Die EU-Chefdiplomatin sagt, was andere nicht auszusprechen wagen. Sie wird zwischen Europa und der USA aufgerieben. Eine Bilanz ihrer ersten Monate an der Macht.
In Brüssel spricht man mittlerweile vom «Kallas-Moment». Gemeint sind Episoden, bei denen die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas ohne diplomatische Zurückhaltung Dinge ausspricht – und damit ihre Umgebung vor den Kopf stösst.
Ist es das Temperament einer Frau, die gewisse Debatten dank ihrer unverblümten Art erst ermöglicht? Oder ist die Chefdiplomatin eine Fehlbesetzung, die bestenfalls noch in ihre Rolle hineinwächst?
Der letzte solche «Kallas-Moment» ist nur eine gute Woche her. Die britischen und französischen Organisatoren der «Koalition der Willigen» beteuerten nach ihrem Treffen, dass die Diskussionen über die Ukraine-Sicherheitstruppe auf gutem Weg seien, aber noch etwas Zeit benötigten.
Am nächsten Morgen kam der Kallas-Auftritt: Von Reportern gefragt, ob nun mehr Klarheit herrsche, sagte sie schlicht: «Nein» – und lächelte entwaffnend ehrlich in die Kamera, bevor sie noch ein paar belanglose Sätze anhängte.
Wie die Kollegen in den nationalen Aussenministerien darauf reagierten, ist nicht überliefert. Überrascht waren sie kaum – Kallas hatte die Tonlage in ihrer neuen Funktion schon von Anfang an gesetzt. Keine zehn Stunden war sie am 1. Dezember im Amt, als sie aus Kiew die Botschaft absetzte, dass die EU im Krieg «den Sieg der Ukraine» wolle.
So klar hatte das aufseiten der EU zuvor noch niemand gesagt. Die bisherige Sprachregelung lautete, dass sich «Russland nicht durchsetzen» dürfe. In der hohen Kunst der Diplomatie – wo typische Vertreter gemäss Churchill zuerst zweimal nachdenken, bevor sie nichts sagen – sind Worte eben mehr als simple Vehikel zur Verständigung.
Mutter wurde als Baby deportiert
Ihre kompromisslose Haltung gegenüber Russland hat die grossgewachsene 47-Jährige überhaupt in die Position gebracht, die sie seit nunmehr fünf Monaten ausübt. In dieser für die EU existenziellen Frage wollte man einen Falken – was sich bei Kallas schon aus der Familiengeschichte ergibt.
Ihre Mutter war gerade einmal sechs Monate alt, als sie zusammen mit weiteren Verwandten in einen Viehwaggon gepfercht und nach Sibirien deportiert wurde. Die Heimat sah sie erst als Zehnjährige wieder – und heiratete später einen Mann, der 2004 als Ministerpräsident Estland in die EU führen sollte: Kaja Kallas’ Vater.
Geprägt von der Vergangenheit ihrer Familie und ihres Landes, die so eng miteinander verwoben sind, warnte Kallas schon vor dem russischen Expansionismus, als andere Spitzenpolitiker Wladimir Putin noch den Hof machten. Sie war es, die 2021 gemäss «Politico» die deutsche Kanzlerin Angela Merkel davon abbrachte, den russischen Präsidenten zu einem Gipfeltreffen einzuladen. Putin setzte sie 2023 gar auf eine Fahndungsliste – es war das erste Mal, dass diese «Ehre» einer europäischen Staats- und Regierungschefin zuteilwurde.
Kallas’ drei Jahre als estnische Ministerpräsidentin verliefen freilich alles andere als reibungslos. Wegen der Russland-Geschäfte ihres Ehemannes, die dieser auch nach Kriegsausbruch weiterführte und dafür von ihr gar einen Kredit erhielt, geriet sie innenpolitisch unter Druck. Gleichzeitig nagten die hohe Inflation und die stark steigenden Verteidigungsausgaben an ihrer Popularität. Der Gang nach Brüssel war auch eine Flucht aus Tallinn.
Sie verständigt sich in fünf Sprachen
Im Kosmos der EU-Hauptstadt fand sich Kallas, die neben Estnisch auch Englisch, Französisch, Russisch und Finnisch spricht, schnell zurecht. Sie kannte die Abläufe aus ihrer Zeit als Europaparlamentarierin und Ministerpräsidentin.
Als Aussenbeauftragte hat sie eine andere, konsensorientierte Rolle – doch in diesen Zeiten der permanenten Krisendiplomatie bewegt sie sich mit ungeschminkten Kommentaren zuweilen auf dünnem Eis. Hatte sie die amerikanischen Befindlichkeiten im Hinterkopf, als sie nach dem ersten Telefonat zwischen Donald Trump und Wladimir Putin sagte, es handle sich um «appeasement», wenn man Russland schon vor Verhandlungsbeginn weit entgegenkomme? War ihr bewusst, dass sie ein Minenfeld betrat, als sie nach dem Trump-Selenski-Eklat im Weissen Haus auf X schrieb, dass «die freie Welt einen neuen Anführer braucht»?
Bei Brüsseler Diplomaten und Bürokraten erheischt sich Kallas mit solchen Äusserungen und ihrem unmissverständlichen Auftreten gegenüber Putin durchaus Respekt. Sie sagt, was die meisten denken – aber nie auszusprechen wagen. Als Bürgerin des Kleinststaates Estland, als Amtsneuling, vielleicht gar als Frau bedarf es dafür besonderen Mutes.
Südeuropa stand kopf
Das Problem ist jedoch, dass Kallas mit ihrem Vorpreschen manchmal eigene Ziele torpediert. Das offenkundigste Beispiel dafür ist der Rüstungsplan, den sie nach der kompromisslosen Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance in München schmiedete: Sie realisierte, dass bei der militärischen Hilfe an die Ukraine – letztes Jahr insgesamt rund 40 Milliarden Euro – nicht mehr mit den USA zu rechnen ist, und skizzierte, wie man den Ausfall kompensieren könnte. Danach hätten die EU-Länder im Süden und Westen deutlich mehr bezahlen müssen.
Der Kallas-Plan, der in letzter Sekunde in die Hauptstädte flatterte, hinterliess dort eine Mischung aus Verwunderung und Empörung. Gemäss einem beteiligten Diplomaten sind die EU-Staaten «frustriert» darüber gewesen, dass sie das Paket ohne vorherige Konsultation präsentiert und als alternativlos dargestellt hat. Minister schätzten dies nicht, sagt er.
Eine willkommene Ausrede
Das ist die eine Lesart. Hört man sich im Umfeld der Aussenbeauftragten um, gibt es aber durchaus eine andere: Für EU-Staaten wie Italien, Spanien oder Frankreich, die die russische Bedrohung anders wahrnehmen und hohe Haushaltsdefizite hätten, sei Kallas’ ungeschicktes Vorgehen ein willkommener Vorwand gewesen, um den Plan aus formalen Gründen zurückzuweisen. Denn so mussten sie nicht zugeben, dass sie schlicht nicht mehr Geld für die Ukraine-Aufrüstung ausgeben wollten.
Das Resultat ist für Kallas ernüchternd. Statt eines umfassenden Rüstungspaketes über 40 Milliarden Euro ist eines über 5 Milliarden, hauptsächlich für Munition, übrig geblieben – und selbst dieses ist noch nicht in trockenen Tüchern. Zwei Drittel des Geldes habe man beisammen, sagte sie letzten Montag nach dem Aussenminister-Treffen.
Rubio lässt Kallas sitzen
Viel Geschirr zerschlagen hat die Estin auch in den USA. Während die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen trotz Handelskrieg und sicherheitspolitischer Unsicherheit weiterhin die transatlantische Freundschaft betont, stiess Kallas mit ihren spitzen Bemerkungen zu Trump und Vance die neue amerikanische Administration vor den Kopf.
Das Resultat war ein diplomatischer Eklat, wie man ihn nicht alle Tage erlebt: Kallas weilte Ende Februar bereits in der amerikanischen Hauptstadt, in der Tasche einen bestätigten Termin bei Aussenminister Marco Rubio. Doch zum Treffen kam es nie. Rubio sagte kurzfristig ab – aus «Termingründen».
Es ist das Wesen des erst 2009 geschaffenen Aussenbeauftragten-Postens, dass man es niemandem recht machen kann. Die Chefdiplomatin bekleidet zwar eine der höchsten Funktionen innerhalb der EU-Bürokratie, stösst aber ständig an institutionelle Hürden. Aussenpolitik bleibt eine nationalstaatliche Angelegenheit, bei der sich gerade die grossen Hauptstädte ungern hineinreden lassen.
Ihre Autorität hat gelitten
Kallas ist aus ihrer vorherigen Funktion als Ministerpräsidentin gewohnt, Initiativen zu lancieren und sie mittels Parlamentsmehrheit umzusetzen. Auf EU-Ebene, wo aussenpolitische Beschlüsse Einstimmigkeit verlangen, braucht es mehr Fingerspitzengefühl. Dass Kallas’ bislang grösstes Projekt – der 40-Milliarden-Plan – von den Mitgliedsländern arg zurechtgestutzt wurde, hat ihrer Autorität geschadet.
Untrügliches Zeichen dafür ist, dass manche Staatschefs plötzlich über einen Sonderbeauftragten diskutieren, der die EU an den Verhandlungen über die Zukunft der Ukraine vertreten würde. Dabei hat die EU bereits ein aussenpolitisches Gesicht: Kaja Kallas.
Es wäre ungerecht, es der Estin anzukreiden, dass die EU bei den Gesprächen zwischen den USA und Russland bis jetzt keine Rolle spielt. Viel zu tief ist dafür die Abneigung der Trump-Administration gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt. Mit ihrer freimütigen, zuweilen undiplomatischen Art hat die Chefdiplomatin zwar ihr Profil geschärft – viele neue Freunde hat sie sich aber nicht geschaffen.