Dienstag, August 19

Der Prager Schriftsteller hatte ein gespanntes Verhältnis zum Essen. Mit zwanzig wurde er zum Vegetarier.

Sigmund Freud hätte seine Freude gehabt. Ein Sohn rebelliert gegen seinen aus einer Fleischerfamilie stammenden Vater, indem er Vegetarier wird. Der Sohn heisst Franz, und dem erziehungsstrengen Hermann Kafka bleibt am Familientisch nichts anderes übrig, als sich eine Zeitung vor die Augen zu halten. Er will nicht sehen, was der spindeldürre Nachfahre isst. Er will auch nicht sehen, wie er isst. Mit enervierender Langsamkeit schiebt Franz Kafka Nüsse und Grünzeug in sich hinein.

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Jeder Bissen wird exakt zweiundvierzig Mal gekaut. So schreibt es die nach dem amerikanischen Ernährungsreformer Horace Fletcher benannte Methode des Fletcherns vor. Der Schriftsteller ist ein Anhänger dieser neuen Mode. Ein Avantgardist bei der Aufnahme von Nahrung, aufgeschlossen gegenüber allem, was der Fitnesssektor des frühen 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Auch beim sogenannten «Müllern» ist der Mann, der so selbstkritisch auf seinen Körper schaut wie die heutige Gen Z, dabei. Nackt vor dem geöffneten Fenster Gymnastik zu machen, gilt als neuester Hype.

Kafka und das Essen. Das ist ein Kapitel für sich. Das Werk und die Briefe sind voller absonderlicher Phantasien und Träume des Verschlingens und der masochistischen Selbstzerfleischungen. Die Erzählung «Ein Hungerkünstler» ist der Text dazu. Ein Mann, der jede Nahrung verweigert, lässt sich als Jahrmarktattraktion vorführen. Am Ende seines zweifelhaften Prominentendaseins gibt er bekannt, dass ihm das Hungern überhaupt nichts ausgemacht habe, «weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt».

Kafka war wohl magersüchtig

Das, was Franz Kafka möglicherweise geschmeckt hat, kann man jetzt nachkochen. Die Rezepte stehen in einem Kompendium namens «Hygienisches Kochbuch zum Gebrauch für ehemalige Kurgäste von Dr. Lahmanns Sanatorium auf Weisser Hirsch bei Dresden». Es war im Besitz des Autors, und die, die es jetzt neu herausgeben, nennen es schlicht «Kafkas Kochbuch». Eva Gritzmann und Denis Scheck haben «Franz Kafkas vegetarische Verwandlung in 544 Rezepten» mit kulinarischen Anekdoten aus der Vita des mutmasslich Magersüchtigen garniert. Sein eigenes Gewicht, 61 Kilo bei einer Körpergrösse von 181 Zentimetern, spricht nicht gegen die ausgeklügelt fleischlose Kost, die in dem bibliophilen Buch zusammengestellt ist.

1903 bringt Kafka seine erste juristische Staatsprüfung hinter sich. Zur Belohnung bekommt der knapp Zwanzigjährige von seiner Familie einen Aufenthalt im Dresdner Sanatorium von Dr. Lahmann geschenkt. Die dortige Kur besteht vor allem aus vegetarischer Ernährung, und der frisch Erholte beschliesst, auch weiterhin dabeizubleiben. Eine Herausforderung für die Haushälterinnen der Kafkas, aber man scheint sich daran zu gewöhnen.

Dr. Lahmanns «Vegetarianismus», wie der Schriftsteller das nennt, ist eine Art Fletchern über den Töpfen. Man braucht sehr viel Zeit. Am Ende wird man aber auch belohnt von einer geradezu poetischen Küche, die aus dem Nichts von Kräutern, Getreiden, Gemüse, Früchten, Mehl und Eiern Gerichte zaubert, die «Baumwollsuppe», «Ägyptischer Kloss», «Semmeleierhaber», «Fidi-Pudding», «Pfitzauf» oder «Ofenschlupfer» heissen. Höhepunkt ist wohl «Watte ums Herz». Das Dessert besteht aus Erdbeersaft und Eierschnee und wird von Schlagsahne mit Vanillin bekrönt.

Ein letzter Traum: Kellner werden

Gekocht wird, wie gegessen werden soll: mit Geduld. Zwei bis drei Stunden Bohnen zu kochen, wie es das Rezept «Puffbohnen» verlangt, dafür muss man Zeit haben. Schneller gehen die formidablen «Gebackenen Apfelklösse», die aus Äpfeln, Mandeln, geriebenen Semmeln und Butter bestehen.

Beeindruckend sind die «Laubfrösche», bei denen die Vegetarier alter Schule nicht etwa ihren Prinzipien untreu wurden, sondern die Sache rein bildlich verstanden. Spinatblätter werden mit einer Masse aus Semmeln, Rühreiern, Zwiebeln und Petersilie gefüllt und im Ofen gebacken. Am Tisch werden sie mit einer Buttersauce übergossen. Man sollte solche Rezepte wieder zum Leben erwecken. Genauso wie die «Prünellensuppe», die aus Dörrpflaumen und Sultaninen gemacht wird.

Ist «Kafkas Kochbuch», mit dem man sich schon lesend den Magen vollstopfen kann, ein Widerspruch in sich? Essen war bei Franz Kafka immer mehr Last als Laster. «Wie nebenbei mit der linken Hand aufessen», so schreibt er einmal, konnte er nicht. Andere bei ihren Mahlzeiten zu beobachten, war ihm kein Problem.

Einen seiner letzten Träume wollte er mit der Freundin Dora Diamant in Berlin verwirklichen. Ein Restaurant zu eröffnen, in dem er selbst kellnert. Kann man sich den Hungerkünstler der Literatur vorstellen, wie er kulinarische Genüsse anpreist? Eher nicht. Jetzt muss es eben «Kafkas Kochbuch» tun.

Kafkas Kochbuch. Franz Kafkas vegetarische Verwandlung in 544 Rezepten. Herausgegeben von Eva Gritzmann und Denis Scheck. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2025. 448 S., Fr. 48.90.

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