte ja auch auf die Idee kommen, ein Verfahren gar nicht erst vor Gericht zu bringen oder Verfahren effizienter zu handhaben. Nicht alles, was angezeigt wird, muss vor dem Richter landen.

Letztlich ist es so, wie der Richter im Fall der Kleinkinderbetreuerin sagte: Um gesunden Menschenverstand kommt man nicht herum. Wo dieser verlorengeht, wird es schwierig. Vielleicht geht es am Ende nur konsequent über den Geldbeutel: Wer eine offensichtliche Lappalie von einem Gericht gelöst haben will, muss damit rechnen, am Schluss eine Rechnung für die Verfahrenskosten präsentiert zu bekommen.

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